Otto Penzler (Hg.): Eine Leiche zum Advent. Das große Buch der Weihnachtskrimis

Seit jeher werden zur Weihnachtszeit spannende und gruselige Geschichten erzählt bzw. heutzutage lieber gelesen. Herausgeber Otto Penzler präsentiert 49 Storys aus anderthalb Jahrhunderten. Einiges ist hoffnungslos veraltet, vieles sorgt noch heute für Vergnügen, und manches ist zeitlos genial. „Eine Leiche zum Advent“ bietet für jeden Leser Krimi- und Gruselspaß, der keineswegs auf die Weihnachtszeit beschränkt bleiben muss: eine vorzügliche, zudem fest gebundene und dennoch kostengünstige Sammlung.

Gefährliche Weihnachtsidylle

„Draußen lag hoher Schnee, und die kargen Bäume ragten schwarz und blattlos aus der weißen Fläche empor … und die Kälte war arktisch. Aber uns, die wir in einem mit Stechpalmen geschmückten Raum vor einem herrlichen Feuer saßen, das tapfer den breiten Kamin hinauftoste, focht die zu Eis erstarrte Welt draußen nicht an. Wir lachten und plauderten, sangen Lieder und erinnerten uns an Abenteuer, bis wir gegen zehn Uhr in eine für Schauergeschichten empfängliche Stimmung verfielen, die gut zu dieser von Kobolden heimgesuchten Jahreszeit passte.“

So beschreibt es Fergus Hume in seiner Story „Das Weihnachtsgespenst“. Er fasst damit zusammen, wieso ausgerechnet in der Weihnachtszeit, die bekanntlich unter dem biblischen Motto „Friede auf Erden und allen Menschen ein Wohlgefallen“ (Lukas 2,14) steht, Geschichten von Mord und Spuk erzählt werden.

Zeitlos ist zudem die Familie als Katalysator für Katastrophen, die besonders an Festtagen urplötzlich und explosiv ausbrechen können. Menschen, die durch Blutsverwandtschaft verpflichtet sind einander zu lieben, obwohl sie oft herzlich wenig miteinander zu tun haben wollen, finden sich auf engem Raum zusammengepfercht. Die Konvention verlangt ihr Bleiben, und vor noch nicht gar zu vielen Jahrzehnten sorgten Eis, Schnee und beiden nicht gewachsene Verkehrsmittel dafür, dass eine Flucht erst recht unmöglich war. Alte, gut genährte Familiengrolle konnten sich zu Wort melden bzw. entladen, zumal eine Ablenkung durch Fernsehen, Internet oder Smartphone ausfiel. So mussten die Menschen eine andere Nische finden. Eine spannende Geschichte sorgte für Friede, selbst wenn (oder gerade) sie von mörderischen oder gruseligen Ereignissen erzählte.

Sehnsucht nach der guten, alten Zeit

Vor allem die Zeitungen sorgten in alter Zeit für entsprechenden Stoff. Weihnachtsbeilagen waren üblich. Viele Autoren schrieben gezielt Krimi- und Geistergeschichten, die quasi unter Christbäumen spielten. Da diese Beilagen nach den Feiertagen in der Regel entsorgt wurden, gerieten viele Storys in Vergessenheit, obwohl sie ihren Unterhaltungswert oft nicht eingebüßt hatten.

Natürlich produzierten diese Autoren eine Menge rührseligen Mist, denn „Weihnachten“ ist – s. o. – ein Synonym für (aufgezwungene/geheuchelte) Harmonie. Dieser Schmalz füllt aber eine echte Gefühlslücke, denn viele Menschen wünschen sich Weihnachten in der Tat als eine Pause vom grauen Alltag, in der lange unterdrückte (positive!) Gefühle die Oberhand gewinnen. Da man sich dabei auf die Realität nicht verlassen kann, springen Schriftsteller (oder die Produzenten weihnachtlicher TV-Shows) ein, um die erwünschte Sentimentalität wenigstens vorzugaukeln, die durch Krimi und Horror für diejenigen ergänzt wird, denen der „Kleine Lord“ Übelkeit verursacht.

Fakt ist jedenfalls, dass Mord und Geisterspuk zur Weihnachtszeit kein Auslaufmodell sind. Auch heute erscheinen alljährliche neue Storys in alter Tradition. Otto Penzler ist jemand, der sich darauf spezialisiert hat, nach solchen Geschichten zu fahnden, um sie gesammelt einem geneigten Publikum zu präsentieren. Mit „Eine Leiche zum Advent“ legt er ein gewichtiges Buchexemplar vor, das von seinem Erfolg kündet. 49 Storys aus anderthalb Jahrhunderten decken das Spektrum angelsächsischer X-mas-Mysterys eindrucksvoll ab.

Stationen des Schauders

Penzler gliedert seine Sammlung in thematische Großkapitel („Traditionelle Weihnachten“, „Lustige Weihnachten“, Ein Sherlockianisches Weihnachten“, Kleine trashige Weihnachten“, „Unheimliche Weihnachten“, „Gruselige Weihnachten“, „Überraschende Weihnachten“, „Moderne Weihnachten“, „Rätselhafte Weihnachten“, „Klassische Weihnachten“), was insgesamt wenig Sinn ergibt, da sich viele Storys mehreren Kategorien zuordnen lassen und einige Kapiteltitel sich thematisch entsprechen. Selbst die Grenzen zwischen Krimi und Spuk sind oft fließend; Autoren lieben es beispielsweise, Diebe oder gar Mörder mit Geistern zu konfrontieren. (Santa Claus wird letzteren zugeschlagen, da er durch den Kamin kommt und – das wird in unserer politisch korrekten Gegenwart gern verdrängt – „die bösen Kinder“ zu Weihnachten bestraft.)

Eine separate Gruppe bilden die „sherlockianischen“ Weihnachtsgeschichten. Selbstverständlich hat auch Arthur Conan Doyle (1859-1930) die Gelegenheit genutzt, Sherlock Holmes und Dr. Watson einen speziell auf die Festtage abgestimmten Fall lösen zu lassen; „Der Blaue Karfunkel“ ist deshalb auch in dieser Kollektion vertreten, während Penzler ansonsten den seltenen, verschollenen, womöglich nie zuvor in Buchform gedruckten Storys den Vorzug gibt. Darüber hinaus können wir fünf Holmes-&-Watson-Erzählungen lesen, die nicht Doyle verfasst hat. Darunter sind (gelungene) Kopien der Vorlage, aber auch – sehr gelungen – der gegen den Strich gebürstete „Skandal im Winter“ von Gillian Linscott sowie zwei Parodien und ein kurzes Theaterstück.

Große Namen des klassischen Kriminalromans (Ellery Queen, Mary Roberts Rinehart, John D. MacDonald, Stanley Ellin, Ed McBain, G. K. Chesterton, Rex Stout und sogar Edgar Wallace) finden sich ebenso wie Meister des modernen, manchmal sogar „Hard-Boiled“-Thrillers (Donald E. Westlake, Peter Lovesey, Max Allan Collins, Peter Robinson, Sara Paretsky). Andere Autoren kennt niemand mehr, weshalb es hilft, dass Herausgeber Penzler jede Geschichte mit einer kurzen Biografie einleitet.

Nicht jeder Schuss kann treffen

Angesichts der Fülle der vorgestellten Storys überrascht es wenig, dass nicht jede ihren Unterhaltungswert bewahren konnte oder jemals einen besessen hat. Penzler ist stolz auf seine Funde nach intensiver Suche in halbzerfallenen Magazinbeilagen, von denen er in seinem Vorwort berichtet. Leider konnte er sich von einigen Entdeckungen nicht trennen, obwohl diese schlimmstenfalls platte Sentimentalität mit einer Schlusspointe kombinieren, die kläglich verzischt. Die Definition für „Weihnachtsstimmung“ hat sich verändert. Was einst Lesern tatsächlich ernstgemeinte Tränen der Rührung in die Augen treiben konnte, sorgt heute für Gelächter oder Stirnrunzeln. Das mag man bedauern, was nichts daran ändert, dass es so ist.

Weniger abträglich ist die oft recht lockere Verknüpfung der Story mit dem Weihnachtsfest. Oft lesen wir eine ganz normale Kriminalgeschichte, die der Verfasser mehr schlecht als recht an den Festtagen spielen lässt. Immerhin sorgt dies für einen Lesestoff, der nicht auf die Adventszeit beschränkt bleiben muss: Diese Sammlung bereitet zu allen Jahreszeit Spaß. Dafür sorgen selbstverständlich bzw. primär jene Erzählungen, die inhaltlich wie formal auf den Punkt kommen, obwohl (oder weil?) es manchmal wirklich schräg wird und die Genres Krimi und Horror noch durch Science Fiction ergänzt werden.

Zu guter Letzt stellt „Eine Leiche zum Advent“ das gelungene Beispiel eines Buches dar, das nicht nur durch seinen Inhalt gefallen kann und außerdem schön layoutet sowie sogar illustriert ist: Man erhält wirklich einen beachtlichen Gegenwart für den moderaten Verkaufspreis – 700 zweispaltig bedruckte, fest gebundene Seiten (plus Lesebändchen)! Damit stellt dieser Band ein echtes Weihnachtsgeschenk dar – mit einer gewichtigen Einschränkung allerdings: Die US-Originalausgabe sammelt nicht 49, sondern 59 Storys, weshalb wir auf Beiträge von Agatha Christie oder Ellis Peters verzichten müssen; offensichtlich war für den Verlag irgendwann doch Schluss mit der weihnachtlichen Großzügigkeit …

Herausgeber

Als Sohn deutschstämmiger Eltern am 8. Juli 1942 in der Hansestadt Hamburg geboren, wuchs Otto Penzler in New York City auf. Penzler studierte Englische Literatur an der University of Michigan, machte aber schon früh seine Liebe zur Kriminalliteratur zum Beruf. 1975 gründete Penzler „The Mysterious Press“, einen Verlag, der sich auf klassische, oft vergessene Genretitel spezialisierte. 1989 entstand „Otto Penzler Books“. Als Imprints existieren beide Verlage bis heute.

Sein einschlägiges Fachwissen bewies Penzler darüber hinaus literarisch. So war er Co-Autor der „Encyclopedia of Mystery and Detection”, die von den „Mystery Writers of America“ 1977 mit einem „Edgar Award“ ausgezeichnet wurde. Hinzu kamen weitere Sachbücher über Kriminalfilme sowie eine wöchentliche Kolumne, die Penzler fünf Jahre für die „New York Sun“ schrieb. 2011 gründete er „MysteriousPress.com“, einen Verlag speziell für die Veröffentlichung von (Krimi-) eBooks. Penzler leitet in New York City den auf Genre-Titel spezialisierten „Mysterious Bookshop“. Seit vielen Jahren gibt Penzler seitenstarke Anthologien heraus, in denen er alte, oft vergessene Erzählungen nicht nur abdruckt, sondern auch vorstellt.

Penzler lebt in New York City und in Connecticut.

Gebunden: 705 Seiten
Originaltitel: The Big Book of Christmas Mysteries (New York : Knopf Doubleday Publishing Group/Vintage Crime – The Black Lizard 2013)
Übersetzung: Stefan Bauer, Winfried Czech, Axel Franken, Stefanie Heinen, Daniela Jarzynka, Helmut W. Pesch, Barbara Röhl, Anna-Lena Römisch, Thomas Schichtel, Dietmar Schmidt, Rainer Schumacher
https://www.luebbe.de

eBook: 7456 KB (Kindle)
ISBN-13:: 978-3-7325-2991-9
https://www.luebbe.de

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