Die fröhlichen Lemminge: Wer früher stirbt …
Niemals hätte der finnische Unternehmer Olli Rellonen mit so vielen Antworten auf seine Zeitungsanzeige gerechnet: „Du denkst an Selbstmord? Du bist nicht nicht allein …“ Olli entwickelt einen konkreten Plan und chartert zunächst einen Bus, um mit den unternehmungslustigen Selbstmordkandidaten gemeinschaftlich das Leben zu beenden. Sie besteigen guten Mutes, dass das Unternehmen gelingen möge, das gemietete Gefährt. Doch sie treten ihre einzigartige Reise, die ohne Hoffnung auf Wiederkehr beginnt, an, ohne zu ahnen, dass sie ganz anders enden wird als erwartet.
Der Autor
Der 1942 geborene Lappe Arto Paasilinna hat bisher nahezu vierzig Bücher veröffentlicht, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde, u. a. in Frankreich und Italien. Einige davon wurden bereits verfilmt. Paasilinnas Spezialität ist die humorvolle Parodie, die bestimmte Charakterzüge der Finnen und umgebenden Völkerschaften ironisch thematisiert.
Erschienen sind bisher:
– Der heulende Müller
– Die Giftköchin
– Der Sohn des Donnergottes
– Im Wald der gehenkten Füchse
– Der Sommer der lachenden Kühe
– Der wunderbare Massenselbstmord
– [Nördlich des Weltuntergangs]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?idbook=1573
– [Vorstandssitzung im Paradies]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?idbook=637
– [Im Jenseits ist die Hölle los]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?idbook=640
– Ein Bär im Betstuhl
– Ein Elefant im Mückenland
Die Sprecher/Die Inszenierung
Die Inszenierung erfolgte durch den Westdeutschen Rundfunk unter der Regie von Claudia Kattanek, die auch den Text bearbeitete. Die Musik komponierte Matti Kontio, und den Sologesang trug M. A. Numminen bei. Als Toningenieur zeichnete Benno Müller-vom Hofe verantwortlich.
Die Rollen und ihre Sprecher:
Erzähler: Urs Jäggi
Onni Rellonen: Dieter Montag
Oberst Hermanni Kemppainen: Felix von Manteuffel
Rauno Korpela: Bernd Kuschmann
Helena Puusari: Isis Krüger
Urho Jäskelainen: Waldemar Kobus
Seppo Sorjonen: Jochen Langner
Jarl Hautala: Ernst-August Schepmann
Taistu Rääseeiköinen: Jörn Knebel
Uula Lismanki: Horst Mendroch
Sakarki Piippo: Michael Habeck
Aulikki Gransted: Traute Hoess
Tarja Hattunen: Effi Rabsilber
Des Weiteren ein Gast, eine Reiseführerin und ein Akkordeon (Heinz Hox).
Handlung
Onni Rellonen ist am Ende, privat wie wirtschaftlich, und sieht kein Land mehr. In der idyllischen Mittsommernacht steckt er sich einen Revolver in die Tasche, um sich in einer Scheune die Kugel zu geben. Da stolpert Oberst Hermanni Kemppainen in der gleichen Absicht in die Scheune und merkt schnell, dass hier besetzt ist. Der Oberst ist vom ständigen Frieden arbeitslos gemacht worden und erklärt Onni seine Absicht und warum er sich ausgerechnet hier den Rest geben wollte. Onni ist durch diesen Seelenbruder gewissermaßen getröstet und lässt von seiner Absicht ab. Stattdessen überlegen er und Hermanni, was sie wohl in dieser schnöden Welt gemeinsam unternehmen könnten.
Was, wenn sie anderen Menschen, die sich mit der gleichen Absicht tragen, dabei helfen würden, sie in die Tat umzusetzen? Immerhin bringen sich in Finnland pro Jahr rund 1500 Leute um – das sind ja zwei Brigaden, fällt dem Oberst auf. Ja, man könnte sie zusammenbringen und einen erfolgreichen Massenselbstmord organisieren. Wäre das nicht eine noble Tat? Natürlich wäre das Organisationstalent des Oberst dabei sehr hilfreich. Sie setzen eine Annonce in die Zeitung und erhalten 612 Antworten.
Puh, so viele! Klar, dass sie eine Sekretärin brauchen, die ihnen die Kleinarbeit abnimmt. Elena, 35, rote Haare, schwarzes Kostüm, wird eingestellt und schlägt vor, ein Wochenendseminar zu veranstalten. Außerdem engagieren sie dafür noch eine Psychologin. Aber für das große Ereignis will der Oberst weder Presse noch Fotografen einladen. Wie soll man denn bei solchem Rummel ernsthaft einen Massenselbstmord planen können?
Der Festsaal im Keller eines Hotels ist brechend voll, die Stimmung erstaunlich heiter, und der Oberst begrüßt die Besucher herzlich. Aber er ruft auch zur Ordnung – und zu einer Kollekte, um die Unkosten zu decken. Puh, 60.000 Euro – eine Menge Geld! Als Onni damit abhauen will, um, sich zu sanieren, sagt der Oberst nein. „Wir sterben gemeinsam!“ Sie gründen einen Verein, dessen Vorstand der Oberst, Onni und Elena bilden.
Schon bald haben sie ein Problem: 30 Leute wollen sich ganz ernsthaft umbringen. Doch flugs chartert der Oberst einen großen, modernen Bus, in den alle reinpassen. Sie steigen ein und der Oberst hält eine kleine Ansprache zur Orientierung. Er sagt ihnen, wie sein Plan aussieht. Auf zum Nordkap! Und dann: über die Klippe ins Meer!
Fahrer Rauno steuert seinen Bus mit Stolz und Umsicht. Bis zum Nordkap ist es ein weiter Weg, durch Lappland und Schweden und Norwegen. Währenddessen lernen sich die suizidalen Passagiere immer besser kennen, und insbesondere der Oberst scheint Elena ins Herz zu schließen. Unterwegs zelten alle auf freiem Feld, ganz wildromantisch, wie sie finden. Doch das Erwachen ist umso prosaischer: Der Bauer verlangt Entschädigung. Statt Geld bieten sie ihm an, für ihn zu arbeiten. Also ziehen sie Rüben. Als die Bäuerin mit dem fröhlichen Haufen mitfahren will, lehnt der Oberst freundlich, aber bestimmt ab.
Dann endlich ist der große Tag gekommen. Der Bus steht startbereit auf der Straße, die direkt zur Klippe des Nordkaps führt. Fahrer Rauno startet den Motor, um mit Karacho über die Kante donnern zu können. Der Oberst hält eine erbauliche, aber auch warnende Ansprache nach dem Motto „wer früher stirbt, ist länger tot und hat mehr vom ewigen Leben“. Als alle Zimperliesen ausgestiegen sind, kann Rauno nochmal starten. Diesmal muss es aber klappen! Der Massenselbstmord kann endlich beginnen.
Natürlich kommt alles ganz anders.
Mein Eindruck
Finnland ist in der Tat eines der europäischen Länder mit der höchsten Selbstmordrate. Muss wohl an den langen Wintern und dem vielen Alkohol liegen. Das sieht man zum Beispiel ja in den Filmen von Aki Kaurismäki. Da bietet es sich an, mal ein Buch darüber zu schreiben. Und so, wie Arto Paasilinna gestrickt ist, muss es natürlich ein ironisches und humorvolles Buch sein. Trotz aller Komik, so ist zu beachten, verliert Paasilinna nie den Respekt für seine Figuren und für das, was sie durchgemacht haben. (Sonst müsste er ja die Ursachen für ihr Unglück leugnen, und das geht nicht.) Wer bei Paasilinna zuerst an Skurrilitäten denkt, der ist auf dem falschen Dampfer. Was skurril und komisch erscheint, hat einen ernsten Hintergrund, so etwa die Selbstmordrate.
Nun ist es ja schon gut, einen Missstand zu beklagen, aber ein Autor sollte auch Lösungen anbieten. Die auf den ersten Blick so erheiternde Lösung des Massenselbstmords verrät aber doch nur, was die Menschen, wie alle anderen auch, am meisten brauchen: das Gefühl, nicht allein zu sein mit ihren Sorgen und Nöten. Als die Suizidwilligen sich im Hotelkeller treffen, entwickelt sich daher schnell eine ausgelassene Stimmung der Heiterkeit. Sie setzt sich auf der Busfahrt fort, als nur noch der harte Kern übrig ist.
Diese Busfahrt dient dazu, sich selbst im Zusammensein mit anderen zu er-fahren. Kein Wunder, dass sich schnell Paare zusammenfinden und auf eine gemeinsame Zukunft hoffen. Das passt natürlich nicht zu dem radikalen Schnitt, den der Lemming-Sprung über die Nordkapklippe bedeutet, und so springen einige ab. Auch die Arbeit mit den eigenen Händen, die sie während der drei Tage auf dem Bauernhof verrichten durften, hebt ihr Selbstwertgefühl: Man ist kein nutzloses Mitglied der Gesellschaft, ist weder anonym noch schutzloses Opfer, sondern ein tatkräftiger Helfer bei einem gemeinsamen Unternehmen. Man kann das Ergebnis der Arbeit der eigenen Hände sehen und prüfen: Und siehe, er sah, dass es gut war.
Aber ist es damit getan, etwas Nützliches zu arbeiten und mit anderen zusammen zu sein? Nein, so die Moral von der Geschicht‘, ein Mensch braucht ein Ziel und die Hoffnung, es erreichen zu können. Das erfordert nicht nur eine Umorientierung des eigenen inneren Kompasses, sondern auch die Zuversicht, dass sich die Hoffnung, wenn sie auch schwach sein mag, erfüllen kann. Das wiederum erfordert einen gewissen Glauben, dass all dies möglich sei. Kommt jetzt Gott ins Spiel? Mitnichten! Der Autor bleibt stets auf dem Teppich, ja, er zeigt sogar anhand eines ausgestoßenen Sektenmitglieds, wozu allzu streng umgesetzter Gottesglaube führen kann: nämlich zu Suizid. Der Glaube erwächst ausschließlich aus der Liebe. So wie jener zwischen dem Oberst und Elena.
Das Musical
Bei der vorliegenden Umsetzung dieser Geschichte handelt es sich um ein Musical. Man sollte also weder die Zurückhaltung einer inszenierten Lesung oder eines „normalen“ Hörspiels, wie es täglichen im Rundfunk produziert wird, erwarten. Nein, für den „Massenselbstmord“ wurden schmissige Lieder komponiert, die wohl nicht zufällig ein wenig an die „Dreigroschenoper“ von Brecht/Weill erinnern.
Während also die Geräusche recht naturalistisch klingen und von den Lauten der Natur bis zur elektrischen Verzerrung eines Mikrofons reichen, so darf der Hörer doch eine erkleckliche Anzahl von Liedern erwarten. Die Lieder wurden von Matti Kontio aufs Notenblatt gebracht. Das wichtigste, weil immer wiederkehrende Lied ist der „Tango Suizid“. Mit einer schwungvollen Melodie wie der legendäre „Kriminal-Tango“ aus den sechziger Jahren loben die Sänger, allen voran der Soloist M. A. Numminen, die Vorteile des freiwilligen Ablebens.
Es folgen aber auch Schlaflieder und das wunderbare „O Galgenbaum“, welches nach der Melodie des Weihnachtslieds „O Tannenbaum“ gesungen wird. „Das Rübenmassengrab“ ist selbstredend ein Erntelied und „Wer früher stirbt, hat mehr vom ew’gen Leben“ ein sehr erbauliches Stück über die Freuden des Untotseins vor dem Jüngsten Gericht. Ein Lied, das sich nur jemand herausnehmen darf, der selbst als Same aufgewachsen ist, ist der herrliche Samenchor, der über die Finnen, diese traurigen Tröpfe und Spielverderber, herzieht. Am Schluss gibt man natürlich wieder den „Tango Suizid“ zum Besten. Wie man hört, ist so ein Massenselbstmord eine höchst unterhaltsame Sache!
Unterm Strich
Bevor ich hier noch lange herumbeschreibe, lege ich den Fans von Arto Pasilinna – und das sind laut Verlag hierzulande nicht wenige – wärmstens ans Herz, diese CD einmal selbst zu hören. Vielleicht stellt Amazon.de oder Luebbeaudio.de ein paar Hörproben im Netz bereit. Bei letzterer Website ist dies eigentlich üblich.
So einen Massenselbstmord könnte man ruhig öfters inszenieren. Wir alle könnten dazu „O Galgenbaum“ mitsummen, denn die Melodie von „O Tannenbaum“ kennt schließlich jeder. Wer nicht glaubt, dass die Sache höchst lustig ist, der sollte sich selbst von den Unterhaltungsqualitäten dieser Geschichte überzeugen. Dass Finnen nicht nur spinnen, sondern auch Fantasy-Epen (Kalevala), Rennfahrer und Mobiltelefone produzieren, ist bereits bekannt. Dass sie auch höchst unterhaltsame Musik hervorbringen, ist spätestens mit diesem schönen Musical bewiesen.
Natürlich könnte man den Machern entgegenhalten, dass die Story wohl ein wenig dünn ist. Es gibt auch keinen Showdown und erst recht keinen Shootout. Das wäre auch völlig absurd, denn schließlich und endlich geht es um die Frage, die uns alle irgendwie berührt: Wie schafft man es, die Sorgen und Nöte, die das Leben bereithält, zusammen mit anderen zu bewältigen? So ein Massenselbstmord, gemeinsam ausgeführt, kann eine hilfreiche Antwort sein. Man könnte aber auch einfach eine Kontaktanzeige aufgeben.
1 CD, 62 Minuten
Originaltitel: Hurmaava Joukkoitsemurha 1990
Aus dem Finnischen übersetzt von Regine Pirschel
Besprochene Auflage: März 2007
www.luebbe.de