Karl-Heinz Ott – Endlich Stille

„Solange ich in den ersten Tagen noch hoffte, er werde mir spätestens abends für den nächsten Morgen seine Abreise ankündigen, versuchte ich mir einzureden, dass unsere Fahrten übers Land auch mir etwas bringen, doch je planloser sich dieses Einerlei aus Landgasthofaufenthalten und Kirchenbesichtigungen fortzusetzen und ich mich wie ein Fremdenführer zu fühlen begann, desto öfter hätte ich manchmal einfach schreien und davonlaufen mögen.“

Endlich einmal „nein“ sagen können, das ist es, wovon der Protagonist aus „Endlich Stille“ nur träumen kann. Kurioserweise kauft er sich in Amsterdam ein Buch, mit dessen Hilfe man lernen soll, das Nein aus seinem Sprachschatz zu streichen. Als ihn in Straßburg ein Unbekannter mit der so harmlos wirkenden Frage „Suchen Sie auch ein Hotel?“ anspricht, gerät der Protagonist in einen Strudel von Ereignissen, wie er ihn sich nie hätte ausmalen mögen …

_Nein!_

Am Bahnhof in Straßburg trifft der Ich-Erzähler mit einem Mann zusammen, der ihn sogleich anspricht und wissen will, ob der Erzähler auch nach einem Hotel suche. Von dem Moment an nimmt der fremde Mann, welcher sich als Friedrich Grävenich vorstellt, das Leben und die Geschicke des Ich-Erzählers in die Hand. Die beiden nehmen sich folglich zusammen ein Zimmer im gleichen Hotel und obwohl dies dem Hauptprotagonisten schon nicht Recht ist, wagt er es nicht zu widersprechen. Eigentlich möchte er lieber seine Ruhe haben und sich alleine am Abend ausruhen, doch schafft er es nicht, Friedrich zu entfliehen, der bald an die Hotelzimmertür seines neuen Bekannten klopft und mit ihm auszugehen wünscht.

Folglich fügt unser Ich-Erzähler, der als Philosophieprofessor arbeitet und eine Vorliebe für Spinoza hat, sich seinem Schicksal und geht mit dem Fremden essen. Dort schon offenbart Friedrich einige unangenehme Eigenschaften, die dem Ich-Erzähler sauer aufstoßen, denn Friedrich Grävenich legt seinen Hut mitten auf den Tisch und erzählt darüber hinaus ohne Punkt und Komma von sich und seinem Leben, ohne seinen neu auserkorenen Freund zu Wort kommen zu lassen. Auch trinkt er gerne einen über den Durst. So ist bald die zweite und dann auch die dritte Flasche Wein bestellt und schnell geleert, während der Philosoph intensiv darüber nachdenkt, wie er dieser Situation entfliehen kann.

Schließlich gelingt ihm die Flucht vor seiner neuen Bekanntschaft; auch wiegt er sich in Sicherheit, weil er Friedrich eine falsche Adresse und falsche Telefonnummer von sich gegeben hat. Doch muss er schnell feststellen, dass ihn das nicht vor einem Überraschungsbesuch schützen kann, denn bald steht Friedrich Grävenich vor der Wohnungstür des Ich-Erzählers in Basel und zieht kurzerhand „vorübergehend“ bei seinem neuen Bekannten ein. Von nun an geht es für den Hauptprotagonisten stetig bergab, jeden Abend verbringt er mit Friedrich in einer Kaschemme, in der sie sich halb bis zur Besinnungslosigkeit betrinken, auch seinen Philosophenkollegen fällt seine Veränderung auf, doch der Ich-Erzähler schafft es nicht, seinen unliebsamen Besuch hinauszukomplementieren. Schließlich scheint es nur noch einen Ausweg zu geben …

_Menschliche Abgründe_

Karl-Heinz Ott baut seine gesamte Geschichte auf einer Zufallsbegegnung auf, nur das kurze Zusammentreffen zwischen dem Philosophen und Friedrich Grävenich entscheidet über das weitere Leben beider Männer. Schon in diesem kurzen Moment der ersten Begegnung werden beide Schicksale eng miteinander verknüpft. Auf den ersten Blick erscheint diese Geschichte alltäglich, allerdings entwickelt Ott Charaktere, wie man sie wohl doch nicht jeden Tag auf der Straße treffen wird.

Friedrich Grävenich behauptet von sich selbst, Musiker aus Augsburg zu sein, gerne prahlt er mit seinen musikalischen Fähigkeiten und diskutiert über Interpretationen klassischer Standardwerke, doch als der Ich-Erzähler sich in der Augsburger Musikschule nach Grävenich erkundigt, ist dieser dort unbekannt. Als Leser hinterfragt man daher die meisten Details, die Friedrich über sein eigenes Leben preisgibt, doch bis zum Schluss bleibt unklar, wer Friedrich wirklich ist. Wo kommt er her, was hat er vorher gemacht, woher nimmt er eigentlich sein Geld, gibt es die afrikanische Prostituierte wirklich, von der Friedrich Grävenich so oft zu berichten hat? Seine gesamte Figur bleibt dermaßen im Dunkeln und zweifelhaft, dass es dem Leser schwer fällt, sich ein konkretes Bild des Menschen Grävenich vor Augen zu führen. Auch kann man nur über seine Absichten spekulieren – Warum sucht er so zwanghaft nach Gesellschaft und warum drängt er sich dem Philosophen ungefragt so sehr auf? Hier ist Interpretationsgeschick gefragt, denn mit Fakten über Friedrich hält der Autor sich sehr zurück.

Anders verhält es sich mit dem Ich-Erzähler, in dessen Gedanken wir stets live dabei sind und hierdurch einen Großteil seiner Gefühlswelt offenbart bekommen. Auch berichten die Gedanken des Erzählers ehrlich und oft ungeschönt über sein eigenes Leben und seine Umgebung. Nur den Namen des Erzählers bleibt der Autor schuldig.

Der Roman läuft auf ein psychologisches Spiel zwischen den beiden Männern hinaus, bei dem des Erzählers Geduld auf eine harte Probe gestellt wird. In Gedanken malt er sich immer wieder aus, wie es wäre, vor Friedrich zu flüchten oder ihn einfach hinauszuwerfen, doch in der Realität schafft er dies nie. Auch seine Ausreden, dass er eigentlich ins Ausland gehen wolle, fruchten nicht, da Friedrich diese Ausweichtaktik zu durchschauen scheint. Mit der Zeit wird dieses einfache „Nein“, welches der Erzähler gerne aussprechen würde, immer schwieriger, da er sich anschließend stets schlechter fühlen würde, weil er nach Wochen der vorgespielten Gastfreundschaft seinen Bekannten nicht mehr hinausschmeißen kann.

Langsam aber sicher verändern sich die Gefühle des Erzählers, eine stetig wachsende Aggression seinem Gast gegenüber drängt sich hierbei in den Vordergrund. Manchmal drückt dieser Unmut sich in Verzweiflung angesichts der schier ausweglosen Situation aus, manchmal scheint der Erzähler sich aber auch ergeben in sein Schicksal zu fügen. Nur eines ist selbst ihm klar: Es muss sich etwas ändern! Zunehmend bemerkt der Philosoph die Schattenseiten seiner Bekanntschaft, er analysiert Friedrichs schlechte Angewohnheiten, als handle es sich bei den beiden um ein seit langen Jahren verheiratetes Ehepaar. Während die Fehler seines Gegenübers sich dem Erzähler immer mehr aufdrängen, ist er zu sich selbst erstaunlich nachsichtig – immerhin hat er sich selbst in diese Situation gebracht, er hätte doch nur „nein“ zu sagen brauchen! Auch schiebt er alle Schuld gerne von sich. So ist nur seine Exfreundin Marie Schuld, die den Trick mit seinem Auslandsaufenthalt enttarnt hat. Seine eigenen Schwächen rückt der Philosoph so weit in den Hintergrund, dass man kaum Sympathie für ihn entwickeln könnte; zu schwach erscheint uns sein Verhalten, zu wenig hinterfragt er seine eigenen Fehler.

_Geduldsprobe_

Obwohl „Endlich Stille“ nur knapp mehr als 200 Seiten hat, so braucht das Buch doch seine Zeit und kann nicht mal eben an einem Abend durchgelesen werden. Der gesamte Text ist ohne Unterteilung in verschiedene Kapitel und nur mit wenigen Absätzen als ein einziger Gedankenmonolog des Hauptprotagonisten geschrieben. In diesem Gedankenmonolog erfahren wir ausführlich vom Zusammentreffen mit dem angeblichen Musiker, der sich als Friedrich Grävenich ausgibt.

Während der Erzähler Geduld aufbringen muss in Anbetracht seines unliebsamen Besuches, ergeht es dem Leser nicht anders. Ott spannt uns über weite Strecken auf die Folter. Obwohl sein Buch recht kurz ist, tritt die Handlung meist auf der Stelle. Nicht nur der Ich-Erzähler ist entnervt angesichts der langatmigen Monologe Friedrich Grävenichs, der Leser ist es auch, wenn sämtliche Gedankenausflüge in indirekter Form für uns niedergeschrieben werden. In diesen Szenen passiert einfach zu wenig, als dass das Lesen unterhaltsam würde. Bis über die Buchmitte hinaus wird keine Spannung aufgebaut, obwohl doch schon der Klappentext ein großartiges Finale vermuten lässt, aber der Autor lässt sich einfach zu viel Zeit für die langen Beschreibungen vieler Kneipenaufenthalte.

Mehr Information hätte ich mir dagegen über die psychologische Seite gewünscht, über die sich ansammelnden Aggressionen beim Erzähler, über seinen Frust sich selbst gegenüber, weil er es einfach nicht schafft, sich aus dieser Situation hinauszuwinden, auch erscheint mir sein Verhalten zu unreflektiert. Wenige Facetten kommen in seinen Gefühlen hinzu, Hass, Wut und Aggression entwickeln sich zu versteckt und auch die Figuren bleiben in ihrer Beschreibung zu distanziert.

„Endlich Stille“ möchte die mögliche Entwicklung einer Alltagssituation ausmalen, berührt aber wenig. Nach dem Zuklappen des Buches bleibt der Wunsch aus, über das Gelesene nachzudenken, da die Quintessenz nur eine sein kann: Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied und manchmal reicht ein einfaches „Nein“, um erst gar nicht in derlei verzweifelte Situationen zu geraten.

Stille

Am Ende herrscht Stille, die Situation ist überstanden, der Erzähler hat es seiner Meinung nach geschafft. Doch hat es Karl-Heinz Ott dagegen nicht geschafft, mich recht zu überzeugen. Zu sehr hält er sich zwischendurch mit langatmigen Gedankenmonologen auf, viel zu viele Dialoge präsentiert er uns in indirekter Form und zu wenig geschieht, als dass er uns an seine Erzählung fesseln könnte. Auch die Figuren bleiben merkwürdig distanziert, kaum Sympathien werden aufgebaut, sodass das Buch uns nicht berühren kann. Aus diesem Psychospiel hätte man mehr machen können und müssen, der Spannungsaufbau ist mehr als schleppend und auch das Ende kann nicht mehr überraschen. Gelungene Figurenzeichnung und Erzähltalent habe ich bei Autoren wie Wilhelm Genazino und Paul Auster schon ausgereifter erlebt, daher kommt „Endlich Stille“ kaum über das Mittelmaß hinaus, obwohl die Geschichte in Ansätzen durchaus reizvoll erscheint.

Gebundene Ausgabe: 208 Seiten