Heitz, Markus – Judassohn

|_Judas| beim Buchwurm:_

Band 1: [Kinder des Judas 4306
Band 2: _Judassohn_
Band 3: Judastöchter

In „Kinder des Judas“ hat Bestsellerautor Markus Heitz sein Vampiruniversum eröffnet. Dort stand eine Tochter des Judas im Mittelpunkt des Geschehens, nämlich Theresia Sarkowitz, die bereits vor Jahrhunderten von ihrem Vater gelernt hat, mit ihren übermenschlichen Kräften umzugehen. Da sie aber weiß, was es bedeutet, seine Seele einem Dämon zu verkaufen, hat sie nach und nach ihre gesamte Nachkommenschaft ausgelöscht. Nur zwei sind übrig geblieben, und zwar Emma und Elena Karkow, über die Theresia seitdem wacht.

Im vorliegenden zweiten Band der Vampirsaga macht Theresia nun eine schreckliche Entdeckung: Am Silvesterabend will sie Emma Karkows Wohnung betreten, riecht aber bereits aus dem Treppenhaus das Gemisch vom Blut unzähliger Menschen. Die gesamte Wohnung ist geflutet mit dem roten Lebenssaft und ein Wesen, das sich als Theresias Tochter vorstellt, will Rache an ihrer Mutter nehmen und ihr das Liebste rauben, was diese noch hat: Emma und Elena.

Ob es zu diesem Racheakt kommt, erfahren wir erst rund 600 Seiten später, denn zunächst entführt uns Markus Heitz in die Vergangenheit: Wir lernen Tanguy Guivarch kennen, der Ende des 18. Jahrhunderts in der Süd-Bretagne lebt und unsterblich in Gwenn verliebt ist. Als die beiden zu einem Schäferstündchen im Dickicht verschwinden, werden sie von einer Gruppe ungehobelter Kerle aufgescheucht. Einer davon will mit Gwenn seinen Spaß haben. Tanguy kann dies zwar verhindern, zahlt die Rettung seiner Geliebten jedoch mit seinem Leben. Auf seiner eigenen Beerdigung kehrt er ins „Leben“ zurück und sorgt in seinem Heimatdorf für ein Massaker, das niemand überlebt. Tanguy allerdings kann sich nicht mehr an sein vorheriges Leben erinnern. Erst nach und nach erkennt er, dass er zu einem Vampir geworden ist.

In einer anderen Geschichte begegnen wir Sandrine, die ebenfalls über die Kräfte eines Vampirs verfügt. Doch ihr Körper ist nicht gezeichnet durch das Mal eines bestimmten Dämons, daher weiß sie nicht, welche Art Vampir sie eigentlich ist. Sie verliebt sich unsterblich in die Tenjac Anjanka, mit der sie fortan auf Blutfang geht. Dabei gelangen sie schließlich auch in die Gegend, in der Theresia Sarkowitz als Scylla aufgewachsen ist. Die beiden lernen Scyllas einstige Vertraute, die Baronin Metunova, kennen, die seitdem sichtlich gealtert ist und eine Affäre mit ihrem Nachbarn Octavius unterhält. Bei diesem kommen die beiden Vampirinnen unter und erhalten sogleich einen mysteriösen Auftrag.

Den Weg ins serbische Gebiet zu den Ursprüngen der Cognatio unternimmt auch Dominic de Marat, der bei Scyllas Halbbruder Marek in die Lehre geht. Auch Dominic hat seinen Weg noch nicht gefunden und entdeckt erst nach und nach seine besonderen Kräfte.

Wie all diese Figuren zusammen hängen und wie Theresia eine Tochter übersehen konnte, verrät uns Markus Heitz erst auf den allerletzten Seiten …

_Langer Atem_

Die Welt der verschiedenen Vampirwesen, die Markus Heitz in seinem ersten Band eröffnet hat, ist komplex und hat viele Berührungspunkte mit der Welt der Dämonen und Werwölfe. Wer wie ich die entsprechenden Bücher nicht kennt, kann hier durchaus manchmal ein wenig den Überblick verlieren. Denn schon die Welt der Vampire ist Heitz-typisch komplex, so begegnet uns eine Vielzahl unterschiedlicher Vampire, die durch verschiedene Stärken und Schwächen gekennzeichnet sind. Glücklicherweise erläutert Heitz im Einstieg zum vorliegenden Buch die unterschiedlichen Vampirarten, sodass man hier eine Art Vampirlexikon an die Hand bekommt, das im weiteren Verlauf des Buches mehr als hilfreich wird.

Er knüpft nahtlos an die Ereignisse aus „Kinder des Judas“ an und führt die Ereignisse in der Gegenwart fort, die sich in Theresia Sarkowitz‘ Dunstkreis in Leipzig abspielen. Und schon nach rund 50 Seiten erwartet uns das erste Blutbad, das eine rachsüchtige Vampirin am Silvesterabend in Emma Karkows Wohnung anrichtet. Sie ist wegen Theresia da und behauptet, ihre Tochter zu sein. Doch wie kann das sein, wenn diese doch gewissenhaft ihre Nachkommenschaft bis auf zwei Ausnahmen ausgelöscht hat? Diese Frage beschäftigt einen nahezu das gesamte weitere Buch über, denn Markus Heitz verlangt eine gehörige Portion Geduld von seinen Lesern: Statt einer Auflösung stellt er uns zunächst in gewohnt epischer Breite zahlreiche andere Figuren vor, die natürlich alle Vampire sind, teilweise auch Kinder des Judas, doch wie ihre Verbindung zu Scylla bzw. Theresia ist, bleibt bis kurz vor Schluss im Dunkeln.

Keine der Geschichten wird dabei langweilig, obwohl Heitz sich teilweise viel Zeit lässt, um seine Charaktere vorzustellen und sie in den historischen Kontext zu betten. Dadurch erlangt sein Buch eine atmosphärische Tiefe, die ihresgleichen sucht. Den langen Atem hält man bei Heitz gerne bereit, zumal er mit seinem Cliffhanger zu Beginn gekonnt dafür gesorgt hat, dass man als Leser bei der Stange bleibt und sich so schnell wie möglich durch die historischen Geschichten liest, um endlich wieder in die Gegenwart zu gelangen. Und am Ende präsentiert Heitz uns schließlich einen Showdown, der es in sich hat und der bereits mehr als neugierig auf den folgenden Band „Judastöchter“ macht, der Ende dieses Jahres erscheinen soll.

_Figurenvielfalt_

In diesem Buch ist nicht länger Theresia die Hauptfigur, auch wenn sie weiterhin Dreh- und Angelpunkt der gesamten Handlung bleibt. Denn wie wir am Schluss erkennen müssen, haben alle anderen Hauptcharaktere auch eine Verbindung zu Scylla. Auch dieses Mal dreht sich alles um die Kinder des Judas. Wir dringen weiter in die Geschichte dieser besonderen Sorte Vampir ein und erfahren, dass es einen Weg zu geben scheint, um die Verbindung zu seinem Dämon zu lösen. Doch diese Geschichte wird wohl erst im nächsten Buch ihre Auflösung finden.

Wir begegnen in diesem Buch einer wahren Flut von Charakteren, die zu zahlreichen unterschiedlichen Arten von Wesen gehören. Über allem aber steht stets Theresia Sarkowitz, die mit ihrem Ausbruch aus der Cognatio die gesamte Vampirwelt durcheinander gewirbelt hat und die dadurch zu einer Legende geworden ist. Nach wie vor trachtet Marek danach, die Formel für die Unsterblichkeit zu erlangen. Diese Gier ist so groß, dass die Cognatio auch in diesem Buch ein falsches Spiel treibt, um die entscheidende Formel in die Hände zu bekommen.

Etwas schade fand ich, dass einige interessante Charaktere, die uns Markus Heitz im Laufe des Buches präsentiert, ein mehr oder weniger schnelles Ende finden und wir uns wieder von ihnen verabschieden müssen. Zwar ist dies unerlässlich für die weitere Handlung, doch fällt es nicht immer leicht, sich von manch einer Hauptfigur zu trennen. Ausgesprochen gut gefallen hat mir, dass Heitz ganz unterschiedliche Charaktere – männliche wie weibliche – ins Feld führt, die alle ihre Reize haben, sodass jeder Leser einen Favoriten bzw. eine Identifikationsfigur finden dürfte.

_Rache einer Tochter_

Unter dem Strich gefällt das vorliegende Buch ausgesprochen gut. Der Spannungsbogen ist nahezu perfekt gelungen, da Markus Heitz bereits früh einen Cliffhanger setzt, der einen bis zum Schluss bei der Stange hält. Darüber hinaus bergen sämtliche Geschichten ihre ganz eigenen Reize und ihre ganz eigenen Hauptfiguren, die durch die Bank zu überzeugen wissen. Heitz setzt jedoch einige Kenntnisse aus der Welt der Vampire, Werwölfe und Dämonen voraus, was manchmal etwas verwirren kann, wenn man diese Informationen nicht präsent hat. Allerdings hat dies den Vorteil, dass er nicht mehr in epischer Breite ausholen muss, um den Lesern sein Fantasy-Universum zu erklären. So ist das Buch trotz des großen Umfangs von knapp 700 Seiten sehr kurzweilig geraten.

Zum Schluss fügt Heitz all seine Handlungsstränge geschickt zusammen und klärt einige offene Fragen auf. Aber natürlich lässt er auch welche offen, die sich hoffentlich im Dezember klären werden, wenn mit „Judastöchter“ das dritte Vampirbuch auf den Markt kommt.

|Taschenbuch: 686 Seiten
ISBN-13: 978-3426652251|

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_Markus Heitz auf |Buchwurm.info|:_

[Interview mit Markus Heitz]http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=56
[„Gerechter Zorn“ 5983 (Die Legenden der Albae 1)
[„Ritus“ 2351 (Buch)
[„Ritus“ 3245 (Hörbuch)
[„Sanctum“ 2875 (Buch)
[„Sanctum“ 4143 (Hörbuch)
[„Blutportale“ 6091 (Hörbuch)
[„Blutportale“ 5528
[„Die Mächte des Feuers“ 2997
[„Die Mächte des Feuers“ 4655 (Hörbuch)
[„Kinder des Judas“ 4306
[„Blutportale“ 5528
[„Die Zwerge“ 2823
[„Die Zwerge“ 2941 (Hörbuch)
[„Die Rache der Zwerge“ 1958
[„Der Krieg der Zwerge“ 3074
[„Schatten über Ulldart“ 381 (Die Dunkle Zeit 1)
[„Trügerischer Friede“ 1732 (Ulldart – Zeit des Neuen 1)
[„Vampire! Vampire!“ 5866
[„05:58“ 1056 (Shadowrun)
[„Die dritte Expedition“ 2098

Shatner, William/Fisher, David – William Shatner: Durch das Universum bis hierher. Die Autobiographie

_Von der Pike abwärts: Karriere mit Fehlzündungen_

Obwohl Shatner – gewollt oder unwillkürlich, weil es seine Art ist oder sein soll – in seiner autobiografischen Darstellung sprunghaft ist, gern zwischen Zeiten und Themen „springt“ und ein Faible für unterhaltsame aber ablenkende Anekdoten an den Tag legt, folgen seine Erinnerungen insgesamt einem chronologischen Faden. Sowohl der berühmte Kirk als auch der berüchtigte Shatner wurden 1931 in Kanada als Sohn eines jüdischen Billig-Schneiders geboren („Ein kleiner jüdischer Junge aus Montreal“). Die Herkunft und die Erinnerung an ständige Geldnot erwiesen sich als prägend. Immer wieder kommt Shatner auf seine Existenz-Ängste zurück, die ihn zwingen, praktisch jede Rolle anzunehmen, weil er fürchtet, ansonsten aus dem Geschäft zu sein.

William Shatner gehört zu einer Generation junger Nordamerikaner, die nicht mehr in den Zweiten Weltkrieg und in keinen der späteren US-Kriege ziehen musste. Nachdem er seine Liebe zu den darstellenden Künsten entdeckt hatte, konnte er sich ihnen deshalb kompromisslos widmen. Nach 1945 boomte die Unterhaltungsindustrie in Radio, Theater und Film. Hinzu kam wenig später das Fernsehen. Junge Darsteller fanden hier zwar keine hohen Gagen aber ein breites Betätigungsfeld („Anfänge im Radio und Fernsehen“, „Mr. Broadway erobert die Stadt“). Shatner schildert die Möglichkeiten, die freilich mit hartem Konkurrenzdruck einhergingen. Der junge Schauspieler musste seinen Job auf die harte Tour lernen. Er beging Fehler, traf falsche Entscheidungen, wurde hereingelegt – und arbeitete praktisch rund um die Uhr.

Ersten Erfolgen am Theater und im Fernsehen („Ein Star wird geboren“) folgten immer wieder Durststrecken und Routinerollen. Shatner gehörte zum Fußvolk seiner Zunft. Er spielte Gastrollen in beinahe sämtlichen Serien der 1950er und 60er Jahre, ohne dabei ein Profil zu entwickeln, das sein Wiedererkennen garantierte. Shatners „Karriere“ drohte deshalb zu versanden; 1966 war nach anderthalb Jahrzehnten harter Arbeit der Durchbruch weiterhin fern – und die Zeit lief gegen den nicht mehr ganz jungen Schauspieler.

_Der lange Weg zum Shatman_

Dies änderte sich auch nicht, als Shatner im genannten Jahr als Captain Kirk auf der Enterprise anheuerte („Der Weltraum – unendliche Weiten“). Für ihn war dies ein Job wie viele andere, weshalb es ihn weder überraschte noch erschütterte, als „Star Trek“ schon nach drei Jahren abgesetzt wurde. Shatner machte weiter wie bisher und registrierte nur nebenbei und ganz allmählich das Aufkommen des „Star-Trek“-Kultes. Währenddessen zog der Schauspieler geschieden und pleite per Wohnmobil von Drehort zu Drehort und nahm erst recht jeden möglichen und unmöglichen Job an („Shiva“).

In den 1970er Jahren erlebte Shatner privat und beruflich schwierige Zeiten. Die Erinnerung daran kann auch der betont humorvolle Ton nicht überdecken („I’m a rocket man!“). Erst die Neuauflage der klassischen „Star-Trek“-Serie im Kino brachte ihn endlich auf die Gewinnerseite. Shatner startete durch, nutzte den Ruhm und den Kult-Status der Kirk-Rolle, wurde Regisseur, Drehbuchautor und Produzent („Cop, Regisseur & Comedian“).

Anfang der 1990er Jahre heiratete Shatner zum dritten Mal. Der Ehe mit Nerine Kidd und ihrem tragischen, von den Medien gierig aufgegriffenen Ende widmet Shatner ein eigenes Kapitel („Notruf“). Dies gilt auch für den Tod seines Alter Egos („Kirks Ende“), dem zuzustimmen Shatner inzwischen als eine der zahlreichen Fehlentscheidungen seiner turbulenten Karriere betrachtet.

Die Autobiografie klingt in der Gegenwart aus, die William Shatner abermals verheiratet und beruflich erfolgreicher denn je erlebt. An den Ruhestand kann und will das rüstige aber bald 80-jährige Multi-Talent weiterhin nicht denken.

_Ein real phantastisches Leben_

Dass William Shatner seinem Erstaunen über das Erlebte und Überstandene immer wieder Ausdruck verleiht, können seine Leser nach der Lektüre dieser Autobiografie problemlos verstehen. Unabhängig von der (ohnehin aus der Ferne nicht zu beantwortenden) Frage nach seinen oft und gern angeprangerten Schauspiel- oder Charakterschwächen, ist Shatner nicht nur ein Veteran seiner Zunft, sondern ein Zeitzeuge, dessen Erfahrungen in Film, Fernsehen, Theater u. a. Darstellungsformen sechs Jahrzehnte umfassen. Shatner hat alles gemacht, er arbeitete als Schauspieler, Regisseur, Autor, Sänger oder Moderator.

Die Rolle als James T. Kirk erwies sich als Glücksfall seines Lebens. Oft wird Shatner auf den unternehmungslustigen Captain des Raumschiffs Enterprise reduziert und seine Privatperson mit ihm gleichgesetzt. Schaut man sich die unglaubliche Zahl von Figuren an, in die er schlüpfte, wird deutlich, dass Shatner mehr ist als der eitle, übertrieben agierende, viel zu jungen Frauen hinterherjagende Toupet-Träger, als den ihn jüngere Generationen kennengelernt zu haben glauben: Auf diese Weise bleibt man nicht 60 Jahre in einem äußerst schnelllebigen Geschäft aktiv oder gar erfolgreich.

Gleichzeitig ist Shatner ein cleverer Selbstvermarkter, der selbst die negativen Seiten seines Images für sich umzumünzen weiß. „Seine“ Autobiografie ist dafür ein perfektes Beispiel. Shatner firmiert als Autor; mit der Lupe muss man den Namen David Fisher suchen, der die Vorgaben des „Shatman“ in einen lesbaren Text verwandelt hat. Artig dankt ihm Shatner in seinem Vorwort für die „Mitarbeit“, entlarvt sich aber später als „Verfasser“ zahlreicher Romane mit der Information, stets nur Ideen für das grobe Gerüst einer Geschichte in den Raum zu werfen, aus denen anschließend „Co-Autoren“ ein weiteres Buch machen, das Shatner in „seine“ Literaturliste aufnimmt.

_Autobiografie mit Botschaft_

Selbstbewusst und sensibel, rücksichtslos und freundlich, gerissen aber nicht klug: So möchte sich Shatner dargestellt wissen. Er gibt vor, die Rolle des „Shatman“ nur zu spielen, was seine Kritiker im Gegensatz zu seinen echten Fans angeblich nicht begreifen. Shatner unterlegt seine Äußerungen und Aktionen gern mit einem Kontext, den er nachträglich erläutert. Eingestreute Geständnisse charakterlicher Schwächen sollen entwaffnend wirken. Nicht nur einmal gibt Shatner zu, dass Wahrheit für ihn auch ein Stoff ist, den er verformt und verdreht, um ihn für seine Zwecke zu nutzen. Gleichzeitig gibt er sich als Autobiograf betont offen und ehrlich, was er durch eine einfache, kumpelhafte, man könnte auch sagen: anbiedernde Sprache unterstreicht. Mit der Diskrepanz muss sich der Leser auseinandersetzen. Zur stetigen Verunsicherung tragen Shatners Abschweifungen bei, die oft in Hinweise auf die Verkaufsangebote auf seiner Website münden; der geschäftstüchtige Autor bedient sich hier jener Nachrede, er sei geizig und geldgierig.

Auf diese Weise spricht Shatner Vorwürfe selbst an, um sie dann zu „erklären“ und Stück für Stück zu entkräften. Als Biograf hält er auf diese Weise die Fäden auch dann noch fest in der Hand, wenn es in Lebensabschnitte geht, in denen Shatner keine gute Figur macht. Das schließt auch die Jahre der „Star-Trek“-Fernsehserie ein. Shatner räumt dieser Phase verständlicherweise breiten Raum ein. Dabei verhehlt er die Schwierigkeiten mit seinen Schauspielerkollegen oder mit dem Fernsehstudio nicht, übernimmt ein wenig Verantwortung, um anschließend die Dinge so zurechtzurücken, bis man ihn beinahe als Opfer übler Nachrede betrachten möchte.

Das Gedächtnis ist ein subjektiv arbeitendes Funktionselement des Hirns. Shatner hat früher einmal behauptet, ihm seien die „Star-Trek“-Jahre längst entfallen. Dafür wartet er in seiner Biografie mit erstaunlichen Details auf. Shatner hat Rollen in dreistelliger Zahl gespielt. Trotzdem scheint ihm jede Figur präsent zu sein. Ist dies „echtes“ Erinnern oder das Ergebnis nachträglicher Recherche, die als Erinnerung „getarnt“ wurde?

_Autobiografie eines Insiders_

Dieser Verdacht keimt während der Lektüre oft auf. Er mindert die positiven Seiten einer Autobiografie, deren Verfasser (nennen wir ihn der Einfachheit halber weiterhin so) Zeitzeuge einer Film- und Fernsehgeschichte „von unten“ ist. Vor allem der Fan des phantastischen Genres wird immer wieder über Shatner stolpern, der sowohl in der SF als auch im Horror zahlreiche und manchmal sogar tiefe Spuren hinterlassen hat. Shatner war und ist beileibe nicht nur Captain Kirk, sondern auch Bob Wilson in der klassischen „Twilight-Zone“-Episode „Terror at 20.000 Feet“ (1963), Mark Preston im Grusel-Heuler „The Devil’s Rain“ (1975; dt. angemessen dümmlich „Nachts, wenn die Leichen schreien“) oder Walter H. Bascom in der SF-Serie „TekWar“ (1995-96).

Ganz unten und ganz oben: Shatner ist seit sechs Jahrzehnten ein Teil der modernen US-Unterhaltungsindustrie. Selbst wenn er sich vor allem an und in Anekdoten erinnert, bliebt übergreifend Interessantes haften. Shatner kennt den Alltag vor und hinter der Kamera. Auf dieser Ebene liest sich seine Autobiografie nicht nur unterhaltsam, sondern liefert Hintergrundwissen aus einer Branche, die längst nicht so glanzvoll ist wie sie sich selbst gern gibt.

Unterm Strich offenbart sich der „Shatman“ so, wie er sich zu offenbaren gedenkt, während er völlige Ehrlichkeit suggeriert, um dies gleichzeitig zu relativieren. Dies sollte der Leser bedenken, der sich gleichzeitig auf eine oft interessante, unterhaltsame und dabei im positiven Sinn „leichte“ Lektüre einstellen kann.

_Autor_

William Shatner wurde am 22. März 1931 in der kanadischen Großstadt Montreal geboren. Er wurde schon in jungen Jahren Schauspieler und trat zunächst im Theater auf. 1956 ging Shatner in die USA und zum Broadway. Parallel dazu spielte er in zahlreichen TV-Dramen, die damals noch live gesendet wurden. Zwei Jahre später tauchte Shatner in „The Brothers Karamazov“/“Die Brüder Karamasow“ an der Seite von Yul Brunner und Maria Schell im Kino auf.

Der echte Durchbruch blieb aus. Viele Jahre spielte Shatner in Kinofilmen und TV-Shows der B- und C-Kategorie. Darin lieferte er trotz seiner theatralischen bis pathetischen Darstellungsweise durchaus achtbare Leistungen ab. 1966 bis 1969 folgte die Hauptrolle in der „Star-Trek“-Serie, die von einer weiteren Durststrecke und den für Shatner typischen Rollen in billigen Filmen und Fernsehserien gefolgt wurde. Erst die Rückkehr als Captain Kirk in den „Star-Trek“-Kinofilmen brachte ihm endlich Erfolg. Er nutzte ihn geschickt, um eine Karriere als Regisseur, Drehbuchautor und Produzent in Gang zu bringen. Seine Aktivitäten als Schauspieler schränkte Shatner gleichzeitig keineswegs ein, versuchte sich als Sänger, wurde Pferdezüchter, gründete eine Firma für Spezialeffekte („Core Digital Effects“) und entwickelte schriftstellerische Ambitionen.

Auch im Alter denkt Shatner nicht an den Ruhestand. Er legt sich ein Arbeitspensum auf, das einen halb so alten Mann schrecken könnte (s. [www.williamshatner.com]http://www.williamshatner.com). In seiner Rolle als unwürdiger Greis besetzt er im Kulturleben der USA etwa dieselbe Nische wie hierzulande Dieter Bohlen oder früher Verona Feldbusch und hat sich als Trash-Ikone und Amerikas liebster Toupet-Träger eine solide Alterskarriere aufgebaut. William Shatner ist in vierter Ehe verheiratet und lebt heute in Südkalifornien und Kentucky.

|Gebundene Ausgabe:
Originaltitel: Up Till Now. The Autobiography (New York : Thomas Dunne Books/St. Martin’s Press 2008)
Übersetzung: Thorsten Wortmann
Deutsche Erstausgabe (geb.): Juli 2009 (Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag)
ISBN-13: 978-3-89602-879-2|
[www.schwarzkopf-schwarzkopf.de]http://www.schwarzkopf-schwarzkopf.de

_William Shatner bei |Buchwurm.info|:_
[„Sternendämmerung“ (Star Trek) 673
[„Sternennacht“ (Star Trek) 688

Goulart, Ron – Als alles auseinanderfiel

_Das geschieht:_

In diesen fiktiven letzten Jahren des 20. Jahrhunderts sind die USA schon vor etwa drei Jahrzehnten auseinandergebrochen. Unzählige Stadtstaaten sowie kleine und kleinste Territorien haben sie mehr oder weniger ersetzt. Sie werden von ideologisch oft extremen Splittergruppen beherrscht, die einander bekämpfen, Bündnisse schließen, in neue Fraktionen zerfallen und insgesamt für eine Gegenwart ohne übergeordnete Strukturen sorgen.

Im ehemaligen Großraum San Francisco genießt das „Private Inquiry Office“ eine gewisse Neutralität als vermittelnde Instanz, die von den meisten Gruppen akzeptiert wird. Die Mitarbeiter des PIO können gerufen werden, wenn das fragile Gleichgewicht der unterschiedlichen Kräfte gar zu sehr in Gefahr gerät. Aktuell sorgt eine Gruppe namens „Männermord“ für Unruhe. Unter der Führerschaft der mysteriösen „Lady Day“ überfallen, entführen und töten radikale Feministinnen Männer in einflussreichen Positionen.

Jim Haley begibt sich im Auftrag des PIO auf einen riskanten Außeneinsatz. Er soll Lady Day identifizieren und ihr Hauptquartier lokalisieren. Seine Mission verwandelt sich in eine irrwitzige Odyssee durch ein Land, das durch Anarchie und Chaos gekennzeichnet wird. Wo die „echte“ Mafia gegen die „Amateur-Mafia“ kämpft, Neo-Trapper sich Musketen-Gefechte mit afro-amerikanischen Klassenkämpfern liefern oder Überlebende des FBI ein Hotel nach geheimdienstlichen Vorschriften führen, bleibt Haley, der sich zwischenzeitlich in die schöne aber undurchsichtige Janey verliebt hat, hartnäckig auf seiner Spur, um schließlich die allgemeine Verwirrung auf einen neuen Höhepunkt zu treiben …

_Das Ende als neuer Anfang vom Ende_

Nach dem II. Weltkrieg schien in den USA nur der Himmel die Grenze des Machbaren darzustellen – und dies nur vorläufig, denn Anfang der 1960er Jahre verkündete Präsident Kennedy, es würden spätestens am Ende des Jahrzehnts Amerikaner auf dem Mond stehen; ein Vorhaben, das bekanntlich glückte. Ohne die Kommunisten wäre das Leben – zumindest für die Fleißigen, Angepassten & nicht Ausgegrenzten – mit Jobs im Überfluss, ökonomischer Weltherrschaft und Automobilen, die mehr als 20 Liter Sprit pro 100 km verbrauchen durften, das Paradies auf Erden gewesen.

Aber in diesen 1960er Jahren begann das scheinbar selbstzufrieden in sich selbst ruhende US-Imperium Risse zu zeigen. Alte Probleme waren nie gelöst, sondern nur verdrängt worden, neue kamen hinzu. Vor allem die Jugend ließ sich nicht mehr disziplinieren bzw. drangsalieren. Rassendiskriminierung, Krieg in Vietnam, bürgerkriegsähnliche Unruhen in zahlreichen Städten: Es gärte in den USA, während gleichzeitig alternative Lebensmodelle entstanden. Die Hippie-Bewegung fand das Interesse der Medien, aber das Aufbrechen als überkommen empfundener Alltagsmodelle wurde nicht nur von den Blumenkindern exerziert. Konservativ und progressiv, friedlich und paramilitärisch, anarchistisch und faschistoid: Diese Gruppen deckten das gesamte politische und soziale Spektrum ab.

Dass es nicht mehr so weitergehen konnte wie bisher, dämmerte auch jenen, die Angst vor Veränderung hatten. Spätestens die Ölkrise des Jahres 1973 kündigte das Ende des immerwährenden Aufschwungs an. Umweltverschmutzung und Umweltzerstörung blieben keine Schlagwörter leicht zu ignorierender Öko-Freaks mehr, sondern wurden bittere Realität.

|Die Zukunft im Mixer der Gegenwart|

In einer so in Bewegung geratenen Gegenwart schuf Ron Goulart 1970 die „Fragmented-America“-Serie, deren erster Band „Als alles auseinanderfiel“ wurde. Goulart griff die herrschenden Verhältnisse und Umbrüche auf, mischte und extrapolierte sie. Es entstand ein „moderner“ Science-Fiction-Roman, der nicht mehr den menschlichen Triumphzug durch das Weltall feierte, sondern sich auf die alltäglichen Probleme des Heimatplaneten konzentrierte.

Um 1970 schien der Zusammenbruch der „alten“ Ordnung durchaus möglich. Was geschähe, sinnierte Goulart, wenn es tatsächlich dazu kommen sollte? Wie könnte das Leben aussehen, würden die neuen, idealistischen Gruppen die Macht übernehmen? Als ernsthafter Visionär sah der Verfasser sich dabei nicht; diese Rolle überließ er anderen Schriftstellern. Goulart betrachtete sich als Satiriker, der die mögliche Zukunft überspitzt darstellen wollte. Auf diese Weise konnte er einerseits Grenzen ignorieren, während er andererseits ein größeres Publikum erreichte: Kritik wird problemloser zur Kenntnis genommen, wenn man sich dabei amüsieren kann. Ohnehin verschmäht Goulart auch den einfach „nur“ witzigen Effekt nicht, wenn er von Nudisten-Rabatten, an die Presse verkauften Aufständen oder widerspenstigen Robotern fabuliert.

|Die Schlange beißt sich in den Schwanz|

Goulart kommt in „Als alles auseinanderfiel“ zu dem Schluss, dass der Mensch nichts dazulernt. Die neue Welt ist trotz ihrer seltsamen Auswüchse grundsätzlich die alte geblieben. Faktisch treten höchstens Wesenszüge wie Hab- und Machtgier, Inkompetenz, Fanatismus oder Verblendung stärker hervor. Der Staat ist ein Kompromiss, der die gröbsten Spitzen politischer, juristischer oder kultureller Seitenwege nivelliert. Das „fragmentierte Amerika“ ist demgegenüber ein Konglomerat eigenbrötlerischer Splittergruppen, deren Handeln demonstriert, dass sie vor allem die eigenen Vorstellungen verwirklichen wollen. Sie haben keine Probleme damit, dies auf Kosten anderen und außenstehender Menschen zu tun. Das einende Element scheint dem Verfasser die allgegenwärtige Bestechlichkeit zu sein.

Als Autor vertritt Goulart eine zumindest latent konservative Haltung. Ohne zentrale Ordnungsmacht oder -kraft bricht das Chaos aus. Auf die Idealisten oder gar die selbst ernannten Retter darf man nicht zählen. Stattdessen bekommen alte Krisengewinnler wieder Oberwasser. Jim Haley führt uns durch diese aus den Fugen geratene Welt wie einst Alice durchs Wunderland. Der Plot ist Nebensache, die Suche nach der „Lady-Day“-Bewegung hält die Handlung nur in Gang. Haley soll mit möglichst vielen Gruppen Kontakt aufnehmen, um dem Leser die Heterogenität dieser Zukunft vor Augen zu führen.

Das in der SF oft dominierende technische Moment dient Goulart höchstens als Verstärker in der Darstellung des allgemeinen Durcheinanders. Von Hightech ist in diesem Amerika keine Rede mehr. Goulart liebt Geräte und Roboter, die ihre Funktionalitäten quasi ins Gegenteil verkehrten und dem Menschen nicht Diener, aber auch nicht Herren, sondern in erster Linie lästig sind. Sie unterstreichen das Chaos, in das sie sich so problemlos fügen, dass man sie – zumindest im Fall der Roboter – von den Menschen kaum noch unterscheiden kann.

|Chaos endet – vorläufig|

„Als alles auseinanderfiel“ unterhält heute primär als oft altmodische aber grundsätzlich noch funktionierende Geschichte. Der Humor ist hauptsächlich trocken und konnte sich ebenfalls erhalten. Viele der von Goulart karikierten Missstände haben im Kern ihre Daseinsberechtigung bewahren. Was von der Zeit eingeholt wurde, amüsiert als Gruß einer vergangenen Zukunft. Der historisch bewanderte Leser freut sich darüber hinaus über das geistreiche oder wenigstens gelungene Spiel mit historischen Realitäten.

Das politische und kulturelle Tauwetter währte in den USA keine zehn Jahre. Es endete spätestens 1981 mit der Präsidentschaft Ronald Reagans, der perfekt die Rückkehr zu den „alten Werten“ symbolisierte. In genau diesem Jahr schloss Ron Goulart seine „Fragmented-America“-Serie mit ihrem fünften Band ab. Zu diesem neuen Amerika fiel ihm offenbar nichts Komisches mehr ein.

_Autor:_

Ron Goulart wurde am 13. Januar 1931 in Berkeley im US-Staat Kalifornien geboren. Der Sohn eines Fabrikarbeiters studierte an der Universität ebendort und ging anschließend in die Werbung, was für seine spätere Aktivität als Schriftsteller prägend wurde. Schon 1952 erschien mit „Letters to the Editor“ eine erste Science-Fiction-Story, doch es dauerte bis 1960, bevor Goulart Vollzeit-Autor wurde.

Als solcher beschränkte er sich keineswegs auf die Phantastik, sondern veröffentlichte auch zahlreiche Kriminalromane. Goulart textete außerdem für Comics wie „Vampirella“ und „Star Hawks“. Unter diversen Pseudonymen schrieb er darüber hinaus für Serien wie „Avenger“ (als Kenneth Robeson), „Flash Gordon“ (als Con Steffanson), „Phantom“ (als Frank S. Shawn) oder „Kampfstern Galactica“ und griff William Shatner hilfreich beim ersten Band der „TekWar“-Serie unter die Arme.

In denjenigen SF-Romanen und Kurzgeschichten, die unter seinem eigenen Namen erschienen, gab Goulart sich gern satirisch oder wenigstens humorvoll. Vor allem Maschinen mit Fehlfunktionen haben es ihm angetan, doch Goulart vermag auch den Wahnsinn im „Menschen“ heraufzubeschwören, wie er mit seiner sehr beliebten Serie um das Chamäleonkorps bewies, dessen Mitglieder ihre Gestalten verändern können, was ihnen ermöglicht, auch und gerade bizarre Missionen zu übernehmen.

|Taschenbuch: 160 Seiten
Originaltitel: After Things Fell Apart (New York : Ace Books 1970)
Deutsche Erstausgabe: 1973 (Wilhelm Goldmann Verlag/Goldmann SF 0180)
Übersetzung: Jürgen Saupe
Cover: Ron Kirby
ISBN-13: 978-3-442-23180-5|
[www.randomhouse.de/goldmann]http://www.randomhouse.de/goldmann

Sterling Noel – Die Fünfte Eiszeit

_Das geschieht:_

Ein kalter, verregneter Frühling hat es schon angekündigt, aber dennoch erwischt es die Republik Nordamerika buchstäblich kalt, als im Spätsommer 2203 eine neue Eiszeit einsetzt. Schneefälle und Minustemperaturen jenseits aller Erträglichkeit lähmen die gesamte Erdzivilisation und bringen sie schließlich zum Zusammenbruch. Kaum eine Million Nordamerikaner überleben das Fiasko. Ihre einzige Chance bedeutet der Zug in die schmalen Landstriche, die am Erdäquator vom Eis und von der schlimmsten Kälte verschont blieben. Doch der Weg dorthin ist weit, gefährlich und strapaziös.

Dr. Gabriel Harrow, Meteorologe und Nobelpreisträger, muss die Erfahrung machen, von seiner Regierung ignoriert zu werden, als er ein baldiges Ende der Eiszeit für unmöglich erklärt. So beschließt er, kluge Köpfe, Freunde und einige Arbeiter fürs Grobe um sich zu scharen, eine fahrbare Miniatur-Arche zu bauen und wohl ausgerüstet gen Süden zu reisen. Victor Savage, ein ehemaliger Soldat und Harrows Schüler, übernimmt das Kommando.

Über bald kilometerdickes Eis und durch Schneestürme kämpft sich die kleine Gruppe voran. Hin und wieder treffen sie auf andere Überlebende, von denen sich jedoch kaum jemand anschließen mag. Die Strapazen der Reise werden geschürt durch interne Querelen. Geile Töchter, dumme Kerls, überschnappende Ausländer und Meuterer sorgen dafür, dass sich die Harrow-Gruppe stetig dezimiert. Aber man schlägt sich bis an die Atlantikküste durch, wo man hofft, ein Schiff zu bemannen und Brasilien ansteuern zu können …

_Apokalypse in Abschnitten_

Zur Abwechslung lösen also nicht die bösen Sowjets erst den Dritten Weltkrieg (atomar) und dann den Untergang der Erde aus. (Tatsächlich hat man bereits WK Nummer IV hinter sich; die Chinesen warens!) Das Wetter ist es, das verrücktspielt. Als dieser Roman entstand, war noch nicht Umweltverschmutzung mit nachfolgender Global-Erwärmung der Auslöser; dies waren damals nur Themen für Eierköpfe und Konsum-Spielverderber. Stattdessen muss die Erde durch ein kosmisches Staubfeld sausen, das für die dramaturgisch erwünschte Abkühlung sorgt.

Verfasser Sterling Noel holt aus der Kulisse der in Eis und Schnee erstarrenden Erde viel heraus, wobei er sich ungeschickt auf einen Ausschnitt des Geschehens beschränkt. Von den Tragödien, die der Zusammenbruch mit sich bringt, erfahren die Personen der Handlung ebenso wie die Leser nur zufällig und indirekt durch TV-Sendungen und Funksprüche, später durch den Besuch von Orten, an denen sich Schauerliches meist schon abgespielt hat.

Obwohl die Erde friedlich einfriert, ist „Die Fünfte Eiszeit“ (Nr. 1-4 sind übrigens die uns bekannten Eiszeiten der Vergangenheit) eine „Post Doomsday“-Geschichte, wie sie genau in die Zeit des Kalten Krieges zwischen den Supermächten USA und UdSSR (plus andere rote Schurkenstaaten) passt, zu der bereits den Schulkindern das Verhalten bei einem Atomschlag eingeübt wurde. Insofern stellt „Die Fünfte Eiszeit“ eine weitere Lektion dar. Wenns tatsächlich mal schiefgehen sollte mit dem Gleichgewicht des Schreckens, musste das nicht das Ende bedeuten; einige starke Männer & Frauen konnten durchaus überleben. Tröstlich, nicht wahr?

|Sie streiten viel und lernen wenig|

Die Figurenzeichnung kann mit der fast dokumentarisch präsentierten Handlung nicht mithalten. Noel präsentiert uns eine denkbar unsympathische Gruppe. Harrow und die Seinen klinken sich aus der Rettung dieser Welt aus, weil die dumme Regierung nicht auf sie hören will. Stattdessen bunkern sie sich an einem zunächst sicheren Ort ein, nutzen ihren Informationsvorsprung, um sich mit Technik und Lebensmitteln einzudecken, sorgen ausschließlich für ihr eigenes Wohl und entdecken ihre Nächstenliebe erst wieder, als das Kind in den Brunnen gefallen ist bzw. die meisten Menschen tot sind.

Das ist vermutlich realistisch. Auch die Auseinandersetzungen innerhalb der Gruppe wirken überzeugend. Angst und Dauerkrisen locken einerseits die guten Eigenschaften des Menschen hervor. Andererseits aber auch nicht, was Noel zum Teil anschaulich in fast unwirklichen Szenen zu schildern weiß. Sie zeigen immer wieder Menschen, die über die Katastrophe zu triumphieren versuchen, indem sie diese schlicht ignorieren.

Positiv fällt weiterhin der grimmig-realistische Tenor dieser Geschichte auf. Sicherheit gibt es weder für die Protagonisten noch für die Leser. Immer wieder müssen wir uns überraschend von (halbwegs) lieb gewonnenen Charakteren verabschieden: Die Apokalypse verschont nicht einmal jene, die sich an die neuen Spielregeln halten.

|Expedition der Klischee-Exemplare|

Andererseits stellt sich Noel allzu oft selbst ein Bein, indem er sich auf die bekannten Klischees des Katastrophen-Romans verlässt. Seine Darsteller bilden einen schematischen Querschnitt durch die Bevölkerung. Auf diese Weise ist sichergestellt, dass jede gesellschaftliche Schicht (oder wenigstens die relevanten Kasten) ihre Identifikationsfigur bekommt, was dem Erfolg des Werkes nur zuträglich sein kann.

Also treten auf: Schwächlinge und Verräter. Hier bilden u. a. eine liebestolle Farmerstochter, ein disziplinloser Mechaniker oder ein amoklaufender Araber (ja, ja, die Ausländer …) die Gegner der hart für das Überleben der Gruppe schuftender Militärs und Wissenschaftler. Zum Wohle der Gemeinschaft ist hart durchzugreifen, was es manchmal auch erforderlich macht, einen ganz üblen Schurken mit der Strahlenkanone hinzurichten. Es muss sein – und stellt Euch schon einmal darauf ein, liebe Leser, dann seid auch Ihr bereit, sollten Euch ähnliche Katastrophen heimsuchen!

So wird jedenfalls im Zeitalter des Kalten Krieges sacht mit dem Schlimmsten gerechnet. Wenn es ganz dick kommt, werden und dürfen nur die Besten überleben: entschlossene Führergestalten und junge, starke Männer, die ihnen folgen; dazu noch jüngere Frauen, die treu zu ihnen halten und zukünftige Generationen von Pionieren (und Soldaten) gebären …

_Autor:_

Es gibt kaum Informationen über Noel Sterling (1903-1984) im Internet. Ein typischer Magazin- und Taschenbuch-Autor der ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg ist er wohl gewesen, der alle Sparten der Unterhaltungsliteratur bediente und neben weiteren Science-Fiction-Romanen u. a. Krimis schrieb. Gemeinsam ist seinen Werken die inhaltliche Anlehnung an wirklich originelle oder doch wenigstens beliebte Vorbilder. Dass er diese zwar handwerklich kompetent, aber eher mechanisch kopiert, trug sicherlich entscheidend dazu bei, ihn zu einem vergessenen Autor werden zu lassen.

|Taschenbuch: 154 Seiten
Originaltitel: We Who Survived (New York: Avon Books 1959)
Übersetzung: Fritz Moeglich
Deutsche Erstausgabe: 1962 (Wilhelm Heyne Verlag/Allgemeine Reihe Nr. 267, neu aufgelegt als Heyne Science Fiction Nr. 06/3022)
ASIN: B0000BM0ZE|
[www.randomhouse.de/heyne]http://www.randomhouse.de/heyne

Hill, Susan – Gemälde, Das. Eine Geistergeschichte

_Das geschieht:_

Dr. Theo Parmitter, in der englischen Elite-Universität Cambridge als Kunsthistoriker berühmt und inzwischen alt geworden, erzählt seinem ehemaligen Studenten und Freund Oliver von einem rätselhaften Bildnis, das er vor Jahrzehnten erwarb und welches seitdem sein Leben beeinflusst und beeinträchtigt. Es entstand 1797 und zeigt eine venezianische Karnevalsgesellschaft. Verkleidete Personen tummeln sich in und vor Palästen und Kanälen – ein eigentlich unverfängliches, ja triviales Motiv, das hier jedoch eine unheimliche Sogwirkung auf den Betrachter ausübt.

Parmitter kennt die Geschichte des Gemäldes, seit ihn die Gräfin von Hawdon darüber in Kenntnis setzte. Sie hatte in ihrer Jugend Lawrence, den Grafen, kennen und lieben gelernt. Doch der Edelmann hatte bereits der schönen Clarissa Vilgo die Ehe versprochen. Von ihrem Bräutigam sitzen gelassen, schwor sie bittere Rache. Zur Hochzeit schickte sie dem Paar besagtes Bild, das die Gräfin sofort in Angst und Schrecken versetzte. Als sie mit ihrem Gatten wenig später eine Italienreise unternahm, verschwand dieser in Venedig unter mysteriösen Umständen. Kurz darauf musste die Gräfin entsetzt feststellen, dass sich das Gemälde selbstständig um eine Szene ergänzt hatte, die ihren Ehemann als hilfloses Opfer einer Entführung zeigte.

Die böse Clarissa ist längst tot, aber ihr Geist scheint das Bildnis weiterhin zu beleben. Parmitter spürt seinen unheilvollen Einfluss, und auch Oliver ist nicht immun. Obwohl Clarissas Rache vollendet wurde, blieb ihr Zorn ungebrochen. Er richtet sich nunmehr gegen die Besitzer des Gemäldes, wie Parmitter und später Oliver zu ihrem Leidwesen erfahren müssen …

_Schaurig schöner Grusel ist zeitlos_

Die „gotische“ Geistergeschichte ist ein Kind des 18. Jahrhunderts. Mit ihrer Vorliebe für offensiv schaurige Schauplätze wie Burgruinen, Friedhöfe oder verwunschene Landhäuser konnte sie nicht nur die zeitgenössischen Leser fesseln. Formal und inhaltlich einer angenehm schauerlichen Vergangenheit zugewandt, fand sie ihr Publikum auch im 19. und frühen 20. Jahrhundert, zumal sich wahre Meister der Phantastik ihrer annahmen.

Einer der größten Geisterbeschwörer der Schriftsteller-Zunft war Montague Rhodes James (1862-1936). Seine gleichzeitig schnörkellosen und wunderbar ziselierten, auf den größtmöglichen Effekt hinarbeitenden, nie rührseligen oder abschweifenden und vor allem von durchweg bösartigen Gespenstern bevölkerten Geschichten haben bis heute nichts von ihrer Wirkung verloren. Ihr Alter ließ sie nicht verstauben, sondern nostalgisch glänzen.

M. R. James fand bereits zu seinen Lebzeiten zahlreiche Bewunderer und Nachahmer. Es bildete sich eine regelrechte „James-Gang“, die Geistergeschichten seines Stils verfassten. Auch nach dem Tod des Meisters entstanden und entstehen solche Storys. Dass James‘ Einfluss noch heute stark ist, belegt jetzt Susan Hill mit ihrem Kurzroman „Das Gemälde“. Es ist nicht ihr erster Versuch, den Grusel à la James aufleben zu lassen. Zuvor erschienen bereits „The Woman in Black“ (1982; dt. „Die Frau in Schwarz“) und „The Mist in the Mirror“ (1992; dt. „Das Gesicht im Spiegel“).

|Das Böse überlebt seinen Wirt|

Das Wissen um James‘ Definition des Gespenstes als durchweg böse Kreatur ist wichtig zum Verständnis von „Das Gemälde“. Ansonsten irritiert das Konzept eines Geistes, der Verderben sät, obwohl der Grund seines Zorns längst nicht mehr existiert. Clarissa Vigo hat jene erwischt, die sie hasste. Entweder wurde sie darüber so verrückt, dass ihr Hass alle Menschen einschloss, oder sie musste ihren Preis zahlen: Das Instrument ihrer Vergeltung – das titelgebende Gemälde – hat sich ihrer bemächtigt. Nun muss Clarissa ihm auf ewig neue Opfer zutreiben.

Dieses gnadenlose Prinzip hat James mit großem Geschick und gleichzeitig voller Witz immer wieder variiert. Susan Hill belegt, wie gut er darin war, wobei dies garantiert unfreiwillig geschieht: „Das Gemälde“ bedient sich der typischen Elemente einer James-Geistergeschichte, ohne jedoch deren Geschlossenheit und vor allem Wirkung jemals zu erreichen.

Hauptsächlich verursacht dies ein Plot, der höchstens eine Kurzgeschichte tragen könnte. Selbst ein Kurzroman wiegt zu schwer für die Grundidee, die Hill deshalb doppelt erzählt: Hat Theo Parmitter gerade von seinen Erlebnissen mit dem Gemälde berichtet, schließt sich die sehr ähnliche Geschichte der Gräfin von Hawdon an. Hill fabuliert über Personen und Ereignisse, die dem zentralen Element – dem Gemälde – nichts Wesentliches beizutragen haben. Der Bericht der Gräfin ließe sich problemlos mit der Erzählung Parmitters verschmelzen. Dann könnte die Autorin allerdings keinen Text vorlegen, der sich zu einem eigenen Buch binden ließe.

|Stimmung ist nicht alles|

Keinem kurzen Roman bekommt es, wenn die Handlung im Mittelteil auf der Stelle tritt. „Das Gemälde“ ist auch sonst keine Geschichte, die fesseln oder gar erschrecken kann. Als Leser bewundert man Hills handwerkliches Geschick, mit der sie eine klassische Erzählform aufleben lässt. Die Autorin lässt Feuer prasseln, während vor dem Fenster Herbststürme heulen; es knarrt und wispert in alten, großen, nur scheinbar leeren Häusern. Wenn das Böse zuschlägt, geschieht dies stets ein wenig außerhalb des Blickfelds, sodass grausige Wahrheit und Täuschung eine trübe, die Unsicherheit fördernde Mischung eingehen.

Was nützt jedoch alle Atmosphäre, wenn ihr keine angemessene Handlung zu Grunde liegt? Das Grauen eines Gemäldes, das seine Opfer abbildet, teilt sich dem Leser nur bedingt mit. Die mehrfache Wiederholung dieses Effektes wirkt zusätzlich kontraproduktiv. Hinzu kommt der Verlauf einer Handlung, die jeglicher Überraschung abhold ist. Es kommt in dieser Geschichte, wie es kommen muss aber nicht müsste, würde Hill mit eigenen Einfällen vom Weg abweichen. James konnte dies, und er tat es gern. Vor allem verkniff er sich jene Sentimentalitäten, die Hill einfließen lässt, die hier ihrem zweiten Vorbild Reverenz erweisen möchte: Daphne du Maurier (1907-1989), deren mit Gefühlen und Gefühlsduseligkeiten prall gestopftes Hauptwerk „Rebecca“ (1938) Hill 1993 mit „Mrs. de Winter“ (dt. „Rebeccas Vermächtnis“) fortsetzte.

Doch James und du Maurier passen nicht zusammen. „Das Gemälde“ ist eine formal gelungene und (auch in der Übersetzung) gut lesbare Fingerübung, die inhaltlich keinen Eindruck hinterlässt. Was bleibt, ist ein gebundenes Bändchen, das wohl (schon in seiner englischen Ausgabe) vor allem als hübsches aber kostengünstiges Geschenk – das Buch zum Tee-Service? – konzipiert wurde.

_Autorin:_

Susan Hill wurde 1942 im englischen Scarborough, North Yorkshire, geboren. Die Familie zog Ende der 1950er Jahre nach Coventry um. Hill studierte am King’s College in London Englisch. Noch bevor sie 1963 ihren Abschluss machte, veröffentlichte sie 1961 ihren Roman-Erstling „The Enclosure“, der aufgrund seiner sexuellen Offenheit großes Aufsehen erregte.

Hill arbeitete ab 1963 als Journalistin. In den 1970er Jahren heiratete sie, gründete eine Familie und etablierte sich als Autorin. Ihr mehrfach preisgekröntes Werk schließt „hohe“ Literatur ebenso ein wie Kriminalromane (darunter eine mehrbändige, auch in Deutschland erfolgreiche Serie um den Polizeibeamten Simon Serailler), Geistergeschichten, Kinderbücher oder Autobiografien.

Jährlich erscheint durchschnittlich ein neuer Titel, den Hill seit 1998 meist in ihrem eigenen Verlag „Long Barn Books“ herausbringt. Die Autorin lebt und arbeitet heute in Cotswold, einem Distrikt der englischen Grafschaft Gloucestershire.

|Hardcover: 158 Seiten
Originaltitel: The Man in the Picture. A Ghost Story (London : Profile Books 2007)
Übersetzung: Susanne Aeckerle
Deutsche Erstausgabe (geb.): Oktober 2009 (Knaur Verlag/Nr. 66350)
ISBN-13: 978-3-426-66350-9|
[www.droemer-knaur.de]http://www.droemer-knaur.de
[www.susan-hill.com]http://www.susan-hill.com

_Susan Hill bei |Buchwurm.info|:_
[„Der Menschen dunkles Sehnen“ 1698
[„Des Abends eisige Stille“ 3889
[„Der Seele schwarzer Abgrund“ 5348
[„Der Kampf um Gullywith“ 5954

Andrews, Ilona – Duell der Schatten (Stadt der Finsternis 03)

_Stadt der Finsternis:_
Band 1: [„Die Nacht der Magie“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=5963
Band 2: [„Die dunkle Flut“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6134
Band 3: _Duell der Schatten_

Wenn eine amerikanische Großstadt phasenweise von Wellen der Magie heimgesucht wird, kann man davon ausgehen, dass dort einiges los ist. Neben gelegentlichen Gästen wird das düstere Atlanta in Ilona Andrews‘ Reihe „Stadt der Finsternis“ von einer Menge übernatürlicher Wesen bewohnt. Zum Beispiel von den Gestaltwandlern, deren Rudel das zweitgrößte in Nordamerika ist. Grund genug für Feinde dieser Werwesen, Atlanta ins Visier zu nehmen …

_Nach den aufregenden_ Ereignissen im letzten Band ist ein wenig Ruhe in Kate Daniels Leben eingekehrt. Allerdings nicht für lange. Ein Gestaltwandler wird bestialisch ermordet, doch als sie den Tatort untersuchen will, wird sie von einigen Werwesen aufgehalten. Jim, ihr einstiger Partner aus Söldnerzeiten, hält sie auf. Wenig später stellt sie fest, dass er nicht nur ihre Ermittlungen behindert hat, sondern den Mord auch seinem Vorgesetzten Curran, dem Alphatier des Rudels und Kates liebstem Feind, verheimlicht. Ein solches Verhalten ist verboten und Jim begibt sich damit in Lebensgefahr.

Doch bevor Kate sich weiter damit auseinander setzen kann, hält ein anderes Ereignis sie in Atem. Der junge Werwolf Derek scheint in eine merkwürdige Sache verwickelt zu sein, die mit den Midnight Games – Gladiatorenkämpfe mit Entertainmentcharakter – in Verbindung steht. Als Saiman, ein alter Bekannter, sie dazu einlädt, bei einem dieser Games ihre Begleiterin zu sein, nutzt sie die Gelegenheit, um sich um zu schauen. Sie erfährt, dass sich Derek mit einem Mädchen aus einem der Kampfgruppen treffen will. Dabei hat er sich allerdings ausgerechnet ein Mädchen von den Reapern, einer seltsamen, hochgefährlichen Truppe, ausgesucht. Als Derek wenig später schwerverletzt in einem Hinterhof gefunden wird, hat Kate den Verdacht, dass die Reaper auch an den Mord an dem Gestaltwandler verwickelt sein könnten. Ihre Ermittlungen führen sie zurück in die Kampfarena, wo sie ihre Jugend verbracht hat. Gleichzeitig schlägt sie sich auf Jims Seite und hintergeht damit Curran, der nicht gerade begeistert ist, als er davon erfährt …

_Der zweite Band_ der Reihe hat bei der Handlung etwas geschwächelt, doch „Duell der Schatten“ lässt diesen Makel schnell vergessen. Die Handlung in dieser Geschichte ist gut konstruiert, rasant erzählt und spannend. Obwohl es auch dieses Mal Ränke und Verwicklungen gibt, konzentriert sich das Autorenduo Andrews auf die Haupthandlung, also der Aufklärung des Mordfalls und des Anschlags auf Derek. Dadurch wirkt die Geschichte schön kompakt und hat einen definierten Anfang und Schluss. Auf eine gewisse Nebenhandlung muss man trotzdem nicht verzichten: Die Hassliebe zwischen Kate und Curran bekommt weiteren Zündstoff und endet in einem viel versprechenden Cliffhanger. Die Autoren steigern die Spannung zwischen den beiden, schließen aber nicht aus, dass aus dem Hass eines Tages Liebe wird. Trotzdem wird die Geschichte angenehm kitschfrei gehalten. Vielmehr nutzen sie den Handlungsstrang, um die innere Zerrissenheit ihrer Hauptfigur zu zeigen.

Kate Daniels ist zwar auf der einen Seite eine toughe, junge Frau, die ihr eigenes Geld verdient und keine Angst kennt. Auf der anderen Seite hat sie allerdings Schwierigkeiten, anderen Menschen zu vertrauen oder sich gar auf sie einzulassen. Trotz ihrer großen Klappe schimmern diese Probleme immer wieder durch und sie spielt sie nicht herunter. Dadurch wirkt sie vielschichtig und sympathisch, was durch die Ich-Perspektive, aus der sie erzählt, noch verstärkt wird. Sehr angenehm ist darüber hinaus, dass Ilona und Andrew Gordon, die Genies hinter dem Synonym Ilona Andrews, darauf verzichten, ihrer Protagonistin einen Begleiter an die Seite zu stellen, der sie den Verstand verlieren lässt. Im Gegenteil behält Kate in Currans Nähe einen kühlen Kopf und wenn es doch mal etwas heißer wird, wirkt es trotzdem noch authentisch.

Ein weiterer, nicht zu verachtender Pluspunkt ist der freche Schreibstil. Kate nimmt kein Blatt vor den Mund. Das Buch ist voller funkensprühender Dialoge, Witzeleien, derben Ausdrücken, Redewendungen und Sprichwörtern, die der Übersetzer gut ins Deutsche überträgt. Mit komödiantischen Vampirromanen wie denen von Mary Janice Davidson hat die Reihe trotzdem nichts zu tun. Obwohl die Geschichte sicherlich eher Frauen als Männer anspricht, ist sie doch kein simpler Frauenroman. Dafür ist die Sprache zu ausgefeilt, zu sarkastisch und streckenweise auch zu düster und martialisch – was aber kein Nachteil ist, wenn man mit Frauenromanen nicht viel anfangen kann.

_“Duell der Schatten“_ ist bislang der Höhepunkt der Reihe. Die Autoren haben die Anfängerfehler der ersten Bände ausgemerzt und präsentieren sich in Bestform. Die Handlung ist spannend und frei von unnötigem Ballast, die Hauptperson glänzt einmal mehr und der Schreibstil verbindet alles zu einem tollen Fantasyspektakel.

|Broschiert: 336 Seiten
Originaltitel: Magic Strikes
Deutsch von Jochen Schwarzer
ISBN-13: 978-3802582196|
http://www.egmont-lyx.de

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Nix, Garth – Goldener Sonntag (Die Schlüssel zum Königreich 7)

[„Schwarzer Montag“ 3719 (Die Schlüssel zum Königreich 1)
[„Schwarzer Montag“ 3172 (Hörbuch)
[„Grimmiger Dienstag“ 3725 (Die Schlüssel zum Königreich 2)
[„Grimmiger Dienstag“ 4528 (Hörbuch)
[„Kalter Mittwoch“ 4242 (Die Schlüssel zum Königreich 3)
[„Kalter Mittwoch“ 5101 (Hörbuch)
[„Rauer Donnerstag“ 4831 (Die Schlüssel zum Königreich 4)
[„Rauer Donnerstag“ 5051 (Hörbuch)
[„Listiger Freitag“ 5626 (Die Schlüssel zum Königreich 5)
[„Mächtiger Samstag“]http://www.buchwurm.info/REDAKTION/review/book.php?id__book=5790&letter=M (Die Schlüssel zum Königreich 6)

Arthur ist es tatsächlich gelungen, Erhabene Samstag den sechsten Schlüssel abzunehmen. Allerdings befindet er sich trotzdem in einer äußerst prekären Lage, nämlich im freien Fall mit der Option, demnächst auf dem Stahlgerüst von Samstags Turm aufzuschlagen. Zwar kann er das mit Hilfe des sechsten Schlüssels verhindern, kommt aber sogleich vom Regen in die Traufe.

Der sechste Teil des Vermächtnisses wird dabei von Arthur getrennt und trifft schließlich auf Susi Türkisblau, die in Gefangenschaft geraten und gerade dabei ist, ihren Bewacher zum Überlaufen zu überreden. Gemeinsam machen die Drei sich auf den Weg zurück zum Großen Labyrinth, wo sich Dame Primus aufhält, die Susi prompt einen neuen Auftrag aufhalst. Einen, der noch halsbrecherischer ist als das, was Susi gerade hinter sich hat …

Blatt steht derweil Schlange, um Trinkwasser zu besorgen. Arthur hat seine Stadt zwar vorübergehend aus der Zeit genommen, konnte den Abwurf der mikronuklearen Bombe dadurch aber nicht endgültig verhindern. Blatts Versuch, den Schläfern in Lady Freitags Klinik zu helfen, endet allerdings damit, dass sie samt einer militärischen Eskorte einem seltsamen Geschöpf mit einer Menge Tentakeln in die Arme läuft …

_Neuzugänge unter den_ Charakteren sind diesmal nur zwei zu verzeichnen.

Giac, zauberkundiger Zaungast unter Lady Samstags Befehl, ist dabei kaum als eigene Person zu bezeichnen, aber er ist wichtig als Führer innerhalb von Samstags Turm.

Lord Sonntag ist Arthurs letzter und mächtigster Gegenspieler. Und genau als solcher ist er auch dargestellt: Er macht sich nicht die Mühe, sich mit Strategie und Planung aufzuhalten, sondern setzt einfach die geballte Macht des siebten Schlüssels gegen Arthur ein, um ihn dazu zu bringen, ihm die bereits eroberten Schlüssel auszuhändigen. Nicht, weil Lord Sonntag besonderen Wert auf noch mehr Macht legt, sondern damit er das aus den Fugen geratene Haus wieder in seinen Ursprungsstatus zurückversetzen kann und dann endlich seine Ruhe hat. Im Grunde will Lord Sonntag nämlich nur eines: sich um seinen Garten kümmern!

Tatsächlich ist Lord Sonntag ein würdiger Gegenspieler für Arthur, der trotz seiner eher direkten Vorgehensweise durchaus mit Erhabene Samstag mithalten kann. Denn obwohl er sich hauptsächlich auf die Macht seines Schlüssels verlässt, ist er durchaus kein tumber Kraftprotz, sondern versucht auch mit anderen Mitteln, sein Ziel zu erreichen.

Sein Pech, dass er nicht wirklich die Muße hat, sich auf sein Problem mit Arthur zu konzentrieren. Denn in diesem letzten Band geht es schlicht drunter und drüber.

Nachdem Erhabene Samstag bereits im letzten Band die Unvergleichlichen Gärten gestürmt hat, folgt ihr nun der Pfeiffer dicht auf den Fersen. Da auch Dame Primus sich anschickt, ihre Armee dorthin zu führen, geht bald jegliche Übersicht, wer nun eigentlich gerade gegen wen kämpft, verloren. Außerdem dringt das Nichts immer weiter vor und hat inzwischen das Mittlere Haus erreicht, in der Vordertür wimmelt es von Nichtlingen, sodass der Zugang zu Arthurs Welt versperrt ist.

Die Entscheidung fällt letztlich im Elysium, dem Zentrum der Gärten.

Bis es so weit ist, müssen natürlich erst noch einige Verwicklungen überwunden werden. Im Vergleich zu dem wahren Feuerwerk an kuriosen Einfällen, das die ersten Bände auszeichnete, hat sich hier allerdings nicht mehr viel getan. Die nettesten Ideen in diesem Zusammenhang waren Arthurs gelber Stoffelefant und Daisy, ein lebendes Riesengänseblümchen, das auf seinen Wurzeln in der Gegend herum wuselt und sich mit Blatt angefreundet hat. Dagegen fand ich Arthurs unfreiwilligen Abstecher in einen Krieg zwischen den Riesenheuschrecken eines fremden sekundären Reiches eher merkwürdig. Er fügte sich irgendwie nicht recht ins Gesamtbild des Buches und erschien mir auch ein wenig überflüssig. Am meisten gestört haben mich allerdings die Schilderungen im Zusammenhang mit dem Atombombenabwurf. Natürlich will der Leser auch wissen, wie es denn nach Arthurs Zeitexperiment mit seiner Heimatwelt weiter gegangen ist, und vielleicht ist es ein Fehler, bei einem solchen Buch Realitätsnähe zu erwarten, dennoch war der Umgang mit den Folgen des Bombenabwurfs so unrealistisch, dass ich sämtliche Szenen in diesem Zusammenhang als unglaubwürdig, ja lächerlich empfand. Übertreibung als Stilmittel ist ja gut und schön, aber hier fand ich die Übertreibung doch ein wenig übertrieben.

So kam es, dass ich die erste Hälfte nicht annähernd so genossen habe wie die Anfänge des Zyklus. Erst als Dame Primus ihre Armee in Bewegung setzt, nimmt die Geschichte allmählich Fahrt auf, und ab hier strafft sich auch der Spannungsbogen, je weiter sich die Lage zuspitzt. Der Showdown schließlich vereinigt alles, was Rang und Namen hat, und das Ergebnis dieses letzten Duells ist dann eine echte und ausgesprochen geschickt gemachte Überraschung, die mir so gut gefallen hat, dass sie mich für die abwegige Atomsache einigermaßen entschädigen konnte.

Mit anderen Worten, der Abschluss des Zyklus‘ ist stellenweise ein wenig durchwachsen und braucht ein wenig Warmlaufzeit, dann aber findet er noch einmal zu seinem ursprünglichen turbulenten und abwechslungsreichen Flair zurück, um schließlich in ein ausgefallenes und unerwartetes Finale zu münden.

_Unterm Strich sind_ |Die Schlüssel zum Königreich| ein kunterbunter, temporeicher, humorvoller und etwas schräger Jugenbuchzyklus, der in jedem Fall eine Empfehlung verdient, dem es aber auch gut tut, dass er jetzt abgeschlossen ist.

_Garth Nix ist_ gebürtiger Australier und war nach dem Studium in den verschiedensten Bereichen der Buchindustrie tätig, ehe er selbst zu schreiben begann. Aus seiner Feder stammen der Jugendbuchzyklus |Seventh Tower|, die Trilogie |Das alte Königreich| sowie „Shade’s Children“, ein Science-Fiction-Jugendroman, der auf Deutsch bisher nicht erschienen ist.

|Originaltitel: |Lord Sunday|
Aus dem Englischen von Axel Franken
Illustrationen von Daniel Ernle
315 Seiten, gebunden
Empfohlen ab 10 Jahren
ISBN-13: 978-3-431-03810-1|
http://www.ehrenwirth.de/
http://www.garthnix.co.uk/home

Außerdem von Garth Nix auf |Buchwurm.info|:

[„Sabriel“ 1109 (Das alte Königreich 1)
[„Lirael“ 1140 (Das alte Königreich 2)
[„Abhorsen“ 1157 (Das alte Königreich 3)

Bass, Bill / Jefferson, Jon – Eine Hand voll Asche

_Das geschieht:_

Viel Arbeit und Aufregung warten auf Dr. Bill Brockton, Leiter des Anthropologischen Instituts der University of Knoxville im US-Staat Tennessee, der außerdem oft von der Polizei oder den Justizbehörden zu Rate gezogen wird, wenn es gilt, einer durch Verwesung oder anderweitig den normalen Untersuchungsmethoden der Kriminologie entzogenen Leiche das Geheimnis ihres Todes zu entlocken. Als Gründer der berühmt-berüchtigten „Body Farm“, auf deren Gelände das Verrotten von Menschenkörpern studiert wird, ist er darin zum Meister avanciert.

Dr. Edelberto Garcia, der Medical Examiner von Knox County, bittet ihn um Rat in einem möglichen Mordfall. In einem ausgebrannten Autowrack wurde die Leiche von Mary Latham gefunden. Sie wurde womöglich von ihrem Gatten ermordet, doch das Feuer hat offenbar sämtliche Indizien vernichtet. Brockton entdeckt, dass die Frau schon Tage tot war, bevor sie verbrannte, was die Ermittlungsarbeit noch kompliziert, denn der Gatte hat für den in Frage kommenden Zeitraum ein ausgezeichnetes Alibi.

Zunächst als Gefallen beginnt Brockton Nachforschungen für den Strafverteidiger Burt DeVries. Er wurde von seinem Onkel alarmiert, nachdem dieser in der Asche seiner feuerbestatteten Gattin deren künstlichen Kniegelenke vermisste. Brockton soll klären, was in dem Bestattungsinstitut falsch gelaufen ist. Stattdessen kommt er einem anrüchigen aber lukrativen Betrug auf die Spur.

Schließlich wird Brockton von der Vergangenheit eingeholt. Im Vorjahr hatte ein alter Widersacher, der Gerichtsmediziner Garland Hamilton, erst seine Lebensgefährtin umgebracht und dann versucht, Brockton als Mörder zu diskreditieren (s. „Bis auf die Knochen“). Hamilton wurde gefasst und wartete im Untersuchungsgefängnis von Knox County auf seinen Prozess. Jetzt ist er entkommen und spurlos verschwunden; man muss damit rechnen, dass er seine noch offene Rechnung mit Brockton endgültig zu begleichen versucht …

_Scheußlich genug gibts gar nicht_

|O tempora, o mores| … Viele Jahre haben sie ihre wichtige und verantwortungsreife Arbeit im Schutze abgelegener Labors geleistet. Zum Vorschein oder gar ans Licht der Öffentlichkeit gerieten sie höchstens, wenn sie als Sachverständige vor Gericht geladen wurden, wo sie sich so lange mit komplizierten Fachausdrücken artikulierten, bis den Geschworenen die Köpfe schwirrten. Kaum zu glauben, dass ausgerechnet die Zunft der Gerichtsmediziner heutzutage regelrechte Medienstars hervorbringt.

Wie so oft verdanken sie ihren Aufstieg den Medien. In den 1990er Jahren wurde die ehemalige Polizeireporterin Patricia Cornwell mit ihrer Serie um die Gerichtsmedizinerin Kay Scarpetta zur Bestseller-Autorin und folgerichtig zur Wegbereiterin unzähliger vom Erfolg des Themas „inspirierter“ Schriftsteller. Bald wurden Film und vor allem Fernsehen aufmerksam. Spätestens der phänomenale Siegeszug der „CSI“-Serien und ihrer Nachzügler schufen dem jungen Sub-Genre ein solide zementiertes Fundament, auf dem – der Kreis schließt sich – auch die Sachbücher ruhten, mit denen mancher alte Forensiker-Kämpe sich seinen Teil vom Kuchen sicherte.

|Leichen sind sexy|

Zu ihnen gesellte sich 2004 William M. Bass, der zwei Jahre nach einer (ersten) Autobiografie mit seinem Co-Autor Jon Jefferson die Erfahrungen seiner langen Karriere lukrativ trivialisierte. Die Realität dient den Romanen um Dr. Bill Brockton als Vorlage. Sie wird primär dort variiert bzw. vereinfacht, wo es der Handlung dienlich ist. Da das Leben selbst bekanntlich die besten Ideen liefert, werden Bass die Einfälle für weitere Bände der erfolgreich gewordenen Serie sicher nicht ausgehen – für ihn ist quasi Alltag, was den lesenden Laien aus sicherer Entfernung angenehm gruselt.

Denn Leichen faszinieren, wenn man ihrem Anblick gefiltert durch bedrucktes Papier oder die Mattscheibe ausgesetzt wird. Das Interesse am toten Körper ist durchaus verständlich, da der Mensch neugierig ist und wissen möchte, was nach dem unausweichlichen Ende mit ihm geschehen wird. Die Begeisterung über die Leiche als Archiv aus Fleisch, Knochen & Blut, das Informationen über Leben und Tod buchstäblich speichert, wird noch gesteigert, wenn letzterer durch ein Verbrechen verursacht wird. Was Polizei und Justiz verborgen bleibt und den Mörder entkommen lässt, kann der Gerichtsmediziner womöglich dechiffrieren, weil er über die notwendigen Schlüsselkenntnisse verfügt.

Die realiter langwierige und langweilige Routinearbeit im Labor wird dabei gerafft bzw. unterhaltsam aufbereitet. Was eigentlich lange währt, bricht deshalb gern in Gestalt plötzlicher Geistesblitze über einen ohnehin latent genialen Dr. Brockton herein, der sich außerdem auf einen Stab ihm verbundener bis höriger Mitarbeiter und Zuträger stützt, die Recherche- und Laufarbeiten für ihn erledigen, der sich – zum Vorteil der Leserschaft – auf die zentralen Ereignisse konzentrieren kann.

|Heißer Sommer in Tennessee|

Für diejenigen Leser, die von einem Kriminalroman mehr als das Stochern in Leichen und Knochenresten erwarten, zeigt sich genau darin der Schwachpunkt. „Eine Hand voll Asche“ ist ein Thriller ohne straff gespannten roten Faden. Gleich drei Plots sollen für Spannung sorgen, zwischen denen Hauptdarsteller Brockton ruhelos hin und her mäandert. Die Handlung zerfällt in Episoden, die nie wirklich zueinander finden. Sie werden durch die Figur des Dr. Brockton verklammert, der zwar in Gefahr gerät aber niemals den Boden unter den Füßen verliert. Seine inneren und äußeren Konflikte wirken aufgesetzt; sie berühren die recht langweilige Figur kaum. Die dramatischen Ereignisse folgen einschlägigen Klischees und sind niemals wirklich überraschend. Besonders missglückt ist die Wiederkehr des Garland Hamilton, der in einem plump inszenierten Finale wie eine literarische Altlast verklappt wird.

Die Lücken zwischen dem, was eigentlich eine stringente Handlung bilden sollte, füllt Autor Bass mit wissenschaftlich abgespeckten Vorträgen über sein Fachgebiet (s. o.) oder Auszügen aus dem Handbuch für den modernen Feuerbestatter. Im Anhang werden Zeichnungen des menschlichen Skeletts abgebildet, die wohl vor allem dem Leser die Lektüre eines Romans vorgaukeln sollen, aus dem er (oder sie) etwas lernen können. Stattdessen setzt Bass unverhohlen auf den Grusel- und Ekel-Effekt dieser Szenen und hofft, das Durchhängen der Handlung auf diese Weise zu übertünchen.

Wenn alle Stricke reißen, schiebt Bass einen Besuch auf Brocktons „Body Farm“ ein. Die gibt es tatsächlich, und dort verrotten Leichen zum Nutzen von Forschung und Kriminologie unter freiem Himmel, in Tümpeln, Kofferräumen sowie überall dort, wo ihr Studium Rückschlüsse auf reale Todesfälle gestattet. Vor allem die Medien haben den Geisterbahn-Faktor dieses Ortes gierig aufgegriffen und ausgeschlachtet, aber auch William M. Bass, ihr Gründer, nutzt ihn, um die Werbetrommel für die Forensik zu rühren.

|Sie mögen ihn trotzdem|

Was macht die mittelmäßigen Brockton-Krimis so erfolgreich? Wahrscheinlich genau das: Sie erfüllen ihren Unterhaltungszweck ohne Ecken und Kanten, ohne Widerhaken, an denen ein auf feierabendliches Lektürevergnügen geeichter Leser hängenbleiben kann. Freundlich und flüssig spult der Verfasser seine Handlung ab, würzt sie mit gar erschröcklichen aber nie schockierenden Gruseleien und schmeckt das Ergebnis mit freundlich-unverbindlicher „buddy“-Atmosphäre ab, für die Büro-Inventar Miranda, Kumpel Art Bohanan oder Sohn Jeff zuständig sind. Auf diese bewährte Weise kann Jefferson Bass sein Garn geruhsam und vor allem noch lange weiterspinnen!

|Anmerkung|

Wer übrigens meint, Bass habe es übertrieben mit der Schilderung eines Bestatters, der seine tote „Kundschaft“ wie Abfall in seinem Hinterhof stapelt, irrt gewaltig. Die Realität schlägt weiterhin jede Fiktion: Bass erzählt quasi nach, was die schockierte Polizei 2002 auf dem Gelände des Tri-State-Krematoriums im US-Staat Georgia entdeckte – ein Fall, der inzwischen u. a. für die TV-Serie „CSI Las Vegas“ aufgegriffen wurde.

_Autor/en:_

William M. Bass (III.) wurde 1928 in Staunton (US-Staat Virginia) geboren. Er studierte Psychologie an der University of Virginia. Nach seinem Abschluss 1951 leistete Bass seinen Wehrdienst bei der US Army. 1953 ging er an die University of Kentucky und studierte Anthropologie; den Doktortitel in diesem Fach verlieh ihm 1961 die University of Pennsylvania. Bass wechselte ins Lehrfach. Zwischen 1960 und 1971 lehrte er an der University of Kansas, bevor ihn die University of Tennessee die Leitung des Anthropologischen Fachbereichs übertrug. Bis zu seiner Emeritierung (1995) hatte Bass diese Position inne; darüber hinaus war er von 1992 bis 1994 Direktor des „Forensic Anthropology Center“.

Seine einschlägigen Kenntnisse ließen Bass zum oft frequentierten Berater des FBI avancieren, der an der Lösung zahlreicher Kriminalfälle beteiligt war. Vor allem dieser Aspekt seiner Forschertätigkeit (sowie natürlich sein Amt als Leiter der Body Farm) machten Bass für die Medien interessant. Das verstärkte sich 2003, nachdem Bass unter dem Titel „Death’s Acre“ erfolgreich seine Memoiren (dt. „Der Knochenleser“) veröffentlichte. Er hatte sie gemeinsam mit dem Journalisten und Schriftsteller Jon Jefferson geschrieben. (Eine „Fortsetzung“ erschien 2007.)

Mit Jefferson als Co-Autor (aber wohl unter dessen Federführung) verfasste Bass ab 2006 als „Jefferson Bass“ eine Serie von Kriminalromanen um den forensischen Anthropologen Dr. Bill Brockton – die Verfasser machen keinen Hehl daraus, an welches reale Vorbild sich diese Figur anlehnt -, der unter Einsatz jenes Leichenlabor-Ambientes, welches sich dank Patricia Cornwell, Kathy Reichs und „CSI“ großer Publikumsbeliebtheit erfreut, eigentlich unmögliche Fälle löst.

Über „Jefferson Bass“ informiert diese Website: [www.jeffersonbass.com]http://www.jeffersonbass.com.

|Taschenbuch: 349 Seiten
Originaltitel: The Devil’s Bones (New York : William Morrow/HarperCollins 2008)
Übersetzung: Elvira Willems
Deutsche Erstausgabe: Juni 2009: (Goldmann Verlag/TB Nr. 45920)
ISBN-13: 978-3-442-45920-9|
[www.goldmann-verlag.de]http://www.goldmann-verlag.de

_Jefferson und Bass bei |Buchwurm.info|:_
[„Der Knochenleser“ 465

Fallon, Jennifer – Kristall des Chaos, Der (Gezeitenstern-Saga 4)

Band 1: [„Der unsterbliche Prinz“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=4899
Band 2: [„Die Götter von Amyranhta“ 5305
Band 3: [„Der Palast der verlorenen Träume“ 5955

Arkady ist ziemlich geschockt. Ihr Vater, den sie für tot gehalten hatte, sitzt in Wahrheit im Gefängnis, um genau zu sein in der Zelle neben ihr. Natürlich ist Arkady klar, dass Jaxyn ihren Vater dazu benutzen wird, sie zu erpressen, doch sie ist fest entschlossen, das zu verhindern.

Ein Glück für beide, dass Jaxyn hauptsächlich damit beschäftigt ist, die Eroberung von Caelum zu planen. Sein Plan, die Binnenseen zufrieren zu lassen, um das Nachbarland über das Eis hinweg anzugreifen, scheint wunderbar zu klappen … zumindest zu Anfang.

Am anderen Ufer, in Caelum, ist Stellan Desean derweil mit einem Balanceakt beschäftigt. Er weiß, dass die Truppen von Glaeba Caelum weit überlegen sind, doch wie bringt man eine Horde arroganter Gezeitenfürsten dazu, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, ohne zu verraten, dass man ihre Identität kennt? Und wie schleust man eine Familie Arks aus dem Land, wenn alle Transportwege abgeschnitten sind?

Derweil sind Declan Hawkes, Cayal und Kentravyon auf dem Weg nach Norden; Declan, um Arkady zu finden, die beiden anderen, um endlich den Kristall des Chaos ausfindig zu machen und – sehr zu Cayals Unwillen – Elyssa zur Mithilfe bei ihrem Vorhaben zu überreden …

_Bezüglich der Charakterzeichnung_ tut sich in diesem Band so gut wie nichts Neues mehr. Einziger Neuzugang ist Kentravyon, der zum ersten Mal persönlich auftaucht. Kentravyon ist einer der ältesten Gezeitenfürsten und wird von den anderen ständig als Irrer bezeichnet. Mir kam er allerdings nicht wahnsinniger vor als mancher andere in diesem Haufen. Abgesehen von der abgedrehten Art, wie er auf manche Dinge reagiert – zum Beispiel das Lindern von Schmerzen, indem er die Verletzten tötet – wirkt er ganz normal und in vielerlei Hinsicht wesentlich vernünftiger und menschlicher als Elyssas Sippschaft. Sprich, er ist ein genauso widersprüchlicher Kerl wie Cayal, nur besser gelaunt. Was die Tiefe der Darstellung angeht, kann Kentravyon jedoch nicht mit dem mithalten, was die Autorin im ersten Band des Zyklus‘ für Cayal aufgewendet hat.

Auch eine Weiterentwicklung vorhandener Charaktere gibt es hier nicht. Sprich, die Autorin hat sich nahezu ganz auf die Handlung konzentriert.

Die besteht nicht nur aus den oben genannten Strängen. Im Laufe der Ereignisse trennt Declan sich von Cayal und Kentravyon, und dann gibt es auch noch Stränge um Boots, Warlock und Tiji. Sie alle einigermaßen gleichmäßig voran zu treiben macht häufige Wechsel zwischen den einzelnen Fäden notwendig, was zwangsläufig die Gesamtentwicklung bremst. So kommt es, dass die Handlung erst Fahrt aufnimmt, als sich letztlich mehr oder weniger alle auf den Weg nach Jelidien gemacht haben.

Leider kann ich nicht sagen, dass die Sache wirklich richtig spannend geworden wäre. Die Bemühungen der Autorin, im Laufe der Handlung die Spannungsschraube hoch zu drehen, sei es durch den Krieg zwischen Caelum und Glaeba oder durch die Entdeckung von Boots‘ Versteck, brachten nicht so recht das erwünschte Ergebnis.

Ähnliches gilt für die Auflösung des Plots: Obwohl tatsächlich durch die vielen Personen und ihre unterschiedlichen Ziele bis zum Schluss nicht klar war, wie die Sache ausgehen würde, kann ich nicht sagen, dass ich mir sozusagen die Finger abgekaut hätte, und trotz des recht bombastischen Showdowns sowie des extravaganten Ergebnisses empfand ich das Ende ein wenig unbefriedigend. Niah war ein viel versprechendes Persönchen, von dem logischen Knacks ganz abgesehen.

Interessant fand ich dagegen Kontravyons Erklärungen im Zusammenhang mit dem Kristall des Chaos sowie Lukys‘ Ratte Coron, auch wenn dadurch letztlich die Frage bleibt, wie die ersten der Gezeitenfürsten denn zu Gezeitenfürsten geworden sind.

_Mit anderen Worten_: Auch dieser letzte Band des Zyklus‘ hat nicht gehalten, was der starke Einstieg in den Zyklus versprochen hat. Wie auch dem dritte Band fehlt es ihm ein wenig an Wucht. Da die Charaktere nicht weiterentwickelt und auch nicht vertieft werden, fällt ein wesentlicher Aspekt dessen weg, was den ersten Band so interessant gemacht hat. Und der Versuch, die Lücke durch einen abwechslungsreichen Handlungsverlauf und eine dramatische Zuspitzung am Ende zu schließen, ist nicht gelungen. Selbst der Zeitdruck, unter dem die zweite Gruppe eigentlich steht, wird nicht wirklich deutlich, weil es all diese Unsterblichen in ihrer arroganten Gleichgültigkeit kaum zu kümmern scheint, dass ihnen die Zeit davon läuft. Ein solches Manko konnten selbst Kontravyons interessante Erklärungen nicht mehr ausgleichen. Schade.

_Jennifer Fallon stammt_ aus einer großen Familie mit zwölf Geschwistern. Sie hat in den verschiedensten Jobs gearbeitet, unter anderem als Kaufhausdetektivin, Sporttrainerin und in der Jugendarbeit. Letzteres scheint ihr immer noch nachzuhängen, unter ihrem Dach leben außer drei eigenen Kindern einige obdachlose Jugendliche als Pflegekinder. Schreiben tut sie nebenher. Ihre erste Veröffentlichung war die |Dämonenkind|-Trilogie. Außerdem stammen die Trilogie |Second Sons| sowie |Die Chroniken von Hythria| aus ihrer Feder. Zur Zeit arbeitet die Autorin an ihrem nächsten Zyklus |Rift Runners|, der erste Band soll im Februar 2012 auf Englisch erscheinen.

|Originaltitel: The Chaos Crystal
Ins Deutsche übertragen von Katrin Kremmler und Rene Satzer
569 Seiten
ISBN-13 978-3-802-58245-5|
http://www.jenniferfallon.com
http://www.egmont-lyx.com

_Jennifer Fallon bei |Buchwurm.info|:_

[„Kind der Magie“ 1328 (Dämonenkind Band 1)
[„Kind der Götter“ 1332 (Dämonenkind Band 2)
[„Kind des Schicksals“ 1985 (Dämonenkind Band 3)
[„Erbin des Throns“ 2877 (Die Chroniken von Hythria 1)
[„Ritter des Throns“ 3327 (Die Chroniken von Hythria 2)
[„Herrscher des Throns“ 3878 (Die Chroniken von Hythria 3)

Blazon, Nina – Schattenauge

Fantasy, Historisches, Jugendbücher mit einem Schuss Mystery – Nina Blazon hat bewiesen, dass man sie nicht auf ein Genre eingrenzen kann. Mit ihrem neusten Streich „Schattenauge“ erobert sie das Urban-Fantasy-Genre auf ihre ganz eigene Art, denn bekannte Zutaten wie Vampire und Werwölfe muss man in ihrem Jugendroman lange suchen.

_Die sechzehnjährige Zoë_ liebt es, nachts durch die Clubs zu ziehen und sich den Frust von der Seele zu tanzen. Ihr Freund hat sie mit ihrer besten Freundin betrogen, sie muss ständig auf ihren kleinen Bruder aufpassen, hat Streit mit ihrer Mutter – Gründe hat sie genug. Doch plötzlich kommt noch etwas anderes hinzu. Blackouts, sie fühlt sich merkwürdig, verliert die Kontrolle über ihr Verhalten.

Etwa zur gleichen Zeit lernt sie den coolen Irves und dessen schweigsamen Freund Gil, der ihr ein wenig unheimlich ist, kennen. Als Gil sie warnt, sich in bestimmte Teile der Stadt zu begeben, beginnt sie, Fragen zu stellen, die er ihr nur sehr ungern beantwortet. Doch sie bohrt weiter und findet bald heraus, dass sie mit ihren Blackouts nicht alleine ist – und dass etwas Ungeheuerliches mit ihr passiert. Es scheint, als habe sie den „Schatten“ und könne sich in ein Raubtier verwandeln und als Mensch dessen Instinkte nutzen. Es gibt noch mehr von den Panthera, ihrer Art, in der Stadt, doch sie meiden einander eigentlich. Als mehrere Panthera grausam ermordet werden, stellt sich Gil, Zoë und Irves die Frage, wer es war. Jemand aus ihrem Kreis oder jemand ganz Anderes, von dem niemand etwas weiß?

_Nina Blazons Bücher_ spielen häufig in Welten, die sie selbst kreiert hat und die bereits bestehenden nur wenig ähneln. Dabei zeichnet sie sich durch einen großen Ideenreichtum aus und erfindet übernatürliche Wesen, von denen man vorher noch nie gelesen hat. In „Schattenauge“ erschafft sie allerdings keine neue Welt, sondern vermischt ihre Fantasie mit der realen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Angesiedelt in einer ungenannten Großstadt, ist die Kulisse atmosphärisch und urban, cool und düster. Blazon schafft es, die reale Welt so einzufangen, dass sie etwas Mystisches, etwas Besonderes hat.

Etwas Besonderes haben auch die Figuren in der Geschichte. Das beschränkt sich nicht nur auf die Menschen, die einen „Schatten“ haben. Auch alle anderen Charaktere sind sehr sorgfältig ausgearbeitet. Jede Person hat etwas Spezielles, was sie von anderen abhebt. Mit wenigen Worten schafft es die Autorin, die Persönlichkeiten von selbst sehr unwichtigen Charakteren genau abzustecken. Am herausragendsten sind natürlich Zoë und Gil. Beide treten in der Geschichte als Erzähler auf. Zoë berichtet, obwohl sie im Mittelpunkt steht, nur aus der dritten Person, Gil aus der Ich-Perspektive. Die Distanz, die dadurch zu Zoë aufgebaut wird, passt zu ihrer verschlossenen Persönlichkeit. Gil hingegen erlaubt einen großzügigen Einblick in sein Leben mit dem „Schatten“, in Zoës Entwicklung und die Morde in der Stadt. Seine Gefühle und Gedanken werden weiter ausgeführt als die von Zoë. Trotzdem sind beide Perspektiven, die sich abwechseln, ähnlich stark, da die Erzähler mitreißend und interessant sind.

Aus den Blickwinkeln beider Hauptfiguren ergibt sich eine überaus packende Geschichte voller Wendungen, Geheimnisse und falschen Spuren. Obwohl das Buch mit fast 500 Seiten nicht gerade dünn ist, hält Blazon die Spannung bis zum Ende aufrecht, steigert sie sogar noch. Das Finale, das sich der Mördersuche anschließt, kann sich ebenfalls sehen lassen. Es ist überraschend, doch wenn man zurückschaut, gibt es genug logische Hinweise darauf. Man wusste sie als Leser nur nicht zu deuten.

Ähnlich gehaltvoll wie Charaktere, Kulisse und Handlung ist auch Blazons Schreibstil. Genau wie ihre anderen Büchern zeichnet sich „Schattenauge“ durch die Eleganz der einfachen Sprache aus. Zoës Abschnitte sind etwas nüchterner gehalten, aber nicht weniger fesselnd. Gils Teile der Geschichte hingegen sind wesentlich greifbarer, da sie aus der Ich-Perspektive erzählt werden. Die Autorin setzt dabei auf eine lebendige Sprache. Sie flechtet halbfertige Gedankengänge, Humor und gedachte Erwiderungen ein, die Gil als Person noch vielschichtiger aussehen lassen.

_“Schattenauge“ ist ein_ Urban-Fantasy-Buch für ältere Jugendliche, das in allen Punkten überzeugt. Die Handlung ist spannend, die Kulisse überaus ansprechend und mit Zoë und Gil sind Nina Blazon zwei außergewöhnliche Helden gelungen. Wer [„Faunblut“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=5463 von der Autorin mochte, wird „Schattenauge“ lieben.

|Gebunden: 477 Seiten
ISBN-13: 978-3473353149|
http://www.ravensburger.de
http://www.ninablazon.de

_Nina Blazon bei |Buchwurm.info|:_
[„Im Bann des Fluchträgers“ (Woran-Saga 1) 2350
[„Im Labyrinth der alten Könige“ (Woran-Saga 2) 2365
[„Im Reich des Glasvolks“ (Woran-Saga 3) 2369
[„Die Reise nach Yndalamor“ (Die Taverne am Rande der Welten 1) 3463
[„Im Land der Tajumeeren“ (Die Taverne am Rande der Welten 2 3980
[„Das Königreich der Kitsune“ (Die Taverne am Rande der Welten 3) 4725
[„Die Sturmrufer“ (Die Meerland-Chroniken 1) 4180
[„Der Bund der Wölfe“ 2380
[„Die Rückkehr der Zehnten“ 2381
[„Der Spiegel der Königin“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=3203
[„Der Maskenmörder von London“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=3983
[„Die Königsmalerin“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=5207
[„Faunblut“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=5463

Marklund, Liza – Lebenslänglich

Mitten in der Nacht wird Polizistin Nina Hoffman zu einer Adresse gerufen, die ihr unangenehm bekannt vorkommt – ihre ehemals beste Freundin Julia Lindholm wohnt dort mit ihrem Mann David und ihrem Sohn Alexander. Genau in diesem Haus hat ein Mitbewohner einen Schusswechsel gemeldet. Nina und ihr Kollege Andersson sind die ersten Polizisten am Tatort. Als sie die Wohnung der Lindholms betreten, finden sie zunächst David, der erschossen in seinem Bett liegt. Julia hockt apathisch und kaum ansprechbar, aber unverletzt im Badezimmer, vom vierjährigen Alexander fehlt jede Spur. Doch Julia faselt etwas von einer fremden Frau, die ihn mitgenommen habe. Nina muss am Verstand ihrer Freundin zweifeln.

Nur mit knapper Not kann Annika Bengtzon ihre beiden Kinder aus dem brennenden Haus retten. Ihr gesamtes Hab und Gut ist abgebrannt und Annika hat weder Geld noch Papiere bei sich und weiß nicht, wohin sie sich wenden soll. Mitten in der Nacht klingelt sie bei ihrer Freundin Anne, um dort Unterschlupf zu finden, doch diese schmeißt Annika und die Kinder kurzerhand raus. Annika ist völlig verzweifelt, auch ihren Noch-Mann kann sie nicht erreichen, da er bei seiner Geliebten übernachtet. Eine Kollegin von ihr besorgt ihr die nötigsten Klamotten und ein bisschen Geld. Als Annika schließlich selbst der Brandstiftung bezichtigt wird, bricht für sie eine Welt zusammen.

Derweil trauert die Polizei um David Lindholm, der sich bei vielen Fällen als hervorragender Ermittler und Vermittler erwiesen hat. Julia dagegen wird schnell als Tatverdächtige abgestempelt. Trotz ihres desolaten psychischen Zustands kommt sie in Untersuchungshaft und muss fürchten, für den Mord an David und Alexander verurteilt zu werden. Dabei ist Alexander nach wie vor spurlos verschwunden.

Nina Hoffman zweifelt an ihrem Verstand. Was hat ihre Freundin Julia zu dieser Tat getrieben? Und wieso will die Polizei sie unter allen Umständen als Mörderin verurteilen? Auch Annika Bengtzon, eine bekannte Journalistin, bekommt Wind von dem Fall. Da sie selbst unschuldig der Brandstiftung verdächtigt wird, beginnt sie auf eigene Faust Ermittlungen, um Julias Unschuld zu beweisen. Doch die Beweise sind erdrückend. Was ist in der Familie Lindholm bloß vorgefallen?

_Vorschnell verurteilt_

Beim vorliegenden Buch handelt es sich bereits um den siebten Teil in der Annika-Bengtzon-Reihe. Auch wenn Annika als Journalistin arbeitet, ermittelt sie gerne auf eigene Faust. So auch in diesem Fall. Eigentlich hat sie privat genug um die Ohren, wo ihr untreuer Mann Thomas sie gerade verlassen hat und ihr Haus bis auf die Grundmauern nieder gebrannt ist. Zudem ist Annika die Tatverdächtige Nummer 1 und bekommt daher von der Versicherung keine Entschädigung ausgezahlt. Um sich abzulenken, übernimmt sie bei der Zeitung einige Artikel, für die sie im Fall Lindholm recherchieren muss. Schnell ist sie angefixt von Julias Fall und will die Unschuld der armen Frau beweisen. Zunächst muss Annika auf ihre Intuition vertrauen, denn alles spricht gegen Julia, doch nach und nach tauchen Hinweise auf, die nicht ins Bild passen und die vor allem David Lindholm in einem sehr viel schlechteren Licht dastehen lassen, als es der Polizei recht ist.

Ihre einzige Unterstützerin ist zunächst Nina, die einst gut mit Julia befreundet war, die aber nun einsehen muss, dass sie ihre Freundin gar nicht richtig gekannt hat. Nina zieht sich daraufhin zurück, sodass Annika nicht mehr auf ihre Hilfe zählen kann. Dennoch gibt sie nicht auf und findet immer mehr Leichen in David Lindholms Keller. So hatte er bereits zwei Ermittlungsverfahren gegen sich am Hut und war in mehreren Firmen in der Geschäftsleitung tätig. Auch als Vertrauensperson für Straftäter trat David Lindholm auf. Und immer wieder deckt Annika Bengtzon Verbindungen zu Mördern und anderen dubiosen Gestalten auf. Sie dringt immer weiter in Davids Geheimnisse ein, bis ihr spätabends zwei gefährliche Gestalten auflauern und ihr den halben Finger abtrennen – eine Warnung, sich nicht mehr einzumischen. Doch das stachelt Annika Bengtzons Neugierde noch mehr an.

Ihr Noch-Mann Thomas genießt derweil sein neues Leben mit der reichen Geliebten. Er will Annika die Kinder wegnehmen, bemerkt aber bald, dass er doch etwas überfordert von den beiden Kleinen ist. Im Job läuft es hervorragend für Thomas. Er bekommt eine langfristige Anstellung, muss dafür aber einen äußerst heiklen Vorgang abwickeln.

Häppchenweise deckt Annika Bengtzon die Geheimnisse aus Davids Vergangenheit auf. Und so ist der Leser immer animiert, selbst mitzuraten und sich zusammen zu reimen, was David Lindholm wohl auf dem Kerbholz gehabt haben könnte. Doch seine vielschichtigen Verbindungen mag man nicht durchschauen, und auch wenn Liza Marklund sie uns endlich präsentiert, muss man erst einmal genau über alles nachdenken und die Puzzleteile im Kopf selbst nochmal zusammen setzen. Das Buch ist dabei so fesselnd geschrieben, dass ich die knapp 500 Seiten innerhalb von zwei Tagen verschlungen habe, denn ich musste unbedingt wissen, ob Julia wirklich unschuldig ist und was tatsächlich hinter dem Mord an David steckt. Viel besser kann man einen Spannungsbogen kaum zeichnen, als Liza Marklund das hier getan hat.

_Tragische Heldin_

Im Mittelpunkt des Buches steht nicht etwa Nina Hoffman, wie man auf den ersten Seiten noch vermuten könnte, sondern Annika Bengtzon. Nina ist zwar Julias beste Freundin gewesen und auch die erste am Tatort, so dass sie zu Beginn des Buches viel Raum einnimmt, doch dann richtet Liza Marklund ihren Fokus immer mehr auf Annika Bengtzon und ihr Umfeld. Umfeld bedeutet in dem Fall, dass wir vieles über das Verlagsleben und über Thomas erfahren. Annika ist die tragische Heldin in diesem Buch. Sie ist die verlassene Frau, die vor den Scherben ihres Lebens steht. Ihr Mann hat sie betrogen und verlassen und will ihr nun auch noch die Kinder wegnehmen. Darüber hinaus verweigert die Versicherung die Zahlung einer Entschädigung für das abgebrannte Haus, und ihre gute Freundin Anne hat sie sträflich im Stich gelassen.

Am Ende ist Annika die einzige, die an Julias Unschuld glaubt und die intensiv in dem Fall ermittelt. So überführt sie schließlich den wahren Schuldigen und ist zur Stelle, als derjenige sich ins Ausland absetzen will. Hier wird Annika aktiv und verhindert die Flucht des wahren Täters.

Mir gefiel Annika Bengtzon als taffe Journalistin und Mutter im Grunde genommen sehr gut. Sie lässt sich nicht unterkriegen und versteht es, ihre Interessen durchzusetzen. Allerdings trägt Liza Marklund manchmal arg dick auf, denn ganz so dramatisch hätte sie die Ereignisse in Annikas Leben nicht zeichnen müssen, und auch der Showdown im Wald ist schon ziemlich abwegig. Schade fand ich es auch, dass Marklund Nina Hoffman zunächst viel Raum eingesteht, die junge Polizistin zum Ende hin aber nur noch selten erwähnt.

_Zu viele Köche verderben den Brei_

Liza Marklund arbeitet auf vielen Schauplätzen. Die ersten beiden sind die wichtigsten – nämlich der Mord an David Lindholm und der Brand von Annika Bengtzons Haus. Doch dann macht Marklund immer neue Fässer auf, z. B. beschreibt sie in aller Ausführlichkeit Thomas Bengtzons neues Leben bei seiner Geliebten und in seinem neuen Job und sie kommt immer wieder auf Annikas Freundin Anne zurück, die sie in der fraglichen Nacht so rüde abgewiesen hat. Zu allem Überfluss erfahren wir auch noch detailgenau, welch finanzielle Schwierigkeiten es im Verlag gibt, die dazu führen, dass bei der Zeitung zahlreiche Stellen abgebaut werden sollen. Diese Nebenhandlung hat rein gar nichts mit dem eigentlichen Kriminalfall zu tun und lenkt einzig und allein vom Geschehen ab. Annika ist nicht von den Einsparmaßnahmen bedroht und hat damit nichts zu tun. Ich hätte mir daher gewünscht, dass sich Liza Marklund auf das Wesentliche konzentriert. Diese Nebenschauplätze hätte sie deutlich reduzieren müssen.

Leider gibt es ein weiteres Manko: Liza Marklund vermischt ihre eigenen Bücher, so präsentiert sie in großer Ausführlichkeit Details aus vergangenen Büchern. Die Nobel-Morde, um die es im vorausgehenden Buch ging, sind immer noch Thema. Das fand ich arg verwirrend, da ich die anderen Bücher aus dieser Reihe leider nicht kenne. Und da Liza Marklund bereits so viel daraus verrät, lohnt es sich kaum noch, die Bücher im Nachhinein zu lesen. Besser wäre es gewesen, die vergangenen Fälle höchstens am Rande zu erwähnen, um treue Leser der Annika-Bengtzon-Reihe daran zu erinnern und um andere Leser neugierig auf die früheren Fälle zu machen. So verspielt Marklund viel Potenzial, denn ich habe einiges aus dem aktuellen Fall nicht verstanden, bin aber wenig motiviert, die alten Bücher zu lesen, da ich die Auflösung nun bereits kenne.

_Mitreißend_

Nichtsdestotrotz hat mich das Buch einfach mitgerissen. Von Beginn an war ich gefesselt von der Geschichte. Natürlich ahnt man schnell, dass Julia unschuldig ist. Doch was wirklich hinter der Tat steckt, ist so komplex, dass Liza Marklund uns an die Hand nehmen muss, um uns zur Auflösung des Falles zu lotsen. Der Spannungsbogen ist trotz der überflüssigen Nebenschauplätze hervorragend gelungen und auch das Ende des Buches hat es in sich, sodass ich bereits jetzt dem nächsten Fall in der Annika-Bengtzon-Reihe entgegen fiebere.

|Taschenbuch: 496 Seiten
ISBN-13: 978-3499239014
Originaltitel:| Livstid|
Deutsch von Dagmar Lendt und Anne Bubenzer|

Restrepo, Laura – Land der Geister

In Laura Restrepos 2004 in Kolumbien veröffentlichten und jetzt auf deutsch erschienenen Roman „Land der Geister“ geht es um ein Geheimnis – ein durchaus würdiges Thema für eine Erzählung. Aguilar, ein Ex-Literaturprofessor in Bogotá und momentan Tierfutterausfahrer, besucht für ein verlängertes Wochenende seine zwei Söhne aus erster Ehe. Seine jetzige Ehefrau Agustina bleibt derweil allein zu Hause. Und obwohl sie in bester Stimmung ist, als Aguilar aufbricht (sie ist eben dabei, das Wohnzimmer moosgrün zu streichen – eine Farbe, die das Feng-Shui für „Paare wie sie“ empfiehlt), ist sie wie ausgewechselt, als Aguilar nach vier Tagen heimkehrt.

Ein anonymer Anrufer trägt ihm auf, seine Frau aus dem Hotel Wellington abzuholen. Dort findet er sie verwirrt und stumm – kurzum mit psychischem Knacks – vor. Zurück in ihrer Wohnung ändert sich die Situation kaum. Agustina stellt überall Schalen mit Wasser auf und schweigt darüber, was während Aguilars Abwesenheit passiert ist. Dieser wiederum wird vom Gedanken gepeinigt, dass Agustina im Wellington ein Stelldichein mit einem Liebhaber hatte. Doch dann taucht plötzlich Tante Sofi auf, eine verschollene Verwandte Agustinas, die sich ihrer verwirrten Nichte annimmt und sich rührend um sie kümmert. Und so endlich erhält Aguilar erste Einblicke in die Gründe für Agustinas Wahnsinn.

„Land der Geister“ ist ein Roman der Überraschungen und literarischen Winkelzüge, ein Angebot der kolumbianischen Autorin Restrepo zum mitfühlen und mitwundern. Denn das voran gestellte Geheimnis, der seltsame Wahnsinn Agustinas, ist der zentrale Knackpunkt des Romans, an dem sich die gesamte Handlung aufhängt. Dabei geht es nicht nur um Agustina und Aguilar. Vielmehr ist das ungleiche Paar (er – linker Intellektueller, sie – Geldadel, die mit ihrer Familie gebrochen hat) nur der Anlass, um ein breites Panorama zu spannen. So erzählt Restrepo von Agustinas Eltern und Großeltern, beleuchtet deren Lebensumstände und Familien, skizziert Kolumbien in all seiner Widersprüchlichkeit. Und immer wieder unterbricht sie ihre eigenen Erzählfäden, um scheinbar unzusammenhängende Szenen aus verschiedenen Zeiten wie Puzzleteile gegeneinander zu setzen. Nur, um den Leser am Ende erkennen zu lassen, dass all diese kleinen Teile schlussendlich wirklich ein großes Bild ergeben.

Dabei vermutet man als Leser zunächst, dass „Land der Geister“ eine sehr persönliche, sehr kleinteilige Geschichte erzählt – die Geschichte eines Ehepaars oder einer Familie. Wie Aguilar vermutet man den Grund für Agustinas Wahnsinn in einer Affäre, die wohl schief gelaufen ist. Man nimmt an, dass es Restrepos Bestreben ist, Charaktere in ihren Beziehungen zueinander darzustellen – in Liebesbeziehungen, Familienbeziehungen, Abhängigkeiten. Und natürlich ist das tatsächlich ihre Absicht. Doch je länger man liest, desto mehr bricht die Umwelt – Politik, Wirtschaft, Kriminalität – in die Geschichte ein und es wird deutlich, dass die Charaktere nicht unabhängig von dieser Umwelt existieren bzw. existieren können. Was auf der Straße, im Land passiert, beeinflusst Familien und deren Beziehungen und so stellt sich schließlich heraus, dass Agustinas Zustand eben nicht nur eine persönliche Komponente hat.

Denn Restrepos Roman spielt im Bogotà der 1980er Jahre – eine turbulente Zeit für Kolumbien, und zwar nicht im positiven Sinne. Dass das Leben weder einfach noch sicher war, wird an mehreren Stellen deutlich, etwa wenn Charaktere überlegen, ob eine Straße befahrbar ist (Antwort: Nein, denn sie wird von der Guerilla überwacht) oder wenn mitten in der Stadt Bomben explodieren. Zu dieser Zeit befand sich Kolumbien unter dem Einfluss des Medellin-Kartells, einer Drogenorganisation unter Führung von Pablo Escobar, der auch in „Land der Geister“ eine Nebenrolle spielt. Repräsentiert wird die Arbeitsweise des Drogenkartells im Roman allerdings durch Midas MacAlister, einen Ex-Freund von Agustina, der sich aus armen Verhältnissen durch Geldwäsche nach oben gearbeitet hat und nun monetär den alteingesessenen Geldadel des Landes längst überholt hat – eine Tatsache, die ihm ungemeine Befriedigung verschafft. An Midas zeigt Restrepo, wie der Aufstieg um jeden Preis und ohne Gewissen funktioniert, ohne die Figur zum Buhmann zu machen. Er bleibt immer irgendwie sympathisch. Ein echter Gewissenskonflikt für den Leser!

„Land der Geister“ ist allerdings kein einfaches Buch, auch keines, das man in einem Rutsch verschlingen könnte – dafür ist Restrepos Erzählung zu anspruchsvoll und zu dicht. Restrepos Technik, den sie Reportage-Stil nennt, macht das Lesen zu einem besonderen, jedoch auch von Frustrationen geprägten Erlebnis: Es gibt keine Absätze, keine wörtliche Rede und schon gar keine verlässlichen Erzähler. Restrepo schreibt, als würde sie die mündlichen Aussagen ihrer Charaktere stenographieren. Dabei wechselt sie sprunghaft die Perspektive (um vom Ich- zum personalen Erzähler zu wechseln, braucht sie in der Regel nur einen Nebensatz), den Erzähler oder die Zeitform. Lässt man sich auf diese Technik ein, erhält man den Eindruck, die handelnden Figuren erzählten selbst – unverfälscht und damit eben auch fehlerhaft. Gleichzeitig verlangt dieser Stil dem Leser aber auch einiges ab, denn wie in einer mündlichen Erzählung auch gibt es Abschweifungen und Verzögerungen. Um Ermüdungserscheinungen beim Lesen vorzubeugen, empfiehlt es sich daher, sich den Roman in kleinen Dosen zu Gemüte zu führen. Das führt auch dazu, den bis ins letzte geschliffenen Stil der Autorin (der nur eben nicht danach aussieht) besser genießen zu können.

|Taschenbuch: 384 Seiten
ISBN-13: 978-3630621739
Originaltitel:| Delirio|
Deutsch von Elisabeth Müller|
http://www.luchterhand-literaturverlag.de

John Dwight Carr – Das Tagebuch eines Mörders

_Das geschieht:_

Obwohl er sich dank einer Erbschaft schon vor Jahren zur Ruhe setzen konnte, verfolgt der Polizeiarzt Bruce Lightoller noch immer die Arbeit der ehemaligen Kollegen. Zu seinen Freunden gehört Sergeant Herbert McCracken, ein im Kampf gegen das Verbrechen gereifter Haudegen, der nach einer Schießerei mit Gangstern verletzungsbedingt ins beschauliche Princeton nahe San Francisco versetzt wurde.

Aktuell wünscht ihn Lightoller freilich an einen möglichst weit entfernten Ort. Er, der sich einen Namen als Frauenheld gemacht hat, fand in seiner Wohnung die Leiche einer nicht mehr ganz aktuellen Begleiterin: Constance Willard wurde erdrosselt. Panisch hatte Lightoller den Körper aus dem Haus geschafft und auf einer weit entfernten Kohlenhalde vergraben.

Ausgerechnet an diesem Tatort soll Lightoller den Polizistenfreund nun begleiten. Der Arzt ist ratlos: Spielt der erfahrene Kriminalist mit ihm? Fast scheint es so, als McCracken genüsslich die Indizien auflistet, die der „Mörder“ am Fundort der Leiche hinterließ. Dennoch spielt Lightoller das böse Spiel wohl oder übel mit.

Eine Spur führt in die übel beleumundete Spelunke „Walfisch“. Hier residiert der Ganove Cristovao Pulido. Nie konnte man ihm etwas nachweisen und auch dieses Mal muss McCracken das Feld räumen. Er lässt nun durchblicken, dass er Lightoller für verdächtig hält. Dieser steckt in der Falle, als ihm die mysteriöse Schönheit Katrin Vale ein Alibi verschafft, um dessen Falschheit Lightoller genau weiß.

Wieso hilft ihm Katrin? Wer schickt ihm anonyme Drohbriefe, die zur Flucht aus Kalifornien auffordern? Wer war Constance Willard, die offensichtlich ein Doppelleben führte? Gibt McCracken jetzt Ruhe? Als die Antworten endlich kommen, steht zwischen Leben und Tod nur noch Lightollers Tabaksdose …

_Der „doppelte“ John D. Carr_

Vor Überraschungen ist auch der erfahrene Krimileser, zu denen Ihr Rezensent sich zählen darf, nicht gefeit: „Das Tagebuch eines Mörders“ ist ein Roman, der in einer obskuren, längst eingegangenen und in allgemeine Vergessenheit geratenen deutschen Taschenbuch-Reihe erschienen ist. Bereits das Titelbild erweckt wenig Vertrauen; lieblos und ohne Zusammenhang zum Text wurden diverse Klischee-Bildchen minderer Zeichenqualität vereint.

Der Verfassername lässt aufmerken: „John D. Carr“ steht dort. Verständlicherweise setzt man ihn mit |dem| Carr, John Dickson Carr (1906-1977) nämlich, gleich. Allerdings sorgt die Lektüre schon nach wenigen Seiten für Stirnrunzeln. Weder Plot noch Stil gleichen dem, was man von diesem Carr kennt. Auch die inhaltliche Qualität des durchaus unterhaltsamen Werkes lässt in dieser Hinsicht zu wünschen übrig.

Das Internet sorgt für Aufklärung: Hinter diesem John D. Carr verbirgt sich ein Autor namens John Dwight Carr, und der wiederum heißt eigentlich Robert Grün und wurde 1909 in Österreich geboren. Ein Schelm, der Böses dabei denkt …

Grün gehörte zum Heer der meist namenlosen aber aliasreichen Schreiber, die für den Leihbuch- und Groschenheftmarkt der 1950er und 60er Jahre arbeiteten. Für miserable Honorare strickten sie in Windeseile Garne, die oft entsprechend fadenscheinig waren aber ihre Leser fanden. Um seinen Marktwert zu steigern, dachte sich Grün einen Trick aus. Schon damals galt der Prophet im eigenen Land wenig. Spielte eine Geschichte in den USA, gaben Verlag und Leser einem amerikanischen Verfasser den Vorrang. Also gab Grün vor, nur der Übersetzer von Romanen zu sein, die er selbst produzierte; er dachte sich sogar „Originaltitel“ aus. (Absoluter und aus den Fingern gesogener Unsinn ist deshalb der marktschreierische Cover-Aufdruck, dass dieser Roman „mit dem 1. Preis in Amerika ausgezeichnet“ worden sei. Welcher Preis ist damit gemeint? Darüber wird wohlweislich kein Wort verloren …)

|Abenteuer im Krimi-Märchenland|

Nachdem dieser Trick erkannt ist, stellt sich „Das Tagebuch eines Mörders“ als erstaunlich lesbares Werk heraus. Das Kalifornien der späten 1950er Jahre wird zwar aus angelesenen Fakten und USA-Klischees zusammengebastelt, doch genau das trägt zum Reiz der Lektüre bei. Carr kreiert eine zeitlose Kulisse, in die er entsprechend unbekümmert seine turbulente Story platziert.

Die ist definitiv eine Kopie von 1001 „hard-boiled“-Krimis im Geiste Raymond Chandlers und Dashiell Hammetts. Carr verzichtet auf kritische Anmerkungen und Anspielungen, was aufgrund der geografischen Entfernung zwischen Autor und Schauplatz eine kluge Entscheidung ist. Er übernimmt nur die lakonischen Sarkasmen, für die der „harte“ Krimi bekannt geworden ist. Dabei zeigt er echten Sinn für Humor. Sein Witz ist nicht subtil aber trocken, was ihn selbst heute noch funktionieren lässt, wie beispielsweise Carrs eigenwillige Charakterisierung der Gäste des „Walfisch“ zeigt: |“Die Dekolletés aneinandergereiht würden, schätze ich, von Frisco bis Los Angeles reichen … Das männliche Geschlecht ist hauptsächlich durch Typen vertreten, die beweisen, dass Darwin kein Phantast war.“| (S. 29) Vor dem geistigen Auge entsteht umgehend das entsprechende Bild.

|Alles nur geklaut – aber das immerhin gut|

Der eigentliche Plot vom Mörder, der keiner ist, aber sich zu seinem Schrecken an prominenter Position inmitten der Ermittlung wiederfindet, ist ebenfalls nicht neu. Geschickt adaptiert bzw. variiert wie hier funktioniert er auch im Billig-Krimi vorzüglich. Carr versteht es, die Antwort auf die Frage nach Lightollers Schuld so lange wie möglich hinauszuzögern. Ist der zwar leichtfertige aber sympathische Held ein Mörder? Wir können es nicht glauben, weil wir es nicht glauben wollen, doch was sollen wir glauben, nachdem Lightoller die Leiche von Constance Willard verschwinden lassen wollte?

Ebenfalls geschickt in Szene gesetzt ist das Duell zwischen Lightoller und McCracken. Selbstverständlich ist der Kriminalbeamte Klischee pur – schon der Name charakterisiert den eisenharten Gangsterschreck. Gleichzeitig ist er ein aufmerksamer Beobachter. Wenn er Lightoller an der langen Leine zappeln lässt, kann er die Verdachtsmomente jederzeit auflisten. Carr plottet sauber: Unabhängig davon, dass er keine Ahnung vom Arbeitsalltag der US-Polizei hat, schildert er McCracken als akribischen Detektiv, dessen Anschuldigungen stets plausibel sind.

Das abgehobene Geschehen betont eindringlich die schöne aber mysteriöse Katrin Vale. Eine weibliche Figur, die so selbstständig und selbstbewusst ist, erwartet man nicht in einem Routine-Krimi aus chauvinistischer Vergangenheit. Vale ist zwar dem flatterhaften Lightoller nicht abgeneigt. Dennoch ist sie aus deutlich härterem Holz als dieser geschnitzt: wieder eine Überraschung, mit der Carr punkten kann. Kein Wunder, dass Vale sich auch in anderen Carr-Krimis ein Stelldichein gibt!

Langer Rede kurzer Sinn: Sollte „Das Tagebuch eines Mörders“ dem geneigten Leser dieser Zeilen irgendwie, irgendwann in die Finger geraten, kann zur Anschaffung & Lektüre geraten werden.

Taschenbuch: 143 Seiten
Deutsche Erstveröffentlichung: 1959 (Moewig Verlag/Der Moewig-Kriminal-Roman, So. Bd. 37), 111 Seiten, keine ISBN
Diese Ausgabe: 1978 (Martin Kelter Verlag/Kelter TB Nr. 1055)
ASIN: B0028ILL3C
www.kelter.de

Grangé, Jean-Christophe – Choral des Todes

|“Der Schrei war in der Orgel eingesperrt. Er sirrte in den Orgelpfeifen und hallte in der ganzen Kirche wider. Gedämpft. Dumpf. Entrückt.“|

Mit diesen unheimlichen Sätzen beginnt Jean-Christophe Grangés neuester Thriller. In der armenischen Gemeinde wird der Organist in der Kirche ermordet und der Polizist Lionel Kasdan ist zufällig in der Nähe und daher als erster am Tatort. Auch wenn er eigentlich im Ruhestand ist, lässt ihn dieser Mord in der eigenen Gemeinde nicht los. Nur ein kleiner Blutfleck zeugt von Gewaltanwendung, sonst hätte man glauben mögen, der Organist hätte einen Herzinfarkt erlitten – und tatsächlich hat er das auch, wie die Obduktion zeigt. Seine Trommelfelle wurden völlig zerstört, und der daraus resultierende Schmerz hat den Organisten Wilhelm Götz getötet. Seine Schmerzensschreie waren es, die noch in der Kirche hallten, als Kasdan am Tatort ankam.

Die Spurensuche fördert einen interessanten Fußabdruck zutage – einen kleinen Abdruck von einem Basketballschuh in Größe 36. Einer der Chorjungen muss den Mord demnach beobachtet haben. Doch merkwürdigerweise kann Kasdan bei seiner Befragung bei keinem der Jungen ein auffälliges Verhalten fest stellen. Kasdans Neugierde ist geweckt, und so stellt er auf eigene Faust Untersuchungen an.

Cédric Volokine befindet sich zur Zeit des Mordes in einer Entzugsklinik. Seine Heroinsucht hat den Polizisten vom Jugendschutzdezernat in diese missliche Lage gebracht. Dann aber erfährt er von dem Mord an Götz und verlässt die Klinik, um auf eigene Faust zu ermitteln. So dauert es nicht lange, bis die offiziellen Ermittler, Kasdan und Volokine sich gegenseitig auf die Füße treten. Kasdan glaubt an einen politischen Hintergrund, da Wilhelm Götz einst aus Chile geflohen ist, Volokine aber ist überzeugt, dass der homosexuelle Organist sich an den Chorjungen vergangen hat und ein sexuelles Motiv im Vordergrund steht. Zunächst aber verlaufen beide Spuren im Sande.

Bald geschehen weitere Morde – wieder finden sich Schuhabdrücke in Größe 36 am Tatort. Handelt es sich dabei vielleicht um die Spuren des Täters statt des Zeugen? Volokine ist davon überzeugt, und je weiter er zusammen mit Kasdan in den Hintergründen der Morde herum gräbt, desto mehr scheint es, als habe er Recht. Kasdan und Volokine, die sich schnell zu einem Ermittlerduo zusammen schließen, müssen bald einsehen, dass die Chorjungen keine Engel sind, sondern den Tod bringen. Doch was hat sie dazu gebracht, diese Morde zu begehen? Die Spuren führen zu einer kleinen Kolonie in Südamerika, in der grausame Dinge vor sich gegangen sind, die ihre Fühler bis nach Frankreich ausgestreckt haben …

_Tödliche Melodien_

Schon mit seinen einleitenden Sätzen schafft Jean-Christophe Grangé eine düstere Atmosphäre, die mich von der ersten Seite an mitgerissen hat. Lionel Kasdan ist so früh am Tatort, dass er die Todesschreie des Organisten noch hören kann. Eine wahrlich grausige Vorstellung. Kurz darauf verrät Grangé uns, wie Götz gestorben ist und jagt uns damit den nächsten kalten Schauer über den Rücken. Kaum vorstellbar, dass jemand einen solch starken Schmerz erleiden kann, dass er daran stirbt. Aber genau das ist hier passiert. Dann plätschern die Ermittlungen zunächst vor sich hin, die Zuständigkeiten müssen geklärt und alte Feindschaften aus dem Weg geräumt werden, bis wir erfahren, dass die Chorjungen womöglich keine Zeugen, sondern Täter waren. Ein weiterer Paukenschlag, den man erstmal verdauen muss. Jean-Christophe Grangé scheut sich wieder einmal nicht, auch die schlimmsten Verbrechen zu beschreiben. Dieses Mal entführt er uns gedanklich nach Südamerika. Die Spur führt nach Chile. Kasdan glaubt, dass Götz vor seinen Folterern aus Chile geflohen ist. Doch dann erfährt er, dass Götz selbst zu den Folterern gezählt hat.

Gemeinsam kommen Kasdan und Volokine einer geheimnisvollen Gemeinschaft auf die Spur, die in einer kleinen Enklave in Chile gelebt hat. Ihre Spuren ziehen sich aber bis nach Frankreich – hat sich dort womöglich eine ähnliche Kolonie etabliert? Das geniale Ermittlerduo entdeckt, dass in verschiedenen Gemeinden immer wieder Chorjungen verschwunden sind – immer die mit den besten Stimmen. Dann macht Volokine einen ehemaligen Chorjungen ausfindig, der einst eine Engelsstimme hatte und der von einem „Menschenfresser“ berichtet, der die talentierten Chorjungen zu sich geholt hat. Doch was hat dieser ominöse Menschenfresser mit den Engelsstimmen im Sinne? Kasdan und Volokine kommen diesem Geheimnis nur sehr, sehr langsam auf die Spur.

Genau diese ausführlichen, intensiven und aufreibenden Ermittlungen sind es, die mich beim Lesen wieder einmal fasziniert haben. Nur ganz allmählich decken die beiden Schicht um Schicht auf, bis sie das gesamte Geheimnis vor Augen haben. Und was beide nicht ahnen: Einer von ihnen hängt tiefer in der gesamten Geschichte drin als er sich vorstellen kann …

_Todesengel_

Jean-Christophe Grangé schafft es in seinen Büchern immer wieder, gut konstruierte Kriminalfälle zu präsentieren, die sich in den allermeisten Fällen deutlich von der Masse abheben. Seine Stärke ist es dabei, immer nur so viele Informationen preis zu geben, dass man an das Buch gefesselt wird. Zudem schafft er es, diese Informationen am Ende schlüssig zu einem Ganzen zusammen zu setzen. Auch im vorliegenden Buch gelingt Grangé das ausgesprochen überzeugend. Für den deutschen Leser mag es allerdings etwas befremdlich sein, dass er einen alten Nazi-Schergen ausgräbt, der sich seine eigene Kolonie aufgebaut hat, in der die Einwohner in traditionellen bayerischen Trachten herumlaufen. Ich denke, die Geschichte hätte ebenso gut funktioniert, wenn kein alter Nazi die Fäden gezogen hätte. Dies ist aus meiner Sicht allerdings auch der einzige inhaltliche Kritikpunkt.

_Aufreibende Vitae_

Mit Lionel Kasdan und Cédric Volokine haben sich zwei Ermittler gefunden, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Doch ein Blick hinter die Fassade offenbart, dass sie auch einiges gemeinsam haben. Kasdan befindet sich bereits im Ruhestand, sein Sohn hat den Kontakt zu ihm abgebrochen, seine Frau ist tot. Aber noch etwas anderes aus seiner Vergangenheit treibt ihn herum, das wir erst sehr spät erfahren. Volokine dagegen ist ein junger Draufgänger. Er hängt an der Nadel und kennt sich im Drogenmilieu bestens aus. Dennoch hat er eine Mission: Er kämpft mit allen Mitteln gegen Pädophile. Genau das hat ihn im Fall Götz auf den Plan gerufen. Aber auch Volokines Vergangenheit ist nicht minder bewegt. Auch hier müssen wir lange warten, bis wir einen Blick in diese bewegte Vergangenheit werfen können.

Beide Figuren gefielen mir unglaublich gut, auch wenn sie auf den ersten Blick alles andere als Sympathieträger sind. Sie haben Ecken und Kanten, kämpfen mit ihren Eigenarten und gegen ihre inneren Dämonen. Beide haben ihr Säcklein zu tragen und ahnen, dass es dem jeweils anderen genauso geht. Aus dieser Ahnung entsteht zunächst eine Partnerschaft, später sogar eine richtige Freundschaft. Lange können wir nur ahnen, welche Dämonen die beiden herumtreiben und was sie in der Vergangenheit miterleben mussten. Was uns Grangé schlussendlich präsentiert, wäre mir natürlich im Leben nie eingefallen, doch passen diese Offenbarungen stimmig ins Gesamtbild. Kasdan und Volokine als ermittelndes Duo haben mich auf ganzer Linie überzeugt, denn immer ist man als Leser bemüht, sie zu durchschauen und ihre Motive zu verstehen. Endlich zu erfahren, was die beiden umtreibt, fesselt einen über weite Strecken ans Buch.

_Ärgerliches_

Leider trüben viele Tipp- und Grammatikfehler den Lesefluss. Dutzende von Fehlern sind mir beim Lesen regelrecht in die Augen gesprungen, manchmal fehlte ein Wort, manchmal war eines doppelt. Dann wiederum fehlten die Kommata beim erweiterten Infinitiv, während ein Komma beim einfachen Infinitiv gesetzt wurde. Einmal fand ich ein Komma mitten in einem Wort und einmal zierten gleich zwei Fehler einen „Satz“, der nur aus zwei Wörtern bestand: „Kein Anwort“. Auch die Übersetzung wurde offensichtlich nicht gründlich Korrektur gelesen, denn dann hätte einem Lektor auffallen müssen, dass es nicht „Irländer“ heißt, sondern „Ire“. So viele Fehler dürfen definitiv nicht passieren, schon gar nicht in einem großen Verlag wie Ehrenwirth.

_Unter dem Strich_

Auch mit seinem neuesten Werk hat Jean-Christophe Grangé mich hervorragend unterhalten. Seine Bücher muss man sich meistens erst erarbeiten, da sie sehr umfangreich sind, zahlreiche verschiedene Figuren auftauchen und da die Kriminalfälle meist hochkomplex gestrickt sind. Und so ist es auch hier. Zudem benennt Grangé wirklich jede Straße in Paris, durch die Kasdan und Volokine auf ihren Streifzügen fahren, meiner Ansicht nach ist das etwas zu viel Lokalkolorit bzw. ein zu detaillierter, denn selbst wenn man Paris kennt, dürften einem die einzelnen Straßennamen und Gebäude dennoch unbekannt sein. Einen Informationsgewinn durch diese genauen Beschreibungen kann ich daher nicht erkennen.

Dafür punktet Grangé dieses Mal mit seinen beiden Hauptfiguren Kasdan und Volokine, die beide mit einer mehr als bewegten Vergangenheit aufwarten können und die sich hervorragend ergänzen. Beide haben ihre Eigenarten, die sie für uns greifbar und interessant machen. Von den beiden würde man wirklich gerne mehr lesen.

Bleibt demnach nur zu hoffen, dass Grangés nächstes Buch besser lektoriert wird, dann dürfte einem ungetrübten Lesevergnügen nichts mehr im Wege stehen!

|Gebundene Ausgabe: 571 Seiten
ISBN-13: 978-3431037937
Originaltitel: |Miserere|
Deutsch von Thorsten Schmidt|

_Grangé beim Buchwurm:_
[Das Herz der Hölle 4569
[Der steinerne Kreis 1349
[Das schwarze Blut 2286
[Das Imperium der Wölfe 1348
[Die purpurnen Flüsse 936

Jon Christopher – Insel ohne Meer

_Das geschieht:_

Guernsey ist die zweitgrößte jener Inseln, die als Besitz der britischen Krone vor der englischen Küste und schon in Sichtweite Frankreichs im Kanal liegen. Hier hat sich Matthew Cotter eine Existenz als Gärtner aufgebaut. Sein ruhiges Leben wird eines Nachts beendet, als ein gewaltiges Erdbeben die Insel erschüttert. Nicht nur Guernsey ist betroffen. Als Cotter sich aus den Trümmern seines Hauses befreit hat, muss er feststellen, dass sich das Meer zurückgezogen hat und das Festland zu Fuß erreicht werden könnte.

Die meisten Inselbewohner sind umgekommen. Hilfe von außen ist nicht zu erwarten; offensichtlich wurde die gesamte Erde durch die Naturkatastrophe verheert. Die wenigen Überlebenden auf Guernsey versammeln sich um Joe Miller, der rücksichtslos das Kommando an sich reißt und schon für eine Zukunft nach dem großen Knall plant. Wie ein vorzeitlicher Häuptling organisiert Miller seinen „Stamm“, teilt die gebärfähigen Frauen kräftigen Männern zu und duldet keinen Widerstand.

Cotter, der zunächst froh darüber war, nicht allein dazustehen, beginnt Miller zu verabscheuen. Zusammen mit dem 10-jährigen Billy Tullis, der bei dem Erdbeben seine Familie verlor und von Miller gerettet wurde, will er den Marsch aufs Festland wagen, seine Tochter suchen und dem Despoten Miller entkommen. Die Flucht gelingt, aber die bizarren und grausamen Erlebnissen auf dieser Reise in ein in die Barbarei zurückgefallenes England lassen Cotter bald wünschen, den zweifelhaften Schutz von Guernsey niemals aufgegeben zu haben …

_Die Welt geht immer wieder unter_

Die Briten sind ein Volk, das stolz auf seine Eigenheiten ist. Dazu gehören ein besonders trockener bis schwarzer Humor und die Liebe zu Untergangs-Szenarien. Seit H. G. Wells die Marsianer über England herfallen ließ, wiederholte sich die Apokalypse quasi regelmäßig. Mal fiel der Mond in den Ozean, der daraufhin die Zivilisation von den britischen Inseln spülte (R. C. Sheriffs, „The Hopkins Manuscript“, dt. „Der Mond fällt auf Europa“), dann wuselten genmutierte Mordpflanzen durch ehrwürdige Grafschaften (John Wyndham, „The Day of the Triffids“, dt. „Die Triffids“), oder Außerirdische kletterten mit finsteren Absichten aus den Tiefen des Atlantiks (noch einmal John Wyndham, „The Kraken Wakes“, dt. „Kolonie im Meer“/“Der Krake erwacht“).

John Christopher versuchte gleich mehrfach und mit einer Getreidepest („The Death of Grass“, dt. „Das Tal des Lebens“), einer neuen Eiszeit („The World in Winter“) oder – im vorliegenden Roman – mit einem monströsen Erdbeben seinen Landsleuten den Garaus zu machen. In der Tradition dessen, was Brian W. Aldiss als „gemütliche Katastrophengeschichte“ bezeichnete, bricht das Verderben erstens plötzlich und zweitens über ganz normale Durchschnittsmenschen herein. Zwar lebendig aber praktisch mit leeren Händen stehen sie nun da und müssen die Krise meistern.

Wobei Christopher das „gemütlich“ aus seinen apokalyptischen Visionen energisch streicht. Wie er, der Weltwirtschaftskrise, Zweiten Weltkrieg und Kalten Krieg als Zeitgenosse und teilweise hautnah miterlebte, das Lern- und Anpassungsverhalten des Menschen beurteilt, wirft ein düsteres Licht auf unsere Spezies.

|Radikales Weltende ohne Lehreffekt|

Dass England in der Realität jemals von Erdbeben der vom Verfasser beschriebenen Stärke heimgesucht wird, ist denkbar unwahrscheinlich. Dies war in den 1960er Jahren längst, und auch Christopher bei der Niederschrift seines Romans, bekannt – ein Indiz dafür, dass für ihn die eigentliche Katastrophe Nebensache ist. Dafür spricht ebenfalls, dass Christopher sich eine Beschreibung der wohl weltweiten Verwüstungen spart und sich auf einen kleinen Ausschnitt beschränkt. (Guernsey wählte der Autor übrigens als Handlungsort, weil er viele Jahre auf dieser Insel gelebt hat.) Der Untergang ist ihm MacGuffin im hitchcockschen Sinn – ein Vorwand, der den Rahmen für die Darstellung dessen schafft, was den Autoren eigentlich interessiert.

Christopher geht es um das Verhalten von Menschen. Er nimmt sich die Zeit, das Leben vor dem Ende zu beschreiben. Im Wissen um den Untergang wirken die Rituale des modernen Alltagslebens ebenso nichtig wie liebenswert. Matthew Cotter ist kein „Macher“, sondern ein kleiner Gärtner, den seine Nachbar gern mit einer alleinstehenden Witwe verkuppeln mochten. Auf sein Überleben nach dem Zusammenbruch würde man nicht unbedingt wetten.

Aber Cotter verfügt über eine Eigenschaft – oder besser: Nicht-Eigenschaft -, die ihn retten wird: Er hängt nicht allzu sehr an den Werten der „alten“ Welt, die er deshalb abschütteln kann, wo andere Menschen erstarren, der Vergangenheit nachtrauen und auf Hilfe von außen warten, bis es zu spät ist. Nur seine Liebe zur verschollenen Tochter kann Cotter nicht aufgeben, und exakt dies wird ihn mit einem Grauen konfrontieren, das er sich durch den endgültigen Schnitt hätte ersparen können.

|Anpassen – herrschen – unterwerfen|

Das Überleben folgt nach Christopher archaischen Regeln. Der Mensch ist unter einer dünnen zivilisatorischen Tünche immer noch das Produkt einer Vorzeit, in der das Wort und die Waffe des Stärkeren die Primär-Geltung hatte. Ohne Kultur und Technik bricht die Bestie auf breiter Front wieder durch.

Während Cotter auch in der Krise menschliche Werte hochhält, schlägt nach der Tag X die Stunde der Despoten. Christopher unterscheidet zwischen brutalen Egoisten, die sich mit Gewalt nehmen, was sie wollen, und dabei schwächere Personen unter ihre Gewalt bringen, und wohlwollenden Tyrannen, die einen „Stamm“ um sich scharen und das Weiterleben nach ihren Vorstellungen organisieren.

Cotter steht zwischen Herrschern und Untertanen. Obwohl er die Zügel in die Hand nehmen könnte, weigert er sich, ein Lager zu wählen. Durch Intelligenz und ein Einfühlungsvermögen, in das sich eine hohe Dosis Opportunismus mischt, kann Cotter sich die neuen Häuptlinge und Warlords eine Weile vom Hals halten. Die Entscheidung wird dadurch nur aufgeschoben – irgendwann muss Cotter Farbe bekennen.

|Ein nicht goldener aber möglicher Mittelweg|

Dieser Lernprozess wird ihn zeichnen. Christopher stellt Cotter nie als klassischen Helden dar. In eindeutiger Kenntnis des Zwangs, mit dem „König Miller I.“, wie er ihn ironisch nennt, über „seine“ Untertanen herrscht, verweigert Cotter die Konfrontation. Stattdessen setzt er sich in der Nacht heimlich ab und nimmt darüber hinaus ein Kind mit auf eine gefährliche Odyssee mit ungewissem Ausgang.

Billy ist nicht nur Identifikationsfigur für jüngere Leser. Er begleitet und verkörpert Cotters Weg zur Erkenntnis. Auf seiner von Anfang an sinnlosen Suche nach der Tochter setzt er das Leben eines buchstäblich greifbaren Menschen, der auf seine Solidarität angewiesen ist, aufs Spiel. In der ultimativen Krise sind keine Visionäre, sondern Realisten gefragt, die sich mit den Gegebenheiten arrangieren. Am Ende hat Cotter seine Lektion gelernt und seinen eigenen Weg in die Zukunft gefunden. Er wird der Not gehorchen, sich ihr jedoch nicht beugen. Auf diese Weise verbindet er Realitätssinn mit Zivilisation, schafft sich eine Lebensperspektive und erspart dem Leser ein unrealistisches Happy-End, sondern schließt eine trotz des Themas „stille“ aber spannende Geschichte zufriedenstellend ab.

_Autor:_

Christopher Samuel Youd wurde am 12. Februar 1922 in der englischen Grafschaft Lancashire geboren. Nach mehrjährigem Kriegsdienst (1941-1946) wurde Youd dank eines Stipendiums der |Rockefeller Foundation| für literarische Nachwuchstalente ein „richtiger“ Schriftsteller. Die erste professionelle Veröffentlichung wurde 1949 die Kurzgeschichte „Christmas Tree“. Ebenfalls 1949 erschien, „The Winter Swan“, Youds erster Roman.

Da Erfolg und Einkünfte zunächst ausblieben, arbeitete Youd für ein Unternehmen, das mit Industriediamanten handelte, und schrieb abends und an den Wochenenden. In den nächsten Jahren verfasste er unter einer Vielzahl von Pseudonymen für wenig Geld zahlreiche Krimis, aber auch Liebesromane oder Arztdramen. 1955 kehrte er als John Christopher mit „The Year of the Comet“ zu seinem Lieblings-Genre, der Science-Fiction, zurück. Im folgenden Jahr gelang ihm der Durchbruch mit „The Death of Grass (dt. „Das Tal des Lebens“), einer Katastrophen-Geschichte der typisch englischen Art. Christopher hatte „seine“ Nische gefunden. Er konnte seinen Brotjob aufgeben und ließ in den folgenden Jahren weitere Katastrophen über die Erde hereinbrechen.

Mitte der 1960er Jahre gab Christopher seiner Karriere eine neue Richtung: Er schrieb nun SF gezielt für jugendliche Leser. Gleich sein erster Roman wurde ein Bestseller und Start einer Serie um die „Tripoden“ oder „dreibeinigen Monster“, Außerirdische in stählernen Kampfmaschinen, die sich die Erde untertan gemacht haben und die Menschen in feudalzeitlicher Rückständigkeit halten. Christopher stellt eine junge, rebellische Generation in den Mittelpunkt der spannenden Handlung, die den Kampf gegen den zunächst übermächtig scheinenden Gegner aufnimmt. Mit zwei Trilogien („The Prince in Waiting“ und „Fireball“) und einigen Einzel-Romanen war Christopher ebenfalls erfolgreich, doch vor allem die Serie um die dreibeinigen Monster – die 1984 eine zehnteilige TV-Verfilmung erfuhr – wird seit Jahrzehnten auch in Deutschland immer wieder aufgelegt.

In den 1980er Jahren begann Christophers Produktivität nachzulassen. Neue Romane erscheinen nur noch selten, etwa 70 Bücher hat der Autor insgesamt veröffentlicht.

Taschenbuch: 192 Seiten
Originaltitel: A Wrinkle in the Skin (London : Hodder & Stoughton 1965)/The Ragged Edge (New York : Simon & Schuster 1966)
Deutsche Erstausgabe: 1966 (Wilhelm Goldmann Verlag/Goldmann-Zukunftsromane Z 70 u. Goldmanns Weltraum Taschenbücher 072)
Übersetzung: Hans-Ulrich Nichau
Cover: Eyke Volkmer
ASIN: B0000BQDKT
www.goldmann-verlage.de

Boothby, Guy Nevell – Rache des Doctor Nikola, Die

_Das geschieht:_

Er ist das kriminelle Superhirn seiner Zeit: Auf der ganzen Welt spinnt der mysteriöse Dr. Nikola seine Intrigen, die in der Regel damit enden, dass reiche Männer und große Firmen viel Geld verlieren. Doch vor einiger Zeit hat sich jemand Nikola in den Weg gestellt, wodurch dem Schurken diverse Pläne zunichte gemacht wurden. Nun ist es genug, aber Nikola wäre nicht Nikola, wollte er sich den Rivalen nur vom Hals schaffen. Dem Frechling soll eine Lektion erteilt, er soll ruiniert und gedemütigt werden. Um dies zu gewährleisten, entwirft Nikola einen komplizierten Racheplan. Für die Realisierung heuert er drei skrupellose Schurken an und schickt sie mit genauen Anweisungen aus.

Buchstäblich am anderen Ende des Globus“ – in Australien – stolpert Richard Hatteras in das Abenteuer seines Lebens. Als er eine Reise nach England antritt, um die Heimat seines Vaters kennenzulernen, verliebt er sich in die junge Phyllis Wetherell. Sie ist in Begleitung ihres Vaters, des Kolonialsekretärs Sylvester Wetherall, der sich als Nikolas „Zielperson“ entpuppt. Davon ahnt Hatteras natürlich zu diesem Zeitpunkt nichts, weshalb er nicht einschätzen kann, wieso der alte Wetherell, der Nikolas Schergen entdeckt hat, voller Schrecken und in Begleitung seiner Tochter in Australien untertaucht.

Hatteras beginnt eine intensive Suche nach seiner Braut und gerät dabei Nikola in die Quere. Obwohl vom Doktor eindringlich gewarnt, macht er sich auf den Weg nach Australien. In Begleitung eines jungen englischen Adligen gerät Hatteras in diverse Fallen und Ablenkungsmanöver des tückischen Dr. Nikola. Unerschrocken bleibt er diesem auf den Fersen. Auf einer einsamen Südsee-Insel kommt es zum finalen Duell, doch das Schurkengenie hält auch dieses Mal die Fäden fest in der Hand …

_Vom Archetyp zum Klischee_

An ihren prägnanten Eigenheiten lassen sie sich erkennen: Die großen, klassisch gewordenen Schurken definierten sich niemals allein über ihre Taten. Sie drücken ihre böse Intelligenz bereits optisch und akustisch aus, präsentieren sich flamboyant, extravagant, aufregend. Auf keinen Fall sind sie gewöhnliche Verbrecher, verwenden auf Stilfragen mindestens soviel Energie wie auf den Entwurf unerhört komplizierter Pläne, deren Aufgehen sie eher gleichgültig lässt. Viel wichtiger ist ihnen die Intrige, das Düpieren übermächtiger Gegner sowie die Demütigung von Rivalen. Nie können sie der Versuchung widerstehen, sich vor diesen zu spreizen, wenn sie endlich in ihre Gewalt geraten sind, statt sie endgültig auszuschalten und sich auf die Durchführung ihrer genialen Projekte zu konzentrieren, die folgerichtig meist in letzter Sekunde scheitern.

Im 21. Jahrhundert sind die besten Macken längst vergeben. Die genialischen Bösewichter wiederholen sich und sind vom Archetyp zum Klischee herabgesunken. Nur selten fällt einem Schuft noch etwas Originelles ein. Da hatten es die kriminellen Ahnen einfacher. Dr. Nikola ist hier für manche echte Überraschung gut: Er beherrscht die Kunst der Hypnose und zwingt seine Gegner buchstäblich in seinen Bann, ist ein begnadeter Wissenschaftler (und Alchemist), der in seinem Labor betäubende Wundermittel und exotische Gifte mischt, sowie ein Meister der Maske, der zudem überall auf Verstecke und Helfershelfer zurückgreifen kann.

|Auf die Details kommt es an!|

Außerdem benutzt er eine schwarze Katze als Accessoire (und entlarvt damit die James-Bond-Nemesis Blofeld als schnöden Nachahmer). Guy Nevell Boothby hat einen gut entwickelten Sinn für die Inszenierung seines Schurken. In einem feinen Lokal in London lässt der Doktor drei gefährliche Männer zusammenkommen. Zu seinen Anweisungen gehört die Bereitstellung einer Schale mit Milch. Was bedeutet dieses Detail? Noch bevor Boothby seinen Lesern Nikola vorstellt, hat er sie neugierig auf diese Figur gemacht, die er später so überhöhen wird: |“Nun, er ist Nikola, das ist alles, was ich Ihnen sagen kann. Wenn Sie ein kluger Mann sind, werden Sie nicht mehr wissen wollen. Fragen sie die chinesischen Mütter, … wer er ist, fragen sie die Japaner, die Malaien, die Hindus, die Burmesen, die Kohlenträger in Port Said, die buddhistischen Priester auf Ceylon; fragen Sie den König von Korea, die Menschen oben in Tibet, die spanischen Priester in Manila oder den Sultan von Borneo, den Minister von Siam oder die Franzosen in Saigon, sie alle kennen Dr. Nikola und seine Katze; und glauben Sie mir, sie fürchten ihn.“| (S. 210)

Nikola scheint nicht nur für Blofeld, sondern auch für andere klassische Finsterlinge Pate gestanden zu haben: Sein betont mysteriöses Auftreten und sein Faible für schwarzmagisch anmutende Tricks verweisen auf Dr. Fu-Manchu, den Sax Rohmer (1883-1959) ab 1913 auf ahnungslose Abendländler losließ. Freilich war der Osten als Hort einer „gelben Gefahr“ für brave und vorsichtshalber stets wachsame Abendländer bereits um 1900 ein politischer, kultureller und eben auch literarischer Topos. Zwei Jahrzehnte später bescherte Norbert Jacques seinen Lesern mit Dr. Mabuse einen „europäischen“ Super-Verbrecher, der nichtsdestotrotz Dr. Nikola in Auftritt und Handlung sehr ähnlich war. Dass Dr. Nikola echte übernatürliche Kräfte besitzt, deutet Boothby zwar an, lässt es aber offen; als kluger Autor, der an die Zukunft denkt, lässt er diese Katze im ersten Band seiner Serie im Sack.

|Der Inhalt verdeckt die Form|

Starke Figuren können dem Verfasser, der sie zu schaffen versteht, viel Arbeit ersparen. In unserem Fall überstrahlt Dr. Nikola mit einer Persönlichkeit, die selbst in seiner Abwesenheit über der Handlung schwebt, die im Grunde simple Struktur dieses Romans. Hinter dem Gewirr eines überkompliziert eingefädelten und selbst im 19. Jahrhundert unrealistischen Intrigengespinstes kommt viel heiße Luft zum Vorschein. Boothby konnte nie viel Zeit auf originelle Plots verwenden. Sie waren in seinem Metier – der Unterhaltungsliteratur – auch nicht wichtig. Hier griff man auf bewährte Geschichten und Figuren zurück, die variiert und der jeweiligen Handlung angepasst wurden.

In der Tat funktionieren Elemente wie Verfolgungsjagden, Todesfallen oder dramatische Rettungsaktionen, selbst wenn das dabei zum Einsatz kommende Instrumentarium inzwischen altmodisch wirkt. Auch die Rollenverteilung hat sich konserviert. Das Dreieck Schurke – Maid in Not – junger Held ist zeitlos, selbst die damit einhergehenden Klischees fallen mehr als 100 Jahre später kaum irritierend ins Gewicht.

Das wahre Alter der Geschichte wird dort zum Problem, wo sich der Alltag grundlegend gewandelt hat. Die Liebesgeschichte von Richard und Phyllis wirkt heute steif und in die Länge gezogen, während den zeitgenössischen Lesern die diffizilen Regeln im Umgang zwischen Mann und Frau bekannt und vertraut waren. Natürlich – so muss man beinahe sagen – erweist sich Hatteras nicht nur als Ehren- sondern zufällig auch als Edelmann, wodurch sämtliche Vorbehalte, die man gegen ihn hegen könnte, mit einem Schlag ausgeräumt sind: Auch dies ist ein einst gern eingesetzter Knalleffekt.

Weniger erfreulich ist Boothbys Hang zu Wiederholungen und abschweifenden Nebenhandlungen, die mit der zentralen Handlung wenig bis gar nichts zu tun haben. Hierin erkennt man den Vielschreiber, der die Hatz auf Nikola und damit seinen Roman auf möglichst einfache, d. h. ideenarme Weise zu verlängern sucht. Immerhin lesen sich diese Schlenker oft unterhaltsam, da Boothby Land und Leute, über die er schreibt, selbst bereist hat und deshalb kennt.

|Gute Bücher und schöne Bücher|

Dass sich „Die Rache des Doctor Nikola“ mehr als ein Jahrhundert nach der Entstehung insgesamt immer noch flüssig und spannend liest, spricht für den Verfasser (sowie für einen Übersetzer, der das künstlich Altmodische vermeidet, ohne das Alter der Vorlage zu verleugnen). Nicht nur die bloße Tatsache, dass ein Verlag das Risiko eingeht, eine mehr als 100 Jahre alte Reihe neu übersetzt auf den Buchmarkt zu bringen, ist positiv zu registrieren. Mit Bestseller-Auflagen ist hier kaum zu rechnen, weshalb die „großen“ Häuser Dr. Nikola keines Blickes würdigen würden. Wie heute üblich, springt ein kleiner, aber engagierter und wohl auch mutiger Verlag in die Bresche. Dem Käufer und neugierigen Leser, der über den Tellerrand der üblichen Verbrauchsliteratur schauen möchte, wird für einen moderaten Preis darüber hinaus ein Vorwort des Übersetzers geboten, der knapp aber umfassend Auskunft über Leben und Werk des Verfassers gibt.

„Die Rache des Doctor Nikola“ erscheint als Paperback in Klappenbroschur. Das Buch ist schön gebunden, lässt sich aufschlagen, ohne dass dabei der Rücken krachend bersten würde, und dank ihres guten, dicken Papiers verkraften die Seiten auch energisches Umblättern ohne eselsohriges Nachgeben. Wer seine Bücher nicht nur liest, sondern auch liebt und sammelt, wird mit diesem Exemplar auf seine Kosten kommen!

Es bleibt noch die Frage, wieso die Abkürzung „Dr.“ in dieser neuen deutschen Ausgabe hartnäckig als „Doctor“ aufgelöst wird …

_Autor:_

Am 13. Oktober 1867 wurde Guy Newell Boothby im australischen Glen Osmond, einer Vorstadt von Adelaide, geboren. Die Boothbys gehörten zur Oberschicht, Guys Vater saß im Parlament von Südaustralien. Der Sohn besuchte von 1874 bis 1883 die Schule im englischen Salisbury, dem Geburtsort seiner Mutter.

Nach Australien zurückgekehrt, versuchte sich Boothby als Theaterautor. Sein Geld verdiente er allerdings als Sekretär des Bürgermeisters von Adelaide. Beide Tätigkeiten wurden nicht von Erfolg gekrönt. Boothbys Lehr- und Wanderjahre führten ihn 1891/92 kreuz und quer durch Australien sowie den südasiatischen Inselraum. Sein 1894 veröffentlichter Reisebericht wurde zum Start einer außergewöhnlichen Schriftstellerkarriere.

1895 siedelte Boothby nach England um, heiratete und gründete eine Familie. Er schrieb nun Romane, wobei er sämtliche Genres der Unterhaltungsliteratur bediente und lieferte, was ein möglichst breites Publikum wünschte. Boothby war ein findiger und fleißiger Autor, der überaus ökonomisch arbeitete, indem er seine Worte nicht niederschrieb, sondern in eine Phonographen diktierte und die so besprochenen Wachswalzen von einer Sekretärin in Reinschrift bringen ließ. Jährlich konnten auf diese Weise durchschnittlich fünf Titel erscheinen. Boothbys Einkünfte ermöglichten ihm den Kauf eines Herrenhauses an der Südküste Englands, in dem er mit seiner Familie lebte, bis er am 26. Februar 1905 im Alter von nur 37 Jahren an einer Lungenentzündung starb.

_Die „Dr. Nikola“-Reihe:_

(1895) Die Rache des Doctor Nikola (|A Bid for Fortune, or: Dr. Nikola’s Vendetta| / |Enter Dr. Nikola!|)
(1896) Die Expedition des Doctor Nikola (|Dr. Nikola|)
(1898) |The Lust of Hate|
(1899) |Dr. Nikola’s Experiment|
(1901) |Farewell, Nikola|

Band 3 – |The Lust of Hate| – wird keine Neuauflage erfahren; Dr. Nikola tritt nur als „Gaststar“ in einer Geschichte auf, die ansonsten mit „seiner“ Serie nichts zu tun hat.

|Broschiert: 232 Seiten
Originaltitel: A Bid for Fortune, or: Dr. Nikola’s Vendetta (London : Ward, Lock & Co. 1895) / Enter Dr. Nikola! (Hollywood/Californien : Newcastle Pub. Co. 1975)
Deutsche Erstausgabe: März 2010 (Wurdack Verlag)
Übersetzung: Michael Böhnhardt
ISBN-13: 978-3-938065-61-7|
[www.wurdackverlag.de]http://www.wurdackverlag.de
[Verlagsblog – doctornikola.blogspot.com]http://doctornikola.blogspot.com

_Guy Newell Boothby bei |Buchwurm.info|:_
[„Pharos der Ägypter“ 297

Jules Verne – Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die Handlung:

Der herrische und jähzornige Professor Lidenbrock aus Hamburg findet in einem alten isländischen Buch ein geheimnisvolles Papier. Zusammen mit seinem Neffen Axel macht er sich an dessen Entzifferung. Nachdem Axel auf die Lösung gekommen ist, kann der Text, der aus alten Runen besteht, entschlüsselt werden. Es stellt sich heraus, dass der Zettel eine Notiz des vor einigen hundert Jahren verstorbenen Forschers Arne Saknussemm ist. Er beschreibt, wie man durch einen Krater in Island zum Mittelpunkt der Erde kommt. Der mögliche Einstieg wird Ende Juni durch einen Schatten, ähnlich einer Sonnenuhr, angezeigt.

Lidenbrock zeigt sich sofort begeistert und zwangsverpflichtet seinen Neffen, mit ihm dieselbe Reise zu unternehmen. Die beiden brechen schnell auf, da die Zeit drängt. In Reykjavik engagiert Lidenbrock den phlegmatischen Hans, der als Führer dienen soll.

Die drei steigen hinab ins Erdinnere, verlaufen sich, verdursten fast, finden ein riesiges Meer und gelangen am Ende durch einen zuvor verschlossenen Gang mit einem Floß wieder zur Erdoberfläche zurück. Hier stellen sie fest, dass ihre Reise sie auf die Insel Stromboli im Mittelmeer geführt hat. Der Ausbruch des Vulkans der Insel brachte das Floß wieder an die Oberfläche.

Mein Eindruck:

Diese Ausgabe von „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ kann auf zwei Arten gelesen werden:

1. Auf die herkömmliche Art und unter Ignorierung der 305 Anmerkungssternchen.

2. Unter Einbeziehung der 305 Anmerkungssternchen, die auf 24 Seiten im Anhang und in kleiner Schrift so ziemlich jedes ungewöhnliche Wort in dem Roman erklären. Das ist in etwa das gleiche Erlebnis, als würde man eine Film-DVD mit Audio-Kommentar gucken, nur mit ständigem Blättern.

Erzähler des Buches ist Axel, der Neffe der treibenden Kraft des Romans – Professor Lidenbrock-, der die oftmals sehr unsympathisch rohe Art seines Onkels gut zu nehmen weiß und sie offenbar schon gewohnt ist. Eigentlich will Axel auch nicht wirklich mit auf die Reise, sondern lieber bei seiner Verlobten Graüben bleiben, deshalb sträubt er sich zuerst noch, seinem Onkel den entscheidenden Tipp zur Übersetzung des Zettels zu geben.

Interessant ist, dass die Notiz zu keiner Zeit vom Professor infrage gestellt wird, und wenn Saknussemm schreibt, dass er selber schon den Mittelpunkt der Erde besucht hat, dann wird das wohl so sein.

Auch der gescheiterte Versuch, sich auf dem Weg zum besagten Vulkan mit Literatur vom isländischen Forscher zu versorgen, lässt die beiden Reisenden nicht zweifeln. Saknussemm war nämlich als Ketzer verfolgt und seine Bücher von seinem Henker 1573 verbrannt worden.

Danach folgt ein Bombardement von Anmerkungssternchen auf jeder Seite, neben Begriffen, die die verschiedenen Erdzeitalter beschreiben, während die Gruppe immer weiter hinab steigt. Oftmals ist deshalb nicht klar, ob Verne hier eine Geschichte erzählen oder einfach nur den Stand der Wissenschaft wiedergeben wollte.

Der Plagiatsvorwurf:

Interessanterweise wurde Verne von René de Pont-Jest wegen gerade dieser Geschichte verklagt. Zwölf Jahre nach dem Erscheinen des Buches warf dieser ihm vor, aus seinem Buch „La Tête de Mimer“ abgeschrieben zu haben. Als Beweis führte er diese vier Punkte an:

1. Auch sein Held ist Deutscher.
2. Auch sein Held findet eine Wegbeschreibung in einem Buch.
3. Auch diese Wegbeschreibung ist in Runen geschrieben.
4. Auch sein Held findet den entscheidenden Hinweis durch einen Schatten.

Verne räumte bei Punkt 4 eine Vergleichbarkeit ein, wies aber die Plagiatsvorwürfe zurück. Das Gericht wies die Klage ab. Es hält sich das Gerücht, dass Pont-Jest nur geklagt hatte, weil Verne ihm keine Eintrittskarten für eine Aufführung von „In 80 Tagen um die Welt“ hatte zukommen lassen.

Wenn überhaupt, dann hat Verne bei sich selber abgeschrieben, denn die Story ähnelt seinem eigenen Roman „Fünf Wochen im Ballon“, der kurz vorher erschienen war, sehr.

Fazit:

In diesem kurzweiligen Abenteuer wird es nie langweilig, und auch der Professor zeigt sich auf der Reise öfter mal von seiner fürsorglich menschlichen Seite. Hans hat ständig die Ruhe weg und bleibt in jeder Situation gelassen. Zusammen mit dem teilweise aufgedrehten, teilweise vor Erschöpfung schlafenden Axel sorgen diese drei unterschiedlichen Charaktere für Belebung und bereiten dem Leser eine Menge Spaß – ob dieser nun den Anmerkungssternchen folgt oder sie ignoriert.

Taschenbuch: 432 Seiten
Original: „Voyage au centre de la Terre“ (Paris 1864)
Aus dem Französischen von Volker Dehs
Mit sämtlichen Illustrationen der französischen Originalausgabe, Anmerkungen, Nachwort, Zeittafel und Briefen zum Plagiatsvorwurf
ISBN-13: 978-3423138826
www.dtv.de

Dieses Buch gehört zur Reihe „Klassiker der Abenteuerliteratur“ von dtv:

Daniel Defoe: „Robinson Crusoe“
Jules Verne: „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ (Juni 2010)
Mark Twain: „Tom Sawyers Abenteuer“ (Juli 2010)
Robert L. Stevenson: „Die Schatzinsel“ (August 2010)
Karl May: „Der Schatz im Silbersee“ (September 2010)
Jack London: „Lockruf des Goldes“ (Oktober 2010)

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (3 Stimmen, Durchschnitt: 3,33 von 5)

Keith Roberts – Der Neptun-Test

roberts-neptun-cover-kleinAtomwaffen-Tests verwüsten nicht nur die Erde, sondern locken unfreundliche Invasoren aus dem All an, die in Gestalt riesiger Wespen die Menschheit unterjochen, bis sich einige Widerständler einfallsreich gegen sie wenden … – Diese „gemütliche Apokalypse“ im klassisch englischen Stil verzichtet auf gewaltige Untergangs-Szenarien, sondern schildert die Katastrophe beinahe dokumentarisch aus der beschränkten Sicht isolierter Überlebender: von der Zeit überholte aber spannende Science Fiction.
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Birkin, Charles – So bleich, so kalt, so tot

_Das geschieht:_

In acht Geschichten lässt der Verfasser nackten Horror in trügerische Idyllen einfallen.

|So bleich, so kalt, so tot| („So Pale, So Cold, So Fair“), S. 7-26: In Athen lässt sich alles zu Geld machen, aber manchen Handel überlebt der Verkäufer nicht …?

|Das Gottesgeschenk| („The Godsend“), S. 27-43: Sie erscheint im goldrichtigen Moment, um auf das Kleinkind aufzupassen, weshalb die gestressten Eltern die Herkunft dieses Babysitters nicht so gründlich wie nötig überprüfen …

|Bello| („Rover“), S. 44-49: Er ersetzte seiner blinden Gattin Zeit seines Lebens die Augen, und zumindest auf die will sie nach seinem Tod nicht verzichten …

|Das Kinderfest| („Circle of Children“), S. 50-62: Ein gewaltiges Freudenfeuer und der Auftritt einer sehr überzeugenden Hexe – was kann damit bei einem Kinderfest schon schiefgehen …?

|Lots Weib| („Lot’s Wife“), S. 63-71: Sie machte ihrem Ehemann das Leben zur Hölle, weshalb seine Rache teuflisch ausfällt …

|Gideon| („Gideon“), S. 72-82: Die betrogene Gattin ist Notärztin und wartet geduldig, bis ein Unfall ihr die Nebenbuhlerin ausliefert …

|Eine faszinierende Schönheit| („A Hunting Beauty“), S. 83-103: Als selbst der Mord an der Rivalin ihr den Geliebten nicht zurückbringt, zieht die erzürnte Jacqueline die Terror-Schraube ein wenig zu fest an …

|Der Gott der Zuflucht| („Lords of the Refugee“), S. 104-126: Dieser Missionar legt auf einer Pazifik-Insel nach Ansicht der Bewohner zu viel Pflichtbewusstsein an den Tag und übersieht gleichzeitig, wie abgelegen dieser Ort ist …

_Die Lust am elegant servierten Schrecken_

Die „conte cruel“ oder „Schauergeschichte“ bezeichnet eigentlich ein Literaturgenre des 19. Jahrhunderts. Formal und inhaltlich wiegt der Verfasser seine Leser durch die Schilderung scheinbarer Alltäglich- und Nebensächlichkeiten in trügerischem Frieden. Naht das Ende, geschieht plötzlich Schreckliches, das gern plakativ, d. h. blutig und grausig ausfallen darf. Wenn dies gelingt und der Autor seinem Publikum einen (unterhaltsamen) Schrecken einjagen konnte, hat er das angestrebte Genre-Ziel erreicht, wobei Zurückhaltung oder die Einhaltung des sog. „guten Geschmacks“ zwar ausgeklammert blieben, der Verfasser das Grauen jedoch durch (schwarzen) Humor konterkarierte und ihm auf diese Weise ein Ventil schuf.

Da der Schock-Effekt auch einer modernen Leserschaft genehm ist, starb die Schauergeschichte nicht aus. Sie wandelte sich und passte sich den geänderten Zeitläufen an, was erwartungsgemäß vor allem bedeutete, dass der Schock an Intensität und Härte zunahm. Das finale ironische oder humoristische Element blieb ebenfalls erhalten.

Zu den modernen Meisters der Schauergeschichte gehören u. a. Robert Bloch (1917-1994), Roald Dahl (1916-1990) und Charles Birkin (1907-1986). Während Bloch und Dahl auch hierzulande mit ihren bösen Stories bekannt wurden, blieb Birkin, der ihnen durchaus gewachsen ist, in Deutschland fast gänzlich unbekannt. Nur zwei schmale Bände mit Erzählungen erschienen Anfang der 1970er Jahre. Sie sind immerhin repräsentativ und verdeutlichen, wieso Birkin in Großbritannien als Klassiker gilt und seine Werke präsent blieben.

|Der Alltag als Brutstätte des Todes|

Grausame Überraschungen auch in der modernen Gegenwart zwar nicht alltägliche aber doch mögliche Zwischenfälle. Birkin verwurzelt seine Geschichten sorgfältig in der meist idyllischen Welt der (englischen) Mittelklasse. Er nimmt sich viel Zeit, sie ausführlich zu schildern, und verliert sich dabei in Details, die mit der Handlung nur wenig zu tun haben – scheinbar, denn sie komplettieren das Bild des Friedens, das dem Verfasser wichtig ist: Der Leser lernt den Ort der Handlung ihre Figuren kennen und wird gleichzeitig ein wenig eingelullt.

Plötzlich kippt die Stimmung um. Nachträglich ist es möglich, diesen Moment im Text wiederzufinden: Birkin zieht die Samthandschuhe aus. Misstöne ziehen in das harmonische Geschehen ein, und sie werden stetig schriller. Unbehaglich verfolgt der Leser die Entstehung einer Situation, die nicht nur unerwartet, sondern auch unaufhaltsam ist. Die Normalität entpuppt sich als Fassade, hinter der sich höllische Abgründe auftun.

Der Höhepunkt ist fast schon identisch mit dem Finale. Birkin kennt nun keine Zurückhaltung mehr, er schont um des Effektes wegen weder Babys noch schwangere Frauen, schändet Leichen oder pumpt allzu vertrauensselige Touristen blutleer. Es wird brutal, blutig und oft schlicht widerlich. Der Kontrast zur Vorgeschichte könnte – und soll – nicht größer sein. Macht Birkin es richtig, fühlt sich der Leser nicht nur unterhalten. Geschichten wie „Das Gottesgeschenk“, „Bello“ und vor allem „Das Kinderfest“ hinterlassen zudem ein deutliches Gefühl des Unbehagens.

Ein solcher Doppel-Erfolg gelingt naturgemäß selten, zumal Birkin nicht nur oder immer erschrecken will. „Lot’s Weib“ oder „Der Gott der Zuflucht“ sind „nur“ Geschichten mit böser aber lustiger Auflösung. Mit „So bleich, so kalt, so tot“ oder „Eine faszinierende Schönheit“ schafft Birkin den Spagat zwischen Vorbereitung und Final-Effekt nicht; der eine ist in seiner Absurdität zu unglaubhaft, und der andere lässt das Intrigen-Opfer dem Wahnsinn verfallen, was zu vielen schlechten Autoren als billiger Ausweg dient.

|Andere Zeiten, andere (Un-) Sitten|

Vielleicht sollte man besser von „politisch unkorrekten“ Untaten sprechen, denn zu den Exzessen des Splatterpunks späterer Horror-Jahre klafft doch eine deutliche Lücke. Bekanntlich gibt es einen angelsächsischen, d. h. gleichzeitig schwarzen und trockenen Humor. Berühmt sind die Briten auch für ihr Talent, selbst Schreckliches deutlich aber trotzdem zurückhaltend darzustellen. Als „So bleich, so kalt, so tot“ 1970 erschien, war Charles Birkin seit vier Jahrzehnten im Literaturgeschäft. Obwohl er sich sichtlich bemüht, die Gegenwart in seine Geschichten einfließen zu lassen, wirken kurze Momente sexueller Offenherzigkeit etwas bemüht und aufgesetzt. Auf diese Art zu schockieren ist Birkins Ding eindeutig nicht.

Auch sonst stammt er nicht aus dem „Swinging London“ der späten 1960er Jahre. In Birkins literarischer Welt ist ein uneheliches Kind noch ein gesellschaftliches Todesurteil. Dies muss man verstehen, um die Verbissenheit zu begreifen, mit der sich die beiden weiblichen Protagonisten in (und um) „Gideon“ streiten oder Jacqueline in „Eine faszinierende Schönheit“ notfalls durch Mord Hindernisse auf dem Weg zur „ehrbaren“ Ehefrau ausräumt.

Ohnehin mögen feministisch engagierte Leser/innen über manche Geschichte die Stirne runzeln. Um 1970 steckte die Gleichberechtigung noch in den Kinderschuhen, wofür der Verfasser (sicherlich unfreiwillig) zahlreiche Belege liefert. Dies ist aber nur ein Indiz dafür, dass die Schauergeschichte à la Charles Birkin veraltet ist. Sie hat im 21. Jahrhundert ihre Relevanz verloren und an Schockwirkung eingebüßt. Nichtsdestotrotz gefällt Birkin durch die Kunstfertigkeit, mit der er die Worte zu setzen weiß, mit denen er sein Publikum erst einlädt, um es schließlich in Angst & Schrecken zu versetzen!

_Autor:_

Sir Charles Lloyd Birkin (geb. 1907), ab 1942 „5th Baronet of Ruddington Grange in the County of Nottingham“, studierte als Spross eines (allerdings nicht sehr alten) Adelsgeschlechtes standesgemäß in Eton und kämpfte mit seinem Regiment – den „Sherwood Forresters“ – im Zweiten Weltkrieg.

In den frühen 1930er Jahren gab Birkin für den Verlag Philip Allan zahlreiche Anthologie-Bände der berühmten „Creeps Library“ heraus. Unter dem Pseudonym „Charles Lloyd“ schrieb er selbst für diese Reihe. Seine Geschichten stehen den „contes cruels“ („Schauergeschichten“) des 19. Jahrhunderts näher als dem „richtigen“ Horror und setzen auf einen sorgfältig vorbereiteten, drastischen Schlusseffekt.

In den 1960er und 70er Jahren wurde Birkin erneut schriftstellerisch und als Herausgeber aktiv. Inzwischen verheiratet, verbrachte er seine späteren Lebensjahre in Sulby auf der Insel Man. Dort ist er 1985 gestorben.

|Taschenbuch: 126 Seiten
Originaltitel: So Pale, So Cold, So Fair (London : Tandem 1970)
Übersetzung: Jutta von Sonnenberg
Deutsche Erstausgabe: 1972 (Wilhelm Heyne Verlag/Heyne Allgemeine Reihe 01/947)
ASIN: B0027TPE1C|
[www.heyne.de]http://www.heyne.de

John Dickson Carr – Der blinde Barbier

Eine Freundesgruppe gerät während einer Atlantik-Überfahrt in ein mysteriöses Komplott, das mit dem Diebstahl eines peinlichen Schmalfilms beginnt, sich zum Schmuckdiebstahl steigert und mit Mord endet … – Der dritte Band der berühmten Gideon-Fell-Serie wirkt über weite Strecken wie eine zeitgenössische Screwball-Komödie und verzichtet auf die Anwesenheit des Detektivs, der erst im Finale auftritt und souverän 16 lose Fäden zum Fall-Knoten schürzt: als Kriminalroman ein nur bedingt gelungenes Experiment. John Dickson Carr – Der blinde Barbier weiterlesen