Goingback, Owl – Dunkler als die Nacht

_Das geschieht:_

Nach vielen Jahren kehrt Michael Anthony, ein berühmter Autor von Fantasy-Romanen, ins kleine Städtchen Braddock zurück. Hier in Hudson County, Missouri, wurde er nach dem Unfalltod der Eltern von seiner Großmutter Vivian Martin aufgezogen, bis die Behörden einschritten und der zunehmend wunderlich werdenden Frau das Sorgerecht entzogen.

Nun ist Vivian gestorben und hat ihrem Enkel ihr Haus hinterlassen. Michael, inzwischen Ehemann und Vater, nimmt das Erbe gern an, denn schon lange plant er, mit seiner Familie die Stadt zu verlassen. Während der achtjährige Tommy sich auf das Abenteuer, in dem einsam gelegenen Haus zu leben, schon freut, vermisst die 15-jährige Megan ihre Freunde und die vertraute Umgebung sehr, zumal die Bewohner von Braddock die Anthonys unfreundlich empfangen: Vivian galt als verrückte Hexe, und in ihrem Haus soll es umgehen. So spricht auch Sam Tochi vom Stamm der Hopi-Indianer, der von einem unterirdischen Höllenreich schwadroniert, aus dem fiese kleine Schreckgespenster zu entweichen suchen.

Michaels Gattin Holly ist die Erste, die bemerkt, dass in der Tat etwas nicht stimmt. Sie hört Geräusche, für die keinesfalls Mäuse oder andere Ungeziefer verantwortlich gemacht werden können. Auf dem Fußboden zeichnen sich wunderliche Muster ab. Die Manifestationen nehmen erst an Stärke und dann an Bedrohlichkeit zu. Etwas lebt in den Wänden oder im Boden unter dem Haus. Es hat sich schon Vivian Martin geholt und ist jetzt auf größere Beute aus. Die Begriffsstutzigkeit Michaels, der seine Familie und seinen Besitz notfalls mit der Schrotflinte zu schützen gedenkt, gibt ihm die Chance, sich zu formieren …

_Schema-F-Horror mit abgelaufener Haltbarkeitsdauer_

Gibt es unter uns Horrorfreunden jemanden, der die gerade skizzierte Story nicht mitsingen kann? Wie wird sie sich weiterentwickeln? Wird der indianerweise Sam dabei eine Rolle spielen? Kommt es am Ende zur großen Konfrontation zwischen Menschen und Monstern? Sind das nicht müßige Fragen, da die Antworten nur zu bekannt sind?

Leider, leider, denn man möchte die gute, alte Mär vom verfluchten Haus im einsamen Wald ja mögen. Sie ist ein unverwüstlicher Dauerbrenner des phantastischen Genres, was für die literarische Variante ebenso gilt wie für den Film. Man sollte sie freilich variieren – ein bisschen wenigstens, eine Herausforderung, die Autor Goingback jedoch meidet wie seine Spukschatten die hölzernen Schutzgeister im Haus der Anthonys.

Unbarmherzig reiht sich Klischee an Klischee. Die typische Großstadtfamilie fällt mit viel Hallo in die Provinz ein. Dort lebt einfaches Landvolk, das Misstrauen und Ablehnung als Primärtugenden pflegt. Der Sheriff ist ein Widerling, taub und blind für jeden Wink aus dem Jenseits, wobei die Hausgeister allerdings Spielverderber genug sind, jedes Mal durch Abwesenheit zu glänzen, sobald die aufgeregten Anthonys Zeugen oder Hilfe in ihr Heim einladen.

Wie üblich geht es mit schemenhaften Bewegungen und unerklärlichen Geräuschen los. Diese Vorfälle sowie die Suche nach einer ’natürlichen‘ Erklärung walzt Goingback ordentlich aus, bis er sich an der Katze vergreift, die er den Anthonys an die Seite schrieb, damit sie von den Geistern gekillt werden kann. (Vorher ist sie aber noch für einen beliebten Billig-Schock nützlich: Es tappt und schleicht durch die Flure, der ängstliche Hausherr treibt den Spuk in die Enge, reißt die Tür auf – und die fauchende Katze springt ihm ins Gesicht!)

Damit signalisiert er, dass die Handlung in den zweiten Gang schaltet. Ihren Kurs kann sie dennoch weiterhin per Autopilot halten. Jetzt kracht’s und buht’s tüchtig in dem alten Gemäuer, Kinder und Gattin werden nacheinander publikumswirksam in Gefahr gebracht, bis es endlich auch dem notorisch begriffsstutzigen Familienvorstand Michael dämmert: Hier geht es um!

_Figuren ohne Profil und Tiefe_

In Sachen Figurenzeichnung sollte Goingback noch einmal intensiv seinen Stephen King studieren. Wo dieser echte Menschen in die literarische Welt setzt, produziert Goingback nur Pappkameraden. Vor allem die Charakterisierung der Anthony-Kinder provoziert heftiges Augenrollen: Hollywood lässt grüßen. Kiddy- und Teenie-Klischees ergießen sich über den Leser, und wem dies nicht reicht, der wird auch den bigotten Pfarrer, den bodenständigen Bauersmann und andere Knalltüten im Figurenarsenal finden.

Auftritt Sam Tochi, denn natürlich wuchert Owl Goingback mit dem Pfund, das ihm seine Herkunft verleiht: Er ist ein ‚richtiger‘ Indianer, was die Beschreibungen uramerikanischer Folklore quasi zur dokumentarischen Realität erhebt: |“Man metzelte Indianer nieder und verwendete ihre Namen anschließend für Orte, Städte, Staaten. Man brachte ihre Bilder auf Geld, Tabak und Immobilien an, um Profit aus für immer verlorenen Dingen zu schlagen. So liefen die Dinge in Amerika.“| (S. 195)

Wer erschauert ob solch ernster Worte nicht in Ehrfurcht? Heben sich die Schwaden politisch korrekter Akzeptanz, wird dahinter zumindest im Rahmen dieses Buches allerdings nur Budenzauber sichtbar. Goingback selbst war die Figur Sam Tochi nicht wirklich wichtig; irgendwann lässt er sie aus dem Geschehen verschwinden, und niemand – auch nicht die Leserschaft – vermisst ihn.

_“Lang“ und „langweilig“ – das gnadenlose Duo_

Ein etwas strengeres Lektorat hätte „Dunkler als die Nacht“ womöglich um diverse Längen oder merkwürdige Exkurse erleichtert. Was soll der innere Monolog auf den Seiten 88 bis 90, als Goingback Michael Anthony endlos über die Zensur klassischer Zeichentrickserie im US-Fernsehen sinnieren lässt? Ist das ein Kommentar zur Kritik, der sich ein Schriftsteller, der vor allem Horrorgeschichten verfasst, immer wieder ausgesetzt sieht? Aber was hat der an dieser Stelle verloren? Hier gilt es eine Handlung voranzutreiben!

Abschweifungen dieser überflüssigen Art pfropft Goingback viel zu oft einer Handlung auf, die sich ohnehin recht lendenlahm dem Höhepunkt und Finale entgegenschleppt. Dem Text fehlt eine ausgewogene Struktur; die Konfrontation der Anthonys mit den Schreckgespenstern kommt abrupt, sie wird hastig und wiederum unter Einsatz ausgelaugter Spannungsklischees in Szene gesetzt und endet unbefriedigend. Der Tor zur Hölle sollte auf eine Weise geschlossen werden, die nicht gar zu viele logische Hintertürchen offen lässt.

_Klischee – eine Definitionsfrage?_

Vielleicht sollte ich an dieser Stelle einhalten und eine Differenzierung versuchen, um diesem Buch gerecht zu werden, das keineswegs ’schlecht‘ im Sinne von langweilig oder stilistisch stumpf, sondern vor allem mittelmäßig ist: Einer jüngeren Generation, die sich noch nicht durch unzählige kongruent gestrickte Vorgänger gequält hat, mag „Dunkler als die Nacht“ besser gefallen als dem erfahrenen und von Erfahrung gezeichneten Leser. Es ist eine gute, alte Geistergeschichte, die Goingback immerhin professionell abspult. Wer es nicht besser weiß oder wem dies reicht, der wird gut bedient.

_Der Autor_

Owl Goingback (geb. 1959) begann nach einer beruflichen Orientierungsphase, die unter anderem Tätigkeiten als Flugzeugmechaniker und Eigentümer eines Restaurants einschlossen, 1987 professionell zu schreiben. Seitdem ist er als Roman- und Kinderbuchautor, aber auch als Verfasser von Kurzgeschichten und journalistischen Beiträgen aktiv. Außerdem verdingte er sich als Ghostwriter für mitteilsame, aber des Schreibens unkundige Prominenz. Für seinen Horrorroman [„Crota“ 4838 wurde Goingback 1996 mit einem |Bram Stoker Award| für den besten Debütroman ausgezeichnet.

Der Autor trägt seinen indianischen Wurzeln Rechnung, indem er über die Sitten und Bräuche der US-amerikanischen Ureinwohner Vorträge hält. Mit seiner Familie lebt Owl Goingback in Florida. Über seine Arbeit informiert er auf seiner Website:

http://www.otherworld-verlag.com
http://www.owlgoingback.com

Nilsen, Tove – Nachtzuschlag

_Durchschnittlicher Psychothriller_

Eine Schriftstellerin steigt nach einem schönen Abend bei Freunden in ein Taxi. Doch die kurze Fahrt endet in purer Angst: Der Fahrer bringt sie in eine abseits gelegene Hütte und hat offensichtlich nur ein Ziel. Stunden der Angst und Ungewissheit, ja, der Abwehr folgen, um sich sich selbst behaupten zu können. Doch die Entführung gilt nicht irgendeiner Frau, sondern nur ihr persönlich. Da sieht sie endlich einen Lichtblick. Aber sie hat die Rechnung ohne den zweiten Mann gemacht …

_Die Autorin_

Tove Nilsen, 1952 geboren, veröffentlichte 1974 ihren ersten Roman. Seither hat die studierte Journalistin und Literaturkritikerin vierzehn weitere Bücher in verschiedenen Genres geschrieben. „Nachtzuschlag“ ist ein Psychothriller, der für seine Authentizität gelobt wurde. (Verlagsinfo)

_Handlung_

Nach einem Vortrag besteigt die Schriftstellerin, deren Namen wir nicht erfahren, spät am Abend ein Taxi, das sie nach Hause bringen soll. Die Frau erwartet dort niemanden, denn ihr Mann Harald und die Töchter Ida und Mia sind bei ihren Großeltern auf dem Lande in den Sommerferien. Der Fahrer spricht jedoch kein Wort, sondern fährt die Frau nicht an ihr Ziel in Oslo, sondern in ein Waldstück. Dort steht eine Hütte. Ihre Proteste verhallen ungehört.

Der Mann sieht stark aus, etwas ungehobelt und heruntergekommen. Vielleicht ein Arbeitsloser. Aber wenigstens rührt er sie nicht an. Noch nicht. Sie soll ihre Lederjacke und dann ihr Oberteil ausziehen. Soll sie wirklich nachgeben? Der Mann sieht aus, als könnte er ihr wehtun. Sie gibt nach, aber nur zum Schein, um ihn zum Reden zu bewegen. Er verrät sich, als er ein Foto seines Sohnes Martin zeigt. Dessen Spielsachen liegen in der Hütte. Aber wo ist Martins Mutter?

Wie sich herausstellt, ist Vera im Urlaub mit einem Schweden fremdgegangen und hat den Mann inzwischen verlassen – nicht ohne Martin mitzunehmen. Das Allerhärteste: Vera zeigte ihrem Mann einen Roman von unserer Schriftstellerin und behauptete, diese Autorin verstünde die Frauen. Natürlich im Gegensatz zu ihrem Mann. Kein Wunder, dass der Mann nun so sauer ist auf unsere Autorin. Sie bekommt richtig Angst vor ihm.

Was stellt er sich vor, was als nächstes passieren soll? Er hört sich am Handy Telefonsexgeschichten an. Na, toll, jede Menge Klischees, schnaubt die Autorin. Soll sie sich vielleicht gemäß solchem Schund verhalten? Kommt nicht in Frage. Sie geigt ihrem Entführer die Meinung. Das kommt allerdings gar nicht gut an. Und er versucht, sie im Bett dazu zu zwingen, ihm zu Willen zu sein.

In letzter Sekunde wird Finn – dieser Name ist ihm entschlüpft – allerdings durch die Ankunft seines Freundes Tommy gestört. Der will ihn zu einem Segeltörn einladen. Nichts da. Erst einmal müssen sie mit dem Problem der Entführten klarkommen. Mit dem Kidnapping scheint Tommy jedoch kein Problem zu haben, was die Hoffnung unserer Ich-Erzählerin zerschlägt. Ihr wird klar, dass diese beiden gesellschaftlichen Außenseiter gemeinsam zu allem fähig sind, und sie schnell etwas unternehmen muss.

Sie erinnert sich an ihre Interviews mit den Anarchisten …

_Mein Eindruck_

Die Ich-Erzählerin ist keine starke Frau, sondern schleppt sämtliche Ängste einer Durchschnittsfrau mit sich herum. Die Angst, verletzt zu werden. Die Angst, ihre Kinder zu verlieren. Sie wehrt sich nicht körperlich gegen ihren ungewöhnlich agierenden Entführer. Vielmehr stützt sie sich auf die Gabe, die sie in ihrem Leben am meisten genutzt hat: auf ihr Einfühlungsvermögen und Geschichten erfinden zu können.

Leider weiß das ihr Entführer ebenso gut, hat er doch wegen ihres Romans die Entführung erst veranlasst. Er dreht den Spieß um und erfindet selbst Lügengespinste: wie sie sich ihm angeboten habe; warum sie einen schwarzen Spitzen-BH trage; wie sie erzählt habe, dass sie es liebe, nachts herumzufahren und sich fremden Männern anzubieten. Das macht unsere Schriftstellerin reichlich wütend, aber sie muss es hinnehmen. Ihr Scheherazade-Trick ist durchschaut worden. Nun versucht Finn, seinen Freund Tommy vor ihr zu warnen.

Die Ich-Erzählerin hat keinen Namen, damit sich die Leserin leichter mit ihr identifizieren kann als wenn sie einen Eigennamen trüge. Automatisch überträgt die Leserin den Namen der Autorin Tove Nilsen auf die Ich-Erzählerin, obwohl das weder zwingend ist noch zulässig. Ein Autor kann schließlich jede beliebige Hauptfigur erfinden. Die Ich-Erzählerin ist jedoch so ungewöhnlich detailliert geschildert, dass die Übertragung naheliegt. Sie hat eine weit zurückreichende Lebensgeschichte, einen verzweigten Familien- und Freundeskreis, charakteristische Verhaltensweisen usw. Kurzum, sie ist ihr eigener kleiner Kosmos. Dieser ist nun bedroht.

Das Geschichtenerfinden ist für die Erzählerin quasi eine Selbstbehauptung, aber auch eine List, um den Entführer zu täuschen. Beides haut leider nicht hin, vielmehr entblößt sich im Kampf der beiden Menschen ihre eigene größte Schwäche: Dass sie fürchtet, nicht ganz im Leben verankert zu sein, sondern entwurzelt dahinzutreiben und sich ihr Leben zurechtzuträumen. An dieser Stelle wird klar, dass sich das Buch auch um die Probleme der Autorin selbst dreht. Diese Probleme sind, obwohl vielschichtig, doch verallgemeinerbar auf die künstlerische Situation vieler Schriftsteller.

Zum Glück bleibt es nicht bei solchen theoretischen Überlegungen. Im Finale ist vielmehr Action angesagt. Der Auslöser dafür ist bemerkenswert: Finn verbrennt ein geheimes Tagebuch der Ich-Erzählerin vor ihren entsetzten Augen. Es ist ihr das Wertvollste, was sie hat, sagt sie. Wertvoller noch als ihre Familie? Jedenfalls schlägt an dieser Stelle ihre Ablehnung Finns in Abscheu um. Der weitere Weg ist klar. Doch wird sie auch überleben?

|Die Übersetzung|

Ich fand die Übersetzung durchgehend recht gelungen. Allerdings leistet sich die Übersetzerin einen stilistischen Fehler: „Wir schämten uns |über| die Gelüste“ sollte korrekt „Wir schämten uns |für| die Gelüste“ heißen.

_Unterm Strich_

Anfangs habe ich mich über die geradezu gelähmte Passivität der Hauptfigur geärgert, die sie lange Zeit aufrechterhält. In der Mitte findet sie dann die Scheherazade-Strategie, mit der es ihr gelingt, Zugang zum Bewusstsein ihres Entführers zu erlangen. Doch der Schuss geht nach hinten los, als er sie durchschaut und den Spieß umdreht. Schließlich mündet die Handlung in Action und Überlebenskampf. Doch ein Ringen um geistige, emotionale und letztlich körperliche Selbstbehauptung als Frau macht die Handlung des gesamten Buches aus, soweit es die Hauptfigur betrifft.

Es ist auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle als Schriftstellerin. Sie kommt von einem Vortrag, reist in ferne Länder, lernt fremde Kulturen kennen, doch hat sie auch Wurzeln in der Heimat? Versteht sie ihre eigene Kultur und deren Vertreter? Dies ist die zweite Ebene an Bedeutung. Es gibt sicherlich noch weitere. Inhaltlich ist das Buch auf weibliche Leser zugeschnitten – es gibt nur einen Blickwinkel. Stilistisch ist es recht anspruchslos, und kein Leser dürfte Verständnisprobleme haben. Aber es ist kein großer Wurf, sondern der Ansatz eines Psychothrillers. Und den schreiben Amerikaner und Engländer wesentlich versierter und spannender.

|Originaltitel: Kvinner om natten, 2001
gebundene Ausgabe 2003 bei Ehrenwirt: 285 Seiten
Taschenbuchausgabe 2005: 288 Seiten
Sonderausgabe 2007: 285 Seiten
Aus dem Norwegischen von Dagmar Lendt|

Moon, Alan R. – Zug um Zug – Das Kartenspiel

_Kein Zielbahnhof in Sicht_

Nach dem Erfolg des Original-Titels im Jahre 2004 nutzte Erschaffer Alan R. Moon wirklich jede Möglichkeit, seinen Absatzgaranten „Zug um Zug“ in vielfältiger Art und Weise unters Volk zu bringen. Dies führte in der „Europa“-Fassung noch dazu, dass man sich über die Erweiterung der Spielkomponenten freuen konnte, hinterließ aber schon in der „Märklin“-Edition aufgrund der sich bietenden Stagnation einen faden Beigeschmack, da man sich des Eindruckes nicht erwehren konnte, der Schöpfer des Spieles des Jahres 2004 wolle sein Produkt bis zum letzten bisschen ausschlachten.

Dementsprechend skeptisch waren die nunmehr langjährigen Bahnreisenden, als die Kunde von einem Kartenspiel zum Thema die Runde machte. Wo sollte das nur noch hinführen? Doch überraschenderweise belehrt und Moon dieser Tage, dass gerade diese Idee dem Stillstand mit einem beachtlich gut umgesetzten Spielkonzept entgegenwirken kann.

_Spielidee_

Das Spielprinzip ist vergleichbar mit den großen Brettspiel-Brüdern. Die Spieler müssen durch das Sammeln von Waggons und Loks versuchen, die Anforderungen ihrer Streckenkarten zu erfüllen und somit die Verbindung zwischen verschiedenen amerikanischen Städten herzustellen. Jedem ist es dabei selber überlassen, wie hoch er pokert und welche Aufträge er annimmt, da er anschließend auch die jeweiligen Punkte für nicht erfüllte Missionen einbüßt. Wichtig ist weiterhin, dass man sich auf bestimmte Städte der sechs großen Metropolen spezialisiert, denn wer jeweils die meisten Aufträge mit deren Beteiligung erfüllt, bekommt am Ende des Spiels weitere Bonuspunkte. Derjenige, der schließlich das dickste Punktekontingent auffahren kann, gewinnt das Spiel.

_Spielmaterial_

• 1 Regelheft
• 80 Waggonkarten
• 16 Lokomotiven-Karten
• 46 Zielkarten
• 6 Karten ‚Großstädte‘

Bei der Gestaltung der verschiedenen Karten orientiert sich das Spiel ziemlich deutlich an den vorherigen Editionen, wobei besonders die Waggonkarten ein echtes grafisches Highlight geworden sind. Aber auch die Zielkarten wurden optisch noch einmal gehörig aufgepäppelt und verdienen gesonderte Beachtung. Einzig und allein die Farbgebung bei den Lokomotiven hätte ein wenig individueller sein können. Nicht selten geschieht es, dass man die Rückseite einer Karte wegen der starken Parallelen mit der Vorderseite einer Lokomotiven-Karte verwechselt, was in der praktischen Ausführung schon zu einer gewissen Unübersichtlichkeit führen kann. Ansonsten ist die Optik des Spiels absolut optimal.

_Spielvorbereitung_

Zu Beginn des Spiels erhält jeder Spieler eine Lokomotive sowie sieben Waggons. Weiterhin darf sich jeder aus einer Auswahl von sechs Zielkarten so viele heraussuchen, wie er behalten möchte, wobei er mindestens zur Abnahme einer Karte verpflichtet ist. Anschließend wird der aktive Spielbereich aufgebaut, und dies nach bekanntem „Zug um Zug“-Muster: Fünf Wagenkarten liegen offen, daneben befindet sich der verdeckte Nachziehstapel, aus dem später weitere Karten aufgedeckt werden. Besteht dieser Aufbau, beginnt das Spiel mit dem zuvor ausgewählten Startspieler.

_Spielaufbau_

Eine Spielrunde besteht aus genau zwei Phasen, von denen lediglich die zweite auch in jeder Runde gespielt werden muss. Hierzu muss zunächst der Mechanismus genauer erklärt werden: Das Spiel gliedert sich in mehrere Örtlichkeiten, die für das System relevant sind. Zunächst wäre da der Verschiebebahnhof. Dies ist der Platz, an dem man die Karten auslegt, die man für einen oder mehrere Aufträge nutzen möchte. Sobald diese Karten im Verschiebebahnhof ausgelegt sind, hat man sie allerdings noch nicht in Sicherheit gebracht, denn ein Angriff des Gegners kann bewirken, dass sie gestohlen werden und aus dem Spiel gelangen. Ziel sollte es also sein, in cleveren Schritten seine Karten in den Unterwegs-Stapel zu bekommen, jenem Stapel, in dem schließlich alle Waggons und Lokomotiven aufbewahrt werden, die man für die Erfüllung seiner Aufträge einsetzen möchte.

In der ersten Phase ist es nun möglich, Karten aus dem vorläufigen Hort des Verschiebebahnhofs in den Unterwegs-Stapel zu schieben, sofern sich eben auch Karten im Verschiebebahnhof befinden. Ist dies der Fall, muss der Spieler einen Waggon jeder dort befindlichen Karte weiterschieben. Sind sie nun im Unterwegs-Stapel, bleiben sie für den Rest des Spiels dort verdeckt liegen. Dies bedeutet gleichzeitig, dass man sich von Anfang an merken muss, welche Karten man bereits ausgespielt hat und welche Aufträge man hiermit abdecken kann. Dies wird im weiteren Verlauf allerdings zu einer nicht zu unterschätzenden Schwierigkeit.

In der zweiten Phase hat man nun die Auswahlmöglichkeit aus insgesamt drei Aktionen, von denen man aber nur genau eine durchführen darf. So ist es möglich, zwei neue Wagenkarten zu ziehen (entweder aus der offenen Auslage oder verdeckt vom Nachziehstapel) oder optional eine Lokomotive als Joker zu nehmen. Weiterhin darf man vier neue Zielkarten ziehen und ebenso wie in der Vorbereitung auswählen, ob und wie viele man hiervon behalten möchte. Die letzte Aktion betrifft schließlich den Verschiebebahnhof, in den man nun neuen Wagenkarten legen darf. Aber auch hier gibt es strikte Vorschriften: Entweder legt man zwei oder mehr Karten einer Farbe (plus eventuell Lokomotiven) dort hinein, oder aber wählt man genau drei Karten unterschiedlichster Farbe für den Verschiebebahnhof aus. Allerdings dürfen die Karten auch nur dann ausgespielt werden, wenn kein anderer Spieler die jeweilige Farbe bereits ausliegen hat. Ist dies der Fall, kann man den Spieler dennoch ärgern, nämlich indem man mehr Karten dieser Farbe auslegt. Der betroffene Spieler muss seinen Verschiebebahnhof dann leerräumen und verliert seine Waggons an das Spiel.

_Spielziel_

Abhängig von der Spielerzahl endet das Spiel, wenn der Wagenkarten-Stapel einmal oder zweimal (im Spiel zu viert) aufgebraucht wurde. Sobald dies geschehen ist, wird die laufende Runde noch zu Ende gespielt und anschließend gewertet. Alle erfüllten Aufträge bringen die darauf abgedruckte Punktzahl, wohingegen nicht geleistete Arbeiten mit der gleichen Punktzahl als Minus bestraft werden. Anschließend werden die Bonuspunkte für die Großstädte verteilt. Wer nun die meisten Punkte übrig behält, hat das Spiel gewonnen.

_Persönlicher Eindruck_

Ich muss zugestehen, dass ich von „Zug um Zug – Das Kartenspiel“ sehr positiv überrascht bin, da es sich einerseits sehr wohlwollend von den bisherigen Titeln distanziert und somit den bekannten Mechanismus gekonnt weiterentwickelt, andererseits aber auch nie der Gedanke aufkommt, hier handele es sich tatsächlich um die weitere Ausschlachtung eines Erfolgsprodukts. Der Transfer der Aufträge auf die Zielkarten ist sehr schön gelungen, und da man nun nicht mehr verpflichtet ist, seine Waggons für bestimmte Strecken abzulegen, kann man immer wieder taktieren und seine Strategie umwerfen, indem man seine Waggons anders als geplant für einen neuen Auftrag einsetzt. Auch die Idee mit dem Verschiebebahnhof ist sehr gelungen und fügt dem Spiel eine weitere strategische Komponente hinzu. Man kann nicht mehr einfach nur ablegen und punkten, da man gleichzeitig um seine wertvoll zusammengestellten Waggons fürchten muss. Lediglich an der Spielübersicht hapert es ein wenig, da es wirklich schwierig ist, sich bei zehn und mehr Aufträgen noch zu merken, welche Farbkonstellationen man im Laufe des Spiels gesammelt hat. Zwar würde der umgekehrte Schritt dem gesamten Mechanismus das Risiko nehmen, aber es erfordert wirklich höchste Konzentration, um hier am Ball zu bleiben, anschließend noch weitere Zielkarten anzunehmen und auch das übrige Spielgeschehen nicht aus dem Auge zu verlieren.

Ansonsten hat das Kartenspiel zum einstigen Spiel des Jahres die Reifeprüfung wirklich souverän gemeistert. „Zug um Zug – Das Kartenspiel“ ist eine echte Alternative zum Brettspiel-Klassiker und wider alle Befürchtungen eines der besten Kartenspiele seit längerer Zeit. Gut gemacht, Mr. Moon!

http://www.daysofwonder.com/tickettoride/de/cardgame/

[„Zug um Zug – Europa“ 3086
[„Zug um Zug – USA 1910 Erweiterung“ 3087
[„Zug um Zug – Märklin“ 3128

Cross, Janine – Auf dunklen Schwingen (Die Drachen-Tempel-Saga 1)

Zarq hat es nicht leicht. Sie wächst als Rishi – als Leibeigene – beim Clan der Töpfer auf, in einer Gesellschaft, die von der Religion des Drachentempels durchdrungen und streng patriarchalisch strukturiert ist. Aber immerhin hat sie satt zu essen, ein Dach über dem Kopf und etwas zum Anziehen – bis sie eines Tages etwas tut, das sie besser nicht getan hätte. Denn die im Grunde kleine Nebensächlichkeit zieht unerwartete Folgen für ihren gesamten Clan nach sich. Und Zarq muss lernen, was wirkliche Armut bedeutet! Doch das ist nicht das Einzige, was sie lernt. Allem voran lernt sie zu hassen …

_Das kleine Mädchen_ hat es vor allem deshalb nicht leicht, weil es so selbstbewusst ist. Obwohl es die gesellschaftlichen Normen im Grunde nicht in Frage stellt, neigt sein Temperament dazu sich aufzulehnen. Dazu kommt, dass seine Mutter aus dem Volk der Djimbi stammt, das auf der alleruntersten Stufe der gesellschaftlichen Hierarchie steht. Von dieser Mutter, die sowohl über die Weisheit als auch die Magie des Dschungelvolkes verfügt, lernt Zarq, Traditionen nicht als unfehlbar anzusehen, sondern ihren eigenen Kopf zu benutzen.

Insgesamt geht die Charakterzeichnung allerdings ziemlich im Entwurf der Welt unter. Ja, Zarq ist intelligent, zäh und leidet durch den frühen Tod der Eltern unter Verlustängsten. Ihr Denken und Fühlen ist nachvollziehbar. Und doch gelingt es dem Leser nicht, ihr wirklich nahe zu kommen. Zu erdrückend wirken die Umgebung und die Umstände, unter denen Zarq aufwächst.

_Dabei ist die Welt_, welche die Autorin da entworfen hat, gar nicht so fantastisch. Tatsächlich beschränken sich die Fantasyelemente auf die Magie der Djimbi und das Vorkommen von Drachen. Der Rest hat eine Menge Paten in unserer Realität. Fast scheint es, als hätte Janine Cross sich bei einer Vielzahl fremder, mehr oder weniger exotischer Kulturen die grausamsten Aspekte herausgesucht, um sie zu einer neuen Kultur zusammenzusetzen.

Das fängt schon damit an, dass Frauen nicht nur dem Mann untergeordnet, sondern auch religiös unrein sind, und zwar in jeder Hinsicht. Frauen wohnen in Häusern auf Pfählen, damit keine ihrer Körperflüssigkeiten, egal ob Monatsblut, Urin, Speichel oder Tränen, den vom Drachen geheiligten Boden verunreinigen kann. Frauen werden zwischen den einzelnen Clans gelegentlich gehandelt wie eine Ware, um das Blut des Clans aufzufrischen. Frauen dürfen den Männern nicht widersprechen, ja, außerhalb ihres Wohnortes dürfen sie überhaupt keine Männer ansprechen.

Aber auch die männlichen Rishi haben es nicht leicht. Jedes Jahr wählt der Drachenmeister unter den Rishi Jungen aus, die den Drachen als Diener zur Verfügung gestellt werden. Dies mag eine Ehre und künftigen Wohlstand für den jeweiligen Rishi-Clan bedeuten, doch für die Jungen bedeutet es eine Menge Qualen und Entbehrungen. Denn die göttlichen Drachen sind hochgiftig, und jedes Jahr aufs Neue müssen die Jungen beweisen, dass sie dieses Dienstes würdig sind – in einer grausamen und demütigenden Zeremonie vor den Augen aller Stadtbewohner.

Selbst zu ihren Göttern, den Drachen, ist die Religion des Drachentempels nicht gerade freundlich. Da in Gefangenschaft keine Bullen zur Welt kommen, werden sie im Dschungel gefangen. Einen Drachenbullen zu besitzen, ist wichtig für die Stadt, denn von der Drachenzucht hängen sowohl die Macht als auch der Wohlstand eines Fürsten ab. Vielen Jungdrachen werden allerdings schon bei der Geburt die Flügel amputiert und die Giftdrüsen entfernt; sie fristen den Rest ihres Lebens als Arbeitstiere oder als Zuchtstuten. Nur einige Jährlinge werden in grausamem Drill zu Reittieren für die adligen Krieger ausgebildet.

Dazu kommt noch einen extrem lebensfeindliche Umwelt: Die Jahreszeiten bestehen aus glühender Hitze, sintflutartigem Regen und Dauernebel. Das Land ist, außer dort, wo sich Städte befinden, von dichtem Dschungel bedeckt, der überquillt von stechenden Insekten, giftigen Schlangen und gefährlichen Raubtieren sowie diversen Krankheitserregern.

_Die Handlung_ ist vom Aufbau her zweigeteilt. Sie beginnt mit einem Prolog über Zarqs persönliche Katastrophe, um dann zu erzählen, wie es dazu kam. Der weitere Verlauf des Buches schließlich berichtet von den Folgen dieser Ereignisse. Auch die Örtlichkeit ist zweigeteilt. Die Rückblende spielt sich ausschließlich in der Stadt ab, während ein Großteil der späteren Handlung in einem Kloster im Dschungel stattfindet.

Der Handlungsverlauf ist erstaunlich unspektakulär. Genau betrachtet, ist es eigentlich eine Gesellschaftsstudie und nebenbei das Psychogramm einer geistig zerfallenden Frau, Zarqs Mutter, wenngleich dieser Aspekt später wegfällt. Erst ab diesem Punkt kommt die Magie stärker ins Spiel, bleibt aber zum größten Teil noch eher in Andeutungen stecken.

Im Großen und Ganzen ist das alles auch gar nicht schlecht gemacht. Die Autorin schreibt flüssig und lebhaft, gelegentlich überraschend derb, und ihre Sprache entwickelt einen regelrechten Sog, der selbst Details sehr realistisch und lebendig wirken lässt. Das gilt vor allem für die Zustände und Ereignisse im Kloster. Das erbärmliche Essen, die harte Arbeit, Beschneidung, Drogensucht – das alles wirkt in seiner Lebensechtheit fast wie eine Dokumentation über die Ärmsten der Armen in irgendeinem Entwicklungsland.

Eigentlich ist die Fähigkeit zu so intensiver Darstellung ja positiv zu bewerten. Aber alles hat seine Grenzen. Auch auf die Gefahr hin, ein Spießer zu sein, aber Sex mit Tieren – und sei es unter dem Versuch, die Sache als mystische Erfahrung mit einem weisen, göttlichen Wesen darzustellen – war mir dann doch zu viel!

Dann brach die Handlung auch noch so unvermittelt mitten in einer Szene ab, dass sich mir der Verdacht aufdrängt, dass hier wieder mal ein Buch in Stücke gehackt wurde. Sollte das der Fall sein – was ich nicht hoffe, denn |Heyne| war bisher immer die erfreuliche Ausnahme dieser unangenehmen Praxis -, dann hat der Verlag sich damit keinen Gefallen getan. Denn nach gut fünfhundert Seiten sozialkritischer Zustandsbeschreibung wäre es mal an der Zeit, dass die Protagonistin aktiv wird. Genau an dieser Stelle aber, als nach all den dramatischen Leidenserfahrungen mal Umwälzungen in Gang zu kommen und die Handlung Fahrt aufzunehmen scheinen, bricht das Buch ab. Die dramatischste Stelle bleibt damit der Prolog – so etwas wie einen Spannungsbogen sucht man vergeblich.

_Mein Eindruck_ ist daher etwas zwiespältig. Die erste Hälfte des Buches fand ich tatsächlich interessant, große Teile der zweiten dagegen haben mich eher abgestoßen als fasziniert. Und ich bin mir nicht sicher, ob der nächste Band das Versprechen von Veränderung halten wird oder ob Zarq nicht einfach nur an einen dritten Ort gelangt, an dem sie weiter leiden wird, nur eben auf andere Art und Weise als bisher. Mein Interesse an der Fortsetzung hält sich deshalb in Grenzen, denn eine detaillierte Studie über soziale Ungerechtigkeiten innerhalb der Tempelhierarchie gemischt mit neuerlichen transzendenten Höhepunkten muss ich nicht unbedingt haben!

Mir hat Anne Bishop, mit der Janine Cross auf dem Klappentext verglichen wird, wesentlich besser gefallen. Auch im [Juwelenzyklus 3526 finden sich erotische und grausame Details, allerdings auch freundliche, warmherzige, humorvolle Szenen, die bei Janine Cross nahezu völlig fehlen. Ich würde die Drachenthronsaga weniger als dunkle denn als düstere Fantasy bezeichnen, wobei sich der Eindruck des Fantastischen durch die geringe Ausarbeitung der Details im Zusammenhang mit der Magie im Vergleich zu den so eindringlich beschriebenen Szenen des Elends massiv in Grenzen hält.

_Janine Cross_ ist gebürtige Kanadierin, war als junge Frau aber ein ausgesprochen unruhiger Geist, den es nicht Zuhause hielt. Im Alter von achtzehn Jahren machte sie sich auf gen Osten, zu Fuß, mit Segeln und Pedalen, besuchte den Nahen Osten, Ägypten, Asien und Australien. Die Eindrücke, die sie von dort mitbrachte, haben auf ihren ersten Roman unübersehbar Einfluss genommen. Außer der Drachenthronsaga, deren zweiter Band im Oktober unter dem Titel „Im Bann des Feuers“ in die deutschen Buchläden kommt, hat Janine Cross noch einige Kurzgeschichten geschrieben. Sie lebt heute mit ihren beiden Kindern in North Vancouver.

|Originaltitel: Touched by Venom
Übersetzt von Wolfgang Thon
Taschenbuch, 512 Seiten|
http://www.heyne.de

Peter Lerf, Martin Sabel, Jan-Soeren Haas – Der Unendliche

_Handlung:_

Kathie und ihre Freunde wollen eine unbeschwerte Party in einer einsamen Hütte im Wald feiern. Um einige Sachen wie Lebensmittel und Alkohol zu besorgen, fährt die junge Frau einen Tag früher los. Als der Rest der Clique schließlich eintrifft, sind Kühlschrank und Speisekammer zwar gut gefüllt, doch von Kathie fehlt jede Spur: Diese wurde von einem geheimnisvollen Fremden namens Gorga entführt und in einer Höhle gefesselt, wo er ihr offenbart, was er wirklich ist.

Bereits vor mehr als 500 Jahren trieb er sein Unwesen und führte eine junge Frau in Versuchung, die als Hexe gebrandmarkt, gefoltert und schließlich hingerichtet wurde. Gorga, ein unsterblicher Dämon, ist einsam und langweilt sich. Verzweifelt sucht er eine Gefährtin, welche er für seine dunklen Triebe benutzen kann.

Um Kathies Willen zu brechen, beginnt der dämonische Gorga ein tödliches Spiel mit ihren Freunden …

_Meine Meinung:_

„Der Unendliche“ ist eine Koproduktion der Labels |Gigaphon Entertainment| und |Pandoras Play|. Erstere ist eine sehr junge Firma des Schauspielers Martin Sabel sowie des Autors und Produzenten Peter Lerf, die demnächst mit ihrer neuen Fantasy-Serie „Dragonbound“ startet. |Pandoras Play| hat sich bereits mit innovativen Serien wie „U-666“, „Das dunkle Meer der Sterne“ oder auch „Schattensaiten“ und „Grüße aus Gehenna“ einen Namen gemacht.

Das vorliegende Hörspiel ist eine in sich abgeschlossene Gruselgeschichte, die von Peter Lerf geschrieben wurde. Das Drehbuch ist intelligent, originell und legt den Sprechern realistische Dialoge in den Mund, die sich nie gekünstelt oder konstruiert anhören. Lediglich mit der Clique Jugendlicher, die in einer einsamen Waldhütte Party machen will und nach und nach dezimiert wird, bedienen die Macher das gängige Klischee der Teenie-Horror-Filme à la „Halloween“, „Scream“ oder „Prom Night“.

Allerdings geht es hier nicht nur um einen Killer, der seine perversen Veranlagungen auslebt: Hauptperson und Antagonist dieses 150-minütigen Hörvergnügens ist Gorga, der Unendliche, ein Dämon, der eine geeignete Gefährtin sucht und ein perfides Spiel mit seinen Opfern treibt. Dargestellt wird der hinterhältige Bösewicht eindringlich und realistisch von Martin Sabel. Der Schauspieler ist im Audio-Bereich vor allem als der Magier Masoy aus den „Drizzt“-Hörspielen von |Lausch – Phantastische Hörspiele| bekannt, oder auch als böser Zauberer Kaskaras aus dem Debüthörspiel „Legend – Hand of God“ des Labels |Weirdoz|. Und genauso wie in den eben erwähnten Produktionen liefert der Mime eine eindrucksvolle Arbeit ab und verleiht dem Charakter mit seiner markanten und dunklen Stimme sehr viel Tiefe und Lebendigkeit. Die Emotionen des Dämons werden von Sabel hervorragend transportiert, und die Arroganz und Hochmütigkeit dieses Wesens, das so viel älter ist als die Menschen, kommen perfekt zur Geltung. Auch der trockene, bissige Humor dieser Figur wirkt keinesfalls aufgesetzt und animiert an der einen oder anderen Stelle zum Lachen, ohne dass die Ernsthaftigkeit der Handlung in Frage gestellt würde oder gar die Spannung darunter litte.

Als Protagonistinnen stehen Martin Sabel die Sprecherinnen Roswitha Schreiner und Malah Helman zur Seite; beides junge, talentierte Schauspielerinnen aus Berlin, die auch im vorliegenden Hörspiel eine unglaublich gute Vorstellung liefern und so manchen Kollegen alt aussehen lassen. Die Darstellung der jungen Frau Kathie oder des Mädchens LeeAnn, welches als Hexe verurteilt wird, gelingt den beiden Damen jedenfalls hervorragend. Erzähler ist in diesem Hörspiel Markus Haase, der leider an einigen Stellen ein wenig hölzern und emotionslos spricht, aber im Großen und Ganzen dennoch eine ordentliche Arbeit erledigt. Erwähnenswert ist auf alle Fälle noch Erik Hansen, der den Richter O’Leary spielt, welcher den Prozess gegen LeeAnn leitet. Die herrische, ungeduldige und selbstgefällige Art dieses Charakters wird von Hansen mit seiner tiefen Stimme authentisch wiedergegeben und man merkt, wie er sich in seine Rolle hineingedacht hat. Leider hat die Handlung einige Längen und zieht sich stellenweise erheblich, vor allem auf der ersten CD.

In Punkto Effekte und Hintergrundgeräusche kann „Der Unendliche“ ebenfalls auf ganzer Linie überzeugen. Die Szenerie wird immer von angemessenen und realistischen Backgroundsounds begleitet, wie beispielsweise dem Zwitschern von Vögeln, dem Zirpen von Grillen oder auch dem Murmeln von Stimmen. Die Musik ist ein wahrer Ohrenschmaus, und vor allem der Song am Ende der Story ist wirklich gelungen und passt ideal zum Abspann.

Lediglich in Sachen Layout ist das Hörspiel sehr einfach gehalten und zeigt eine Grafik, die zwar passend zum Inhalt ist, aber ansonsten kaum als einfallsreich bezeichnet werden kann. Dennoch: Hörspielfans auf der Suche nach einer spannenden Gruselgeschichte werden durch das bösartige Augenpaar sicherlich neugierig gemacht und schlussendlich ja mit einer interessanten und großartig inszenierten Story belohnt.

_Fazit:_

Das Einzelhörspiel von |Gigaphon| ist eine intelligente Gruselmär, die in Story und Handlungsablauf neue Wege beschreitet und interessante Charaktere zu bieten hat, welche von hochprofessionellen Sprechern verkörpert werden. Vor allem Martin Sabel, Roswitha Schreiner und Malah Helman spielen ihre Rollen grandios. Musik und Hintergrundgeräusche sind von allererster Güte. Nur die Handlung wirkt in den 150 Minuten Spielzeit zum Teil sehr ausgewalzt und die Teenie-Party in der Waldhütte erinnert stark an einschlägige Filme.

150 Minuten auf 2 CDs
www.pandorasplay.de

Florian Hilleberg

S.H.A. Parzzival – Krakentanz (Titan-Sternenabenteuer 27)

Handlung:

Anake und Cy begleiten den Wirtschaftsmagnaten Michael Moses beim Jungfernflug der |Hindenburg II|: Das Luftschiff ist auch in der Lage zu tauchen und bis in die Tiefsee vorzustoßen. Bei der Demonstration der Fähigkeiten des Wunderwerkes der Technik kommt es zu einem erneuten Anschlag der Ökoterroristen: Ein Riesenkrake greift die |Hindenburg II| an.

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Ulrich, Stefan – Quattro Stagioni. Ein Jahr in Rom

Den Traum vom Aussteigen, vom Leben im sonnigen und vielleicht sorgenlosen Ausland hegt wohl jeder einmal. Doch Träume können manchmal auch zu Schäumen werden und sich schlimmstenfalls in Alpträume verwandeln. Leben und Arbeiten in einer kulturellen Metropole wie beispielsweise Rom versprechen viel Sonne, eine hervorragende Gastronomie und nette Menschen. Doch vergessen wir oftmals, dass es auch bürokratische Hürden gibt und dass Nationen in ganz natürlicher Weise eine andere Mentalität haben, die wir erst dann begreifen, wenn wir uns anpassen müssen oder resigniert umkehren und uns geschlagen geben.

Man kann nicht überall und zu allem eine |bella figura| abgeben, jedenfalls könnte es manchmal schwerfallen. Es gibt unzählige Einzelschicksale von Menschen, die um ihren Traum gekämpft und verloren haben, andere hingegen waren entweder intelligenter oder einfach praktischer veranlagt, sie passten sich der Mentalität, der Lebensart, der Sprache an und fanden neue Wurzeln in einem fernen Land.

Rom ist nicht nur die Zentrale des katholischen Glaubens sondern hat natürlich geschichtlich und kulturell mehr aufzubieten als jede andere Hauptstadt Europas. Insbesondere für Menschen, die im Journalismus und Kulturbereich tätig sind, ist diese Stadt wohl die Perle eines jeden Reporters.

Der Autor Stefan Ulrich ist mit seiner Frau und seinen beiden Kindern als Journalist einer großen Münchner Tageszeitung auf Bitten und Drängen nach Rom gezogen. In seinem Roman „Quattro Stagioni. Ein Jahr in Rom“ erzählt er von den ersten Schritten auf römischem Boden und allerhand Schwierigkeiten, aber auch von herzlichen Begegnungen mit Menschen und urkomischen Alltagssituationen.

_Story_

„Habt ihr’s gut“, hört Familie Ulrich von ihren Freunden ständig, als diese erfahren, dass die vierköpfige Familie in die italienische Hauptstadt Rom zieht. Stefan Ulrich wird dort als Korrespondent für seine Münchner Tageszeitung tätig sein. Ein Jugendtraum wird wahr: Dolce Vita in Bella Italia.

Doch schon die Anreise ist per Auto über den Brenner ein kleines Abenteuer für sich, und bereits das angemietete Haus im Zentrum der ewigen Stadt überrascht die freiwilligen Emigranten: ein kleiner Vorgeschmack auf das Leben in Rom. Der Palazzo der Familie Ulrich liegt in Prati, einem Stadtviertel am Tiberufer unweit des Vatikans; ein schmuckes Mehrfamilienhaus, das im römischen Hochsommer von einem Hausmeisterehepaar behütet und gewartet wird.

Zwar werden die Ulrichs herzlich und liebevoll empfangen, doch die geräumige Wohnung kommt den neuen Römern eher vor wie eine altägyptische Grabkammer: Fehlendes warmes Wasser und Strom sind nur die ersten Willkommensgeschenke. Doch auch das wird mit Hilfe des netten Hausmeisters Filippo fürs Erste geregelt. Der Bürokratismus ist in der Stadt, die diese Organisationsform praktischg erfunden hat, vielfältiger als in Deutschland, und so gibt es für die junge Familie noch vieles zu meistern.

Stefan und Antonia Ulrich fühlen sich unter den Römern wie Exoten, und teilweise werden sie auch so behandelt, aber das nur im positiven Sinne. Die Deutschen haben eher eine ruhigere Mentalität gegenüber den impulsiven, aber immer lebensfrohen Italiener. Schnell finden Sie Freunde und Anschluss, und auch die |bambini| haben alles andere als Kommunikationsschwierigkeiten und entwickeln sich prächtig zwischen den Welten. Die Ulrichs überleben einen italienischen Kindergeburtstag, der ein klein wenig ausartet, wobei die italienischen Freunde auf dem Schlachtfeld eher noch begeistert in die Hände klatschen.

Als die junge Tochter Bernadette sich ein Meerschweinchen als Haustier halten möchte, wird der notwendige Besuch bei einem Tierarzt zur einer Expedition ins Tierreich. Es wird nicht nur teuer, sondern die Operation verläuft auch alles andere als erfolgreich, und wenig später gibt es deswegen eben nicht nur ein Meerschweinchen bei den Ulrichs. Also, da hilft nur eines: Der Dottore wird wohl drumherum kommen, Alimente zahlen zu müssen. Schlimm genug, dass dieser promovierte Tierarzt zu allem Überfluss auch noch das Meerschweinchen für eine Ratte hält.

Aber das römische Leben ist auch anderweitig vielseitig. Zum Schlemmen fährt man in die romantische Toskana, und wenn man Skifahren möchte, so fegt man in den Abruzzen über die Pisten. Selbst an den römischen Stadtverkehr gewöhnt man sich schnell, wenn man begreift, dass ein Auto nur das Mittel zum Zweck ist, um möglichst schnell sein Ziel zu erreichen.

Stefan Ulrich erzählt von Ertruskerschätzen und zugleich von archäologischer Grabschändung; er verherrlicht die Metropole Rom und seine Erlebnisse in ihr nicht nur, sondern schildert die Schwierigkeiten, die auftreten, wenn zwei unterschiedliche Mentalitäten wie die deutsche und die italienische auf aufeinandertreffen. Es gibt mit Sicherheit viele Reibungspunkte und Meinungsverschiedenheiten, doch augenzwinkernd verrät der Autor, wie man sich in der Großstadt Rom verhält und lebt und was das Leben in der Traumstadt so einmalig schön macht.

_Kritik_

„Quattro Stagioni. Ein Jahr in Rom“ ist ein autobiografischer Roman. Mit viel tiefgründigem Humor fängt die Erzählung bei der Anreise und den ersten Schwierigkeiten und Anforderungen an. Wer schon einmal längere Zeit im Ausland gelebt und gearbeitet hat, wird sich in manchen Situationen, lustigen wie nervenaufreibenden, wiederfinden. Wenn wir so über die Bürokratie auf deutschen Ämtern nachdenken und schließlich diejenige unserer südeuropäischen Nachbarn kennenlernen, so werden wir herbe Unterschiede erkennen, wie wir sie uns in unseren schlimmsten Träumen nicht vorstellen könnten.

Der Roman bietet witzige und unterhaltsame Lektüre und gibt sogar nützliche Tipps für neurömische Bürger – ein hilfreicher Insiderbericht, der augenzwinkernd warnt und Hilfestellung gibt. Stefan Ulrich übernimmt aber in keinem Kapitel jeweils die Pro- oder Kontraposition. Er überlässt es schlauerweise dem Leser, sich ein Bild vom Leben in Rom zu machen. Von allen Daheimgebliebenen beneidet – sicherlich auch von manchem Leser -, erleben die Ulrichs eine wahre, amüsante, aber auch ernsthafte Odyssee.

_Fazit_

„Quattro Stagioni. Ein Jahr in Rom“ eignet sich hervorragend für den nächsten Sommerurlaub in „Bella Italia“. Es ist ein angenehmer, unterhaltsamer Roman, erzählt in abwechslungsreichen Passagen, und die Protagonisten agieren zweifelsfrei glaubwürdig, doch viel mehr ist das Buch nicht. Oberflächliche Erzählungen in einzelnen Momentaufnahmen werden zwar witzig geschildert, aber so amüsant dieser Roman auch ist, so schnell wird der Leser ihn wieder vergessen haben.

_Der Autor_

Stefan Ulrich wurde 1963 in Starnberg geboren. Im August 2005 zog er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern von München nach Rom um. Von dort berichtet er als Korrespondent der |Süddeutschen Zeitung| über Rom, Italien und den Vatikan.

|297 Seiten|
http://www.ullsteinbuchverlage.de

Hannes Hegen (Hrsg.) / Lothar Dräger (Text) / Edith Hegenbarth (Zeichnungen) – Digedags in New York, Die (Amerikaserie Band 15)

Unter der Schirmherrschaft von Hannes Hegen erschienen im „Mosaik“ Monat für Monat die Abenteuer des zwergenhaften Trios bestehend aus den mutmaßlichen Brüdern Dig, Dag und Digedag – kurz: „Die Digedags“. Allerdings nur im Osten der Republik, denn im Westen waren (und sind) die drei umtriebigen Wichte – und Vorväter der etwas bekannteren „Abrafaxe“ – weitgehend unbekannt. Nach der Wiedervereinigung wurde es still um die Digedags, bis 2005 alle bisher erschienenen Geschichten vom wiederauferstandenen Verlag |Junge Welt| noch einmal als Sammelbände zu je vier Heften komplett neu aufgelegt wurden.

_Die Digedags_

Die drei tauchen in verschiedenen Menschheitsepochen auf und erleben dort ihre Abenteuer bzw. begleiten Persönlichkeiten dieser Ära mit Fleiß, Wissen und Witz. Die stets jugendlich wirkenden Digedags altern nicht und ihr markantes Äußeres bleibt weitgehend unverändert – sämtliche leichten Variationen in ihrem Aussehen sind wohl eher der Weiterentwicklung Edith Hegenbarths als Zeichnerin zuzuschreiben. Die Texte legte ihnen Lothar Dräger in den Mund, das heißt: Nein, nicht direkt. Bei den Digedags herrscht nämlich weitgehend Sprechblasenfreiheit. An die Untertitelung der Panels hat man sich aber schnell gewöhnt und sie schätzen gelernt.

_Die Amerikaserie_

Die Amerikaserie, welche 1979 erstveröffentlicht wurde, ist eine der größten und umfasst 60 Einzelhefte (von 152 bis 211). Diese schafften es, ursprünglich zusammengefasst in insgesamt zehn Sammelbände, bis zur stolzen achten Auflage. Diese erschien noch 1989, kurz vor dem Mauerfall. Die Geschichte der Amerikaserie beginnt in New Orleans 1860, bevor der amerikanische Bürgerkrieg ausbrach, und sie endet in New York vier Jahre später. Bis dahin haben sich die Digedags quer durch den nordamerikanischen Kontinent gewuselt und im Kampf gegen die Sklaverei allerhand erlebt.

_Band 15 – Die Digedags in New York (Mosaik 208 bis 211)_

Bevor die letzte Etappe in Angriff genommen werden kann – die Passage über den Atlantik, entlang der Ostküste der USA bis zum Ziel New York -, muss zunächst noch der „Flibustier-Zyklus“ auf San Felipe zu einem Ende gebracht werden – zu einem glücklichen, wie nicht anders zu erwarten war. Pedro verlobt sich mit Senorita Isabella und der Don gelobt (nicht ganz freiwillig und ebenso scheinheilig), mit seinen fruchtlosen Piraten-Kapriolen aufzuhören. Die Digedags sind selbstverständlich wieder frei und können ihre Reise zur Unterstützung des „Sklaven-Express“ mittels des von ihnen geborgenen Goldes (vgl. „Die Digedags und der Goldschatz“) endlich fortsetzen. Der amerikanische Bürgerkrieg ist mittlerweile voll entbrannt, und das wirft dem Trio erneut Steine in den Weg.

Kurz nachdem sie ein nach New York schipperndes Nordstaaten-Patrouillenschiff aufgabelt hat, wird dieses in ein Gefecht mit einem Blockadebrecher verwickelt. In dessen Verlauf werden die Digedags von Bord gerissen und stranden an der Küste Floridas – bekanntlich Mitglied der Union der Südstaaten. Durch einen Zufall treffen sie Bob Morris (Jenny Jokers Beinahe-Verlobter, vgl. „Die Digedags am Mississippi“) wieder, welcher inzwischen als Yankee-Offizier im Untergrund tätig ist. Er und seine Truppe sind nach einem groß angelegten Sabotageakt sowieso auf dem Weg in den Norden. Er bietet den Digedags natürlich die Mitfahrt an, doch ihr Schiff, das sie heimlich abholen und nach New York bringen soll, wird an der Küste von Südstaaten-Einheiten aufgebracht und vertrieben. So bleibt nur der beschwerliche und gefährliche Marsch durch Feindesland, bis man sichere Nordstaaten-Territorien erreicht.

_Eindrücke_

Endspurt. Im letzten Band der Serie wird der wichtigste Handlungsstrang – die Verwertung des Goldschatzes für die Sache des Nordens – halbwegs zufriedenstellend abgeschlossen, wobei das Ende des großen Abenteuers mit drei Hopplahopp-Kapiteln doch ein wenig dürftig ausfällt. Man hätte zumindest das Schicksal der restlichen Hauptfiguren (speziell Mrs. Jefferson, Colonel Springfield, Abe Gunstick aber auch von Doc Tombstone und Jack – Coffins hatte sich ja eh selbst gerichtet) vielleicht noch beleuchten sollen, desgleichen die Agenten Clever und Sniffler. Diese allesamt sehr wichtigen Gestalten, die uns über Bände hinweg immer wieder begleitet haben, entschwinden recht abrupt aus der Geschichte. Erstaunlich, wenn man bedenkt, welch Aufwand betrieben wurde, um manche Figuren und Begebenheiten zu implementieren.

Wenigstens weiß man Major Pinkerton, Smokey, Käpt’n Blubber und Pedro in sicherer Obhut. Dass Jenny und Bob heiraten würden, war zwar auch klar, ist aber den Machern lediglich eine Fußnote auf der letzten Seite wert. Auch der Werdegang der restlichen Joker-Familie – also Jonathan, Jeremias, Jesse und Emily – bleibt im Dunklen. Schade, denn die Leserschaft hätte sich bestimmt ein „runderes“ Finish der Serie gewünscht. Über Sinn und Unsinn der Neuauflage ist auch an dieser Stelle schon viel referiert worden. Die alte Aufteilung der Serie auf zehn Bände war schlüssiger und die Übergänge eleganter. Seit die Serie 2005 auf 15 Bände gebracht wurde, was man mit Reduzierung der Seitenzahl pro Band erreichte, sind die Schnitte krasser und die Bücher enden häufiger als früher in nachweislich unnötigen Cliffhangern.

_Fazit_

Es ist geschafft! Nach respektablen 1500 Seiten ohne eine einzige Sprechblase ist die Amerikaserie im Zielhafen eingelaufen; zum Schluss etwas hektisch und irgendwie unrund, doch wie immer mit Witz und Charme. Leider werden nicht alle Handlungsstränge in letzter Instanz befriedigend abgeschlossen, und das hinterlässt hinsichtlich der Gesamtstory einen leicht unfertigen Eindruck. Die komplette Neuauflage (und nur so hat die Serie wirklich Sinn) ist mit knapp 195 Euro (12,95 € pro Band) teuer zu bezahlen; alternativ dazu ist es möglich zu versuchen, günstig an die zehn alten DDR-Bände zu kommen. Es lohnt sich. Die Digedags haben es nämlich verdient, mehr gelesen zu werden – nicht nur von alten und gealterten Fans.

_Die Buchdaten auf einen Blick:_

„Die Digedags in New York“ – Amerikaserie, Band 15
Enthält die Mosaik-Hefte 208 bis 211
© 1980 und (Neuauflage) 2005 – Buchverlag Junge Welt, Berlin
Herausgeber: Hannes Hegen
Text: Lothar Dräger
Figurinen: Edith Hegenbarth
ISBN: 3-7302-1887-5 (neu)

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Berkeley, Jon – 212 Könige, Die (Die unglaublichen Abenteuer von Miles und Little 2)

Band 1: [„Das gestohlene Lachen“ 3839

Nach ihrem haarsträubenden Abenteuer in der Hauptstadt leben Miles und Little nun zusammen mit den anderen Kindern bei Lady Partridge in deren Landhaus – zumindest bis der Zirkus der Brüder Bolsillo nach Larding kommt.

Die drei Clowns, die Miles und Little im Palast des Lachens gegen den Großen Cortado beigestanden haben, wollen Little für eine Saison mit auf Tournee nehmen. Sie hoffen, dass Littles Musik dabei hilft, den Menschen ihr gestohlenes Lachen zurückzugeben. Also begleiten Miles und Little die drei Brüder. Aber wie sie nur zu bald erfahren, ist der Große Cortado aus der Psychiatrie ausgerissen und nun auf der Suche nach dem Jungen, der ihm so gründlich die Tour vermasselt hat …

_Die Charaktere_ sind größtenteils dieselben wie im ersten Band. Dadurch, dass Miles und Little die Bolsillos begleiten, verschiebt sich die Gewichtung ein wenig von Lady Partrigde und Bolzenglas weg hin zu den drei Clowns, aber wirklich neu ist nur Doktor Tau-Tau. Doktor Tau-Tau ist Wahrsager und ausgesprochen überzeugt von sich selbst, obwohl er meistens ziemlich danebenliegt. Abgesehen davon ist er ein wenig konfus und ziemlich ängstlich. Und er hütet offensichtlich ein Geheimnis.

Wie die übrigen Charaktere ist auch Doktor Tau-Tau sehr gut dargestellt und passt hervorragend in das Sammelsurium aus kuriosen, etwas schrägen Typen, die Jon Berkeleys Roman bevölkern. Aber obwohl die Charakterzeichnung problemlos mit dem Vorgängerband mithalten kann, gelingt es ihr diesmal nicht, ihren vollen Charme zu entfalten, vielleicht deshalb, weil Doktor Tau-Tau diese Aufgabe diesmal fast allein erfüllen muss. Erst als gegen Ende des Buches der Zirkus wieder nach Larding zurückkehrt und auch die anderen Figuren wie Lady Partridge und die örtlichen Polizisten, allen voran Sergeant Brumley, wieder auftauchen, wird dieser Aspekt wieder etwas lebendiger und spritziger.

_Neu sind_ auch die Firbolk, ein Völkchen wilder, kleiner, behaarter Leutchen, die unter der Erde wohnen und einst ein magisches Artefakt verliehen haben, das sie nun zurückhaben wollen. Dummerweise ist die Frau, die sich das Artefakt geliehen hat, inzwischen verstorben, und dummerweise hat ihr Sohn – Miles – keine Ahnung davon, worum es bei dieser ganzen Sache geht. Aber natürlich wäre er nicht Miles, wenn er nicht unbeirrt versuchen würde, etwas darüber herauszufinden. Leider sind alle Leute, die seine Mutter kannten, in dieser Angelegenheit äußerst zugeknöpft!

Da das Rätsel, das Miles diesmal zu knacken hat, mit seiner Mutter zusammenhing, bedeutet die Auflösung gleichzeitig eine Rekonstruktion seiner Familiengeschichte. Und schon bald zeigt sich, dass alles irgendwie miteinander zusammenhängt: der Große Cortado, Miles‘ Mutter, der Tiger, ja sogar das Zero sind Teil der ganzen Geschichte; und offenbar war es kein Zufall, dass ausgerechnet Miles mitten in dieses Abenteuer hineingestolpert ist.

Und während der Leser damit beschäftigt ist, häppchenweise die Informationen zusammenzusetzen, dreht der Zirkus seine Runde und kehrt zum Ausgangspunkt zurück. Viel passiert auf dieser Reise folglich nicht; die Handlung ist wesentlich ruhiger als im ersten Band. Die Vergangenheit steht diesmal im Vordergrund, und selbst die kurze Turbulenz, die Miles‘ und Tau-Taus Ausflug zu den Firbolg auslöst, dient nicht nur der Belebung der Handlung, sondern gleichzeitig der Weitergabe zusätzlicher Informationen. Richtig aufregend wird es diesmal erst gegen Ende, als der Zirkus schon fast wieder Larding erreicht hat. Das Ausbüchsen des Zero und die letzte Zirkusvorstellung in Larding bringen noch einmal kräftig frischen Wind in die Ereignisse.

_Bleibt zu sagen_, dass trotz vieler netter Ideen wie jene mit den Uhren und den Ratten und auch Bolzenglas‘ Zusammentreffen mit Doktor Tau-Tau dieser zweite Band ein wenig hinter dem ersten zurückgeblieben ist. Natürlich ist die Rätselei um Miles‘ Eltern und das Tigerei durchaus interessant, und die Szene am Höllenschlund ist wirklich drollig. Insgesamt fehlt dem roten Faden, den hier die Suche nach der Vergangenheit stellt, aber ein wenig der Sog, die Dringlichkeit, die der Rettungsaktion von Miles‘ Bärchen Mandarine innewohnte.

Für Kinder zwischen zehn und zwölf Jahren, für die manche Zusammenhänge wahrscheinlich noch nicht so offensichtlich sind wie für Erwachsene, stellt diese Fortsetzung aber immer noch eine nette und liebenswerte Lektüre dar.

_Jon Berkeley_ stammt aus Dublin und lebt in Katalonien. Nach zwanzigjähriger Tätigkeit als Illustrator begann er mit „Das gestohlene Lachen“ die Trilogie um Miles und Little. Wann der dritte Band erscheint, ist allerdings noch offen.

http://www.ravensburger.de

Parzzival, S.H.A. – Himbeertod (Titan-Sternenabenteuer 25)

_Handlung:_

Shalyn Shan hat den Anschlag auf ihr Leben knapp überlebt und erwacht nach neun Tagen Koma und umfangreichen kosmetischen Operationen im Krankenhaus. Die World-Police setzt den skurrilen Spezialagenten Wernher von Witzleben alias „Fledermaus“ auf den Attentäter an, und bereits nach kurzer Zeit hat dieser die Spur des Mörders aufgenommen, doch aus dem ist nichts herauszubringen.

Zur selben Zeit greifen die Cadschiden ein kleines Bergdorf an, um die Gefühle der Bewohner zu stehlen. Es gibt mehrere Tote, bevor die World-Police die Invasion stoppen und zurückschlagen kann. Shalyn Shan bekommt den Auftrag, mit der |Titan| zur Heimatwelt der Gefühlsjäger aufzubrechen, die gespannte Situation diplomatisch zu lösen und das immer noch havarierte Schiff der Space-Police zu bergen.

Einen Tag vor dem Start der |Titan| knüpft von Witzleben Kontakt mit einer Frau aus Monjas Kindheit, welche mehr über die geheimnisvolle Gefährtin Shalyn Shans zu wissen vorgibt. Doch was die Suuranerin und ihre Freunde erwartet, gipfelt in einem mörderischen Inferno …

_Eindrücke:_

Diesmal kommt der Leser wieder in den Genuss der altbekannten Helden Shalyn Shan und Sir Klakkarakk. Aufgrund des Anschlags läuft Shalyn Shan zunächst sehr martialisch mit Glatze durch die Weltgeschichte, was ihrem Wesen und ihrer erotischen Ausstrahlung allerdings keinen Abbruch tut. Der ungewöhnliche Titel „Himbeertod“ resultiert übrigens aus dem merkwürdigen Geschmack nach Himbeeren, den sowohl Shalyn Shan kurz vor ihrem Blackout bei dem Attentat als auch die Opfer der Gefühlsjäger wahrnahmen.

Aufgrund des zyklischen Charakters der Serie geht es nahtlos und spannend weiter, doch Einsteiger erhalten auf Seite sechs die Möglichkeiten, die bisher geschehenen Ereignisse noch einmal zu reflektieren. Aber auch für Kenner der Serie bietet die Rubrik eine hervorragende Gedächtnisstütze.

Neben der weiteren Ermittlung in Sachen Monja und Attentäter wird eine neue interessante Figur in das „Titan“-Universum eingeführt: Spezial-Agent Wernher von Witzleben alias „Fledermaus“. Der Mann repräsentiert nicht nur einen James-Bond-Charakter, sondern ist vor allem eine sehr mysteriöse Gestalt, deren Beweggründe alles andere als offensichtlich sind. Hinzu kommen vampirische Wesenszüge, welche auf eine enge Bindung zu dem Vampircop Mick Bondye aus der Serie [„Wolfgang Hohlbeins Schattenchronik“ 4809 schließen lassen, der in Band 30 sein Debüt bei „Titan“ geben wird. Die Vorliebe von Witzlebens für alte Romanhefte der Serie „Die Fledermaus“ verleiht dem Charakter nicht nur lebensnahe Wesenszüge, sondern stellt auch eine Hommage an diese Textgattung dar, der ja auch die „Promet“-Abenteuer entstammen, aus denen bekanntlich die vorliegende Serie entstand.

In einer parallelen Handlung wird der erste Angriff der Cadschiden auf ein Bergdorf geschildert. Detailliert arbeitet der Autor dort einzelne Schicksale heraus und verdeutlicht damit die Brutalität dieser Attacke, die so kriegerisch von den Aggressoren nicht mal beabsichtigt war. Das Resultat ist für die Opfer freilich dasselbe, und dieser Umstand wurde von Parzzival gekonnt herausgestellt. Im weiteren Verlauf betritt auch die Crew der |Wallenstein| die Bühne, und damit wird eine weitere Brücke zum Vorgänger-Band gebaut, in dem die drei Raumfahrer die Hauptprotagonisten waren. Ein weiterer Pluspunkt des Buches ist außerdem die Darstellung der Zustände des gestrandeten und belagerten Space-Police-Schiffes auf der Heimatwelt der Cadschiden. Damit wird dem Leser deutlich, dass der Autor diesen Handlungsfaden keineswegs außer Acht gelassen hat. Die von der CRC geplante Mission der |Titan| zum Planeten Cadschid wird das Thema alsbald aufgreifen.

Erstaunlich ist vor allem, wie komplex und verzwickt die Handlung mittlerweile ist und wie viele Nebenschauplätze der Autor im Auge behält, die nach und nach abgearbeitet werden.
Hoffentlich werden die einen oder anderen Rätsel, wie beispielsweise der Gletschertsunami, bald gelöst, denn bei einer halbjährlichen Erscheinungsweise von je zwei Bänden dürfen einzelne Fragen nicht zu lange offen im Raum stehen bleiben. Dass die Story nicht langweilig wird, beweist jedenfalls der extrem gemeine Cliffhanger, der wieder einmal an der spannendsten und dramatischsten Stelle den Leser quasi in der Luft hängen lässt.

Die Innenillustrationen stammen dieses Mal von dem geschätzten Künstler R. S. Lonati, der sich vor allem als Titelbildzeichner der Serien „Larry Brent“ und „Macabros“ verdient gemacht hat. In dem vorliegenden Buch gewinnen diese Werke noch mehr an Bedeutung, zierten die Gemälde von Lonati doch schon das eine oder andere Cover eines Heftromans von „Die Fledermaus“. Das Manko der sehr detaillierten Werke ist hier wieder einmal der Schwarzweiß-Druck, der auch in den anderen Bänden den Bildern viel von ihrer Wirkung nimmt. Umso erfreulicher die Entscheidung des Verlags, die wichtigsten und schönsten Illustrationen farbig auf der Rückseite des jeweiligen Bandes erneut abzudrucken, wenn auch in kleinerer Form.

Die Zeichnungen des vorliegenden Bandes weisen aber auch in anderer Hinsicht eine Besonderheit auf, denn es sind die einzigen, die vor dem Roman entstanden und für welche die Handlung auf die jeweilige Szenerie zugeschnitten wurde. Diesen Umstand merkt man dem Roman aber kaum an, und es ist bemerkenswert, wie gut der Autor die Motive integrieren konnte. Das Titelbild des Romans hingegen gehört zu den schwächsten der gesamten Serie und wirkt seltsam deplatziert, zumal es wie ein Computerzusammenschnitt aussieht. Wenn man sich den Angriff der Cadschiden auf das Bergdorf ins Gedächtnis ruft, scheint auch eher das Titelbild von Band 22 für das vorliegende Buch vorgesehen gewesen zu sein.

_Fazit:_ „Himbeertod“ ist eine hervorragende Weiterführung des neuen Zyklus mit einer hochspannenden Szenerie und glaubhaften, spleenigen Charakteren.

http://www.BLITZ-Verlag.de

_Florian Hilleberg_

King, Stephen – Wahn

Edgar Freemantle ist ein äußerst erfolgreicher Bauunternehmer in den Fünfzigern, der mit seiner Frau Pam und den erwachsenen Töchtern Ilse und Melinda ein glückliches Leben führt. Alles ändert sich schlagartig, als Edgar auf einer Baustelle einen schweren Unfall erleidet. Er überlebt knapp, verliert aber seinen rechten Arm. Dazu kommen immer wieder kurzzeitige Gedächtnislücken durch die Kopfverletzung und Probleme beim Laufen, die ihn zu heftigen Wutanfällen veranlassen. Während der komplizierten Genesungszeit verlässt ihn seine Frau und Edgar steht kurz vor dem Selbstmord. Sein Psychologe Dr. Kamen rät ihm zu einer Auszeit an einem abgeschiedenen Ort.

Edgars Wahl fällt auf die idyllische Florida-Insel Duma Key, wo er sich für ein Jahr ein Strandhaus mietet. Hier widmet er sich der Malerei, eine längst verschollen geglaubte Tätigkeit, die seit vielen Jahren auf Eis lag. Überrascht stellt Edgar fest, dass Duma Key eine starke Inspiration auf ihn ausübt. Im Rausch entstehen zahlreiche brillante Gemälde, deren Intensität Edgar zugleich beunruhigt.

Bei seinen Strandspaziergängen lernt er den ehemaligen Anwalt Wireman kennen, der die alte Dame Elizabeth Eastlake betreut und bald zu einem engen Freund von Edgar wird. Miss Eastlake gehört der größte Teil der Insel, darunter auch Edgar gemietetes Haus. Obwohl sie langsam im Alzheimer versinkt, erlebt Elizabeth immer wieder wache Momente, in denen sie Edgar mit ihrem Scharfsinn erstaunt. Nach und nach erschließt sich ihm ihre tragische Familiengeschichte, die eng mit der Insel verbunden ist – und mit seinen Bildern. Nicht nur, dass Edgar sich über sein plötzliches Talent wundert, in seinen Bildern schlummern auch übernatürliche Fähigkeiten – die allmählich ein gefährliches Eigenleben entwickeln …

Nachdem es sich bei Kings letztem Werk um einen kurzen Roman im Bachman-Stil handelte, legt er mit „Wahn“ (eine unselige ‚Übersetzung‘ des Originaltitels „Duma Key“) wieder einen Wälzer im gewohnten Umfang von über 800 Seiten vor – und weiß damit, von Kleinigkeiten abgesehen, auch zu überzeugen.

|Vom Leben und Leiden des Edgar Freemantle|

Betrachtet man den Ich-Erzähler Edgar Freemantle, so liegt es nahe, eine Parallele zu Kings eigenem Leben zu ziehen. 1999 erlitt er selbst einen schweren Autounfall, den er bereits in seinem Sachbuch „Das Leben und das Schreiben“ thematisierte. Edgar Freemantle ist in einem ähnlichen Alter wie King damals und der Autor dürfte viele der schmerzhaften Situationen in der Rehabilitationszeit aus eigener Erfahrung kennen. Edgar ist ein glaubwürdiger Charakter, der sich schnell zur Sympathie- und Identifikationsfigur entwickelt, denn trotz seiner Millionen und seines außergewöhnlichen Schicksals verbirgt sich dahinter ein Durchschnittsmensch mit nachvollziehbaren Schwächen und angenehmer Bodenständigkeit. Man erlebt förmlich mit, wie ihn die Phantomschmerzen in den Wahnsinn treiben, wie er immer wieder automatisch an den fehlenden Arm greift und mit sich ringt, wenn ihm wieder einmal kurzzeitig das passende Wort entfallen ist.

Auch das Scheitern der langjährigen Ehe will verarbeitet werden, nicht zu vergessen die Schuldgefühle, da Edgar seit jeher die jüngere Ilse zu seiner Lieblingstochter erkoren hat. Phantastik oder gar Horror nehmen sehr lange nur einen untergeordneten Raum in der Handlung ein, der Fokus liegt stattdessen auf der langsamen Rückkehr des Protagonisten ins Alltagsleben, auf die Bewältigung seiner persönlichen Schwierigkeiten und der Auseinandersetzung mit Verlust, Beinah-Tod und Depressionen.

|Gelungene Nebencharaktere|

Weitere starke Figuren sind Wireman und die alte, pflegebedürftige Elizabeth Eastlake. Wireman entpuppt sich als raubeiniger Geselle mit weichem Kern, mit Sinn für trockenen Humor und Selbstironie und gelegentlichen lakonischen Einwürfen auf Spanisch. Aus dem ehemaligen Anwalt ist ein Aussteiger geworden, der sein Leben ganz auf Elizabeth Eastlake eingerichtet hat, für die er mehr Freund als Betreuer geworden ist. Der tragische Verlust von Ehefrau und Tochter hat Schatten auf Wiremans Seele hinterlassen, ihn jedoch nicht davon abgehalten, seinem neuen Leben eine Chance zu geben – kein Wunder also, dass die neuen Nachbarn rasch zu engen Verbündeten werden.

Elizabeth Eastlake, aufgrund ihrer grotesken Erscheinung mit Sonnenhut und Turnschuhen von Edgar spontan als „Braut des Paten“ bezeichnet, schwankt zwischen hellwachen Augenblicken, in denen sie sarkastische Bemerkungen einstreut, Zigaretten raucht und direkt in Edgars Seele zu blicken scheint, und den alzheimertypischen Versinkungen, in denen ihr die einfachsten Begriffe entfallen. Ihre lichten Momente sind Trost und Schmerz zugleich, denn die alte Dame ist sich ihrer Krankheit bewusst. Mit fortschreitender Handlung enthüllt sich ihre Familiengeschichte, die auf unheimliche Weise mit Edgars Bildern verknüpft ist. Ertrunkene Zwillingsschwestern spielen dabei eine wichtige Rolle, ebenso wie Elizabeth‘ eigenes Maltalent und ein roter Picknickkorb, in dem der Schlüssel zu allem verborgen liegt.

|Humor und Sensibilität|

Wie üblich bei King liegen Lachen und Grauen eng beieinander. Seine Charaktere verhalten sich erfrischend uneitel und können sich über ihre eigenen Schwächen amüsieren. Für bizarre Komik sorgt immer wieder Edgars Wut-Managementpuppe Reba, die ihm seit seiner Krankenhauszeit als Ventil für seine Ausraster dient, wenn ihm ein Wort entfällt, was Reba stets mit einem Blick, der „Aua, du böser Mann!“ zu sagen scheint, erwidert.

Obwohl man sich über Edgars Ausbrüche amüsiert, läuft man als Leser nie Gefahr, den Respekt vor ihm zu verlieren. Gleiches gilt auch für Elizabeth Eastlake, über deren schrulliges Auftreten man zwar schmunzeln mag, ohne jedoch sie oder ihre Krankheit zu veralbern. Damit gelingt King die schwierige Gratwanderung, die Gebrechen seiner Charaktere humorvoll zu schildern und gleichzeitig anzurühren. Vor allem in Hinblick auf das Ende, das, wie man schon vorher ahnt, nicht alles zum Besten zusammenfügt, überwiegt im Roman die Melancholie, und es ist typisch King, dass dies keineswegs zahlreiche witzige Szenen ausschließt.

|Nur kleine Schwächen|

Mit knapp über 800 Seiten ist „Wahn“ ein Mammutwerk, in dem sich der Autor phasenweise zur übertriebenen Geschwätzigkeit hinreißen lässt. Sehr detailliert verfolgt man Edgars tägliche Abläufe, oft unnötig weitschweifig geschildert. Für Horror-Fans kommt enttäuschend, dass gerade dieser Part sehr spät einsetzt. Abgesehen von den wahnhaften Malereien kann man erst ungefähr ab Seite 500 von einem Horror-Roman sprechen, zuvor dominiert eindeutig das Seelenleben des Edgar Freemantle. Unheimliche Szenen gibt es zwar, doch ist der Horror-Teil eindeutig nicht das Stärkste im Werk. Das spricht zum einen für die Darstellung und Entwicklung der Charaktere, zum anderen bedeutet es kleine Durststrecken im Spannungsaufbau. Auch Actionfreunde kommen kaum auf ihre Kosten, trotz einiger Turbulenzen im Finale. Nicht ganz befriedigend ist außerdem das Schicksal, das am Ende Jerome Wireman widerfährt.

Für treue Kingfans könnten sich Parallelen zu früheren Werken störend auswirken. Bilder, die augenscheinlich zum Leben erwachen, kennt man aus „Das Bild“, eine übernatürliche Fähigkeit nach einem Unfall gewinnt auch der Protagonist in „Dead Zone – Das Attentat“, verstorbene Zwillingsmädchen tauchen bereits in „Shining“ auf, wiederkehrende Tote allgemein in „Friedhof der Kuscheltiere“. Das Buch ist eindeutig mehr als ein Aufguss früherer Ideen und kein Meisterwerk des Originellen. Es ist vor allem Kings solidem Stil zu verdanken, der sich vor anderen literarischen Größen nicht zu verstecken braucht, dass der Leser trotz manch langwieriger Phase nicht den Anschluss verliert.

_Als Fazit_ bleibt ein überzeugender Roman aus der Feder von Meisterautor Stephen King, der nicht ganz an seine besten Erfolge heranreicht, aber dennoch sehr gute Unterhaltung, sympathische Charaktere und eine schlüssige, oft bewegende Handlung bietet. Auffallend sind die Weitschweifigkeit und die Parallelen zu früheren Werken, zudem kommt der Horror erst spät ins Spiel – davon abgesehen jedoch ist „Wahn“ ein empfehlenswerter Roman.

_Stephen King_, Jahrgang 1947, zählt zu den erfolgreichsten Autoren der Welt. 1973 veröffentlichte der ehemalige Lehrer mit »Carrie« nach mehreren Anläufen seinen ersten Roman, der zum Bestseller wurde. Alle folgenden Bücher wurden ebenfalls Welterfolge, viele davon sind von namhaften Regisseuren verfilmt worden. Bislang hat der Autor mehr als 400 Millionen Bücher verkauft (Verlagsangabe |Heyne| 2007).

King wurden sechs |Bram Stoker Awards|, sechs |Horror Guild Awards|, fünf |Locus Awards|, drei |World Fantasy Awards| (darunter der |Lifetime Achievement Award| 2004), ein |Hugo Award|, der |Lifetime Achievement Award| 2003 von der |Horror Writers‘ Association| sowie 2003 eine noch immer diskutierte Medaille für |Distinguished Contribution to American Letters| von der |National Book Foundation| und 2007 als einzigem Nicht-Kanadier ein |Award for Lifetime Achievement| von der |Canadian Literary Guild| verliehen.

Zu den bekanntesten Werken gehören unter anderem: »Es«, »Christine«, »Shining«, »Misery«, »The Stand« und die siebenteilige Saga vom »Dunklen Turm«. Weitere Bücher erschienen unter dem Pseudonym Richard Bachman. Mehr über ihn auf seiner Homepage http://www.stephenking.com.

|Originaltitel: Duma Key
Originalverlag: Scribner
Aus dem Amerikanischen von Wulf Bergner
Gebundenes Buch, 896 Seiten
2 Schwarzweiß-Abbildungen|
http://www.heyne.de

_Stephen King bei |Buchwurm.info|_ (Auswahl):

[„Qual“ 4056
[„Brennen muss Salem – Illustrierte Fassung“ 3027
[„Brennen muss Salem“ 3831 (Hörbuch)
[„Briefe aus Jerusalem“ 3714 (Audio)
[„Friedhof der Kuscheltiere“ 3007 (Audio)
[„Puls“ 2383
[„Trucks“ 2327 (Audio)
[„Colorado Kid“ 2090
[„The Green Mile“ 1857 (Audio)
[„Das Leben und das Schreiben“ 1655
[„Atemtechnik“ 1618 (Audio)
[„Todesmarsch“ 908
[„Der Turm“ 822 (Der Dunkle Turm VII)
[„Der Sturm des Jahrhunderts“ 535
[„Tommyknockers – Das Monstrum“ 461
[„Achterbahn“ 460
[„Danse Macabre – Die Welt des Horrors“ 454
[„Christine“ 453
[„Der Buick“ 438
[„Atlantis“ 322
[„Das Mädchen“ 115
[„Im Kabinett des Todes“ 85
[„Duddits – Dreamcatcher“ 45

Hrissomallis, Simeon – Faith – The Van Helsing Chronicles: Wendepunkt (Season 1 – Episode 11)

Episode 1: [„Die Zusammenkunft“ 4811
Episode 2: [„Verwandlungen“ 4826
Episode 5: [„Dämonische Leidenschaft“ 4833
Episode 6: [„Ravens Geheimnis“ 4850
Episode 10: [„Das Böse im Menschen“ 4910

Faith erfährt, dass ihr Vater immer noch am Leben ist und als welche Person er sich all die Jahre ausgegeben hat.

Während die junge Frau ihr Leben wieder in geordnete Bahnen zu bringen versucht, reisen Christopher Lane, Shania und Vin in einen kleinen Ort, in dem vor genau einhundert Jahren ein Kindermörder hingerichtet wurde. Vor seinem Tod stieß er einen grauenhaften Fluch aus, dass er zurückkehren würde. Ein toter Friedhofswächter scheint ein erster Hinweis auf die Rückkehr des Teufelsdieners zu sein, und als Christopher Lane und seine Kameraden den nächtlichen Totenacker inspizieren, bekommen sie es mit einer Kreatur zu tun, wie sie ihnen noch nicht begegnet ist …

_Meine Meinung:_

In dieser Episode erfährt der Hörer wichtige Fakten über Faiths Vater sowie über die wahre Identität einiger Hauptfiguren. Vor der großen Abschluss-Trilogie wird es somit noch einmal richtig spannend, und neben einer packenden Handlung geben sich einmal mehr die ganz großen Sprecher der Hörspiel- und Synchronbranche die Klinke in die Hand. Angefangen beim Stammpersonal: Nana Spier, David Nathan, Thomas-Nero Wolff, Boris Tessmann und Dorette Hugo. Weiter geht es mit Martin Kessler, Udo Schenk, Torsten Michaelis, Lutz Riedel und Oliver Rohrbeck. All diese Mimen sind mit viel Engagement bei der Sache und liefern erstklassige Arbeit ab. Allerdings kann das ständige Selbstmitleid von Faith auf die Dauer etwas enervierend sein. Dafür kommen die Vin-Masters-Fans voll auf ihre Kosten, denn erstmals darf der Bursche zeigen, was wirklich in ihm steckt.

Besonders eindrucksvoll gelungen sind in dieser Folge die Effekte, vor allem als der dämonische Baum mit seinem Wurzelwerk angreift. Darüber hinaus strotzt das Hörspiel vor versteckten Anspielungen auf die alte |John Sinclair|-Hörspielserie. Die Szene zu Beginn mit dem Kindermörder erinnert an das Kulthörspiel „Die Teufelsuhr“, während die Albereien während des Kampfes mit den Echsenmonstern als satirische Einlage zu verstehen sind. Den Namen Jeff Denver kennen |Sinclair|-Fans aus dem Tonstudio-Braun-Tape „Das Horror-Taxi von New York“.

Das Cover ist dagegen allerhöchstens als durchschnittlich zu bewerten und bereitet den Hörer in keiner Weise darauf vor, welch gelungenes Hörspiel ihn erwartet.

_Fazit:_

„Wendepunkt“ ist eine spannende Folge, die vor dem abschließenden Dreiteiler der ersten Staffel noch einmal alle Register zieht. Sprecher, Musik und Effekte sind von allererster Güte und machen auch die elfte Folge der Van-Helsing-Chroniken zu einem kurzweiligen Hörvergnügen. Wenn auch nicht unbedingt das ganz große Kino für die Ohren, wie auf dem Backcover angekündigt, so bietet |Faith| doch immerhin eine perfekte TV-Serie für die Lauscher. Leider erfordert auch diese CD Vorwissen seitens des Zuhörers.

_Besetzung:_

Faith Van Helsing: Nana Spier (Sarah Michelle Gellar, Claire Danes, Drew Barrymore)
Shania Francis: Dorette Hugo (Jennifer Garner, Christina Ricci in „Ally McBeal“)
Melvin Masters: Boris Tessmann (David ‚Angel‘ Boreanaz)
Hunter: Udo Schenk (Ray Liotta, Ralph Fiennes, Kevin Bacon, Gary Oldman, Jeffrey Combs …)
Christopher Lane: Thomas-Nero Wolff (Hugh Jackman, Jason Statham, Anthony ‚Giles‘ Head)
Raven: David Nathan (Johnny Depp, Christian Bale, James ‚Spike‘ Marsters)
Alex Christ: Torsten Michaelis (Wesley Snipes, Sean Bean)
Sheriff Langdon: Oliver Rohrbeck (Ben Stiller, Michael Rapaport)
Bürgermeister Murphy: Heiner Heusinger
Jack Wilburn: Jörg Ade
Nathan Pierce: Martin Keßler (Nicholas Cage, Vin Diesel)
Peter Franklin Denver: Lutz Riedel (Timothy Dalton, Richard Gere, Udo Kier, Sam ‚Holland Manners‘ Anderson)
Jeff Denver: Nils Weyland
Jim: Marco Sand
Brad: Santiago Ziesmer (Steve Buscemi, Tony Cox, Seth ‚Oz‘ Green)
Kristin: Carola Ewert (Selma Blair, Eliza ‚Faith‘ Dushku)
Direktor Arowic: Helmut Krauss (Marlon Brando, James Earl Jones, John Goodman, Jerry ‚Deep Throat‘ Hardin in „Akte X“)
Erzählerin: Barbara Stoll

|59 Minuten auf 1 CD|
http://www.rb-company.de
http://85.25.136.73/shop2/index.php?user=rbcompany

_Florian Hilleberg_

John Dickson Carr – Der Club der Masken

In einem unheimlichen Pariser Wachsfigurenkabinett finden sich diverse Frauenleichen, deren gewaltsames Ende durch die allzu große Nähe zu einem moralisch verwerflichen Kuppel-Club verursacht wurde … – Stilisierter „Whodunit?“-Klassiker aus der großen Zeit dieses Subgenres; schamlos übertrieben, gespickt mit Elementen des Schauerromans, absolut realitätsfern und dadurch erst recht unterhaltsam: ein Spaß für Freunde des gekonnt Absurden.
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Smith, Tom Rob – Kind 44

Gerade in einem so überstrapazierten Genre wie der Kriminalliteratur stechen Autoren hervor, die mit einem ungewöhnlichen Handlungsort oder der Verlagerung des Plots in eine literarisch eher weniger beachtete Epoche einen zusätzlichen Anreiz zur Lektüre schaffen. Zu diesen Autoren gesellt sich auch der Brite Tom Rob Smith mit seinem Erstlingswerk „Kind 44“.

„Kind 44“ spielt im Russland der Stalin- bzw. Nach-Stalin-Zeit. 1953 wird in Moskau auf den Bahngleisen die grausam zugerichtete Leiche eines kleinen Jungen gefunden. Doch in der Sowjetunion der damaligen Zeit gibt es offiziell keine Verbrechen, denn die würden schließlich belegen, dass das idealisierte Gesellschaftsbild des Kommunismus doch nicht so perfekt ist, wie alle glauben sollen. Warum sollte ein Mensch einen anderen töten, wo es doch allen prächtig geht und alle gleichwertig sind?

Der Mord wird also kurzerhand zum Unfall erklärt. Das Opfer war der Sohn eines MGB-Kollegen von Leo Demidow, dem nun die Aufgabe zufällt, der Familie klarzumachen, dass ihr Sohn beim einem tragischen Unfall starb und sie ihre Mordanschuldigungen dringend fallenlassen sollten, wenn ihnen Leib und Leben wichtig sind. Für den Geheimdienstoffizier Leo Demidow ist diese Angelegenheit eine eher lästige Unterbrechung seiner Jagd nach einem flüchtigen Verräter.

Doch im Laufe der Jagd nach dem flüchtigen Verräter gerät auch Leo plötzlich ins Fadenkreuz seiner MGB-Kollegen, und so wird ihm die unangenehme Aufgabe aufgedrückt, seine eigene Ehefrau zu denunzieren. Leo steckt in der Zwickmühle, steht aber zu seiner Frau Raisa und bekommt postwendend die Quittung: Versetzung und Degradierung.

Fortan hockt Leo also in der Provinz als kleiner Milizposten, und als dort eine ähnlich zugerichtete Leiche gefunden wird wie seinerzeit in Moskau, beschleichen Leo Zweifel an der Unfalltheorie, an die er früher noch so gerne geglaubt hat. Auf eigene Faust fängt er an zu ermitteln und bringt damit nicht nur sich selbst, sondern auch seine Frau in höchste Gefahr …

„Kind 44“ ist ein Krimi, der über die Grenzen des Genres hinausgeht. Nicht der eigentliche Krimiplot macht dabei den Reiz aus, sondern das Drumherum. Tom Rob Smith liefert mit „Kind 44“ eben keinen reinen Krimi ab, sondern darüber hinaus eine Bestandsaufnahme Russlands zur Zeit Stalins und kurz nach dessen Tod.

Anhand der Figur des Leo Demidow lässt Smith den Leser auf beide Seiten des Systems blicken. Anfangs ist Leo noch der systemtreue MGB-Offizier, der seine Pflichten nicht hinterfragt und stets in dem guten Glauben handelt, das Richtige zu tun. Als er aber durch den zweiten Leichenfund an seinem neuen Arbeitsplatz in Wualsk zu dem Schluss kommen muss, dass er (und nicht nur er, sondern auch das MGB; |Ministerstvo Gosudarstvennoi Bezopasnosti|, Ministerium für Staatssicherheit 1946 – 1953) sich geirrt hat und schon der Todesfall des Sohns seines Kollegen ein Mord war, ist Leo gezwungen, sich gegen das System zu wenden.

Mordermittlungen sind nicht zugelassen, denn Morde gibt es im Kommunismus natürlich nicht. Dementsprechend kann Leo nur heimlich ermitteln, und das bedeutet für ihn und seine Frau Raisa, dass er sich auf ein äußerst gefährliches Unternehmen einlassen muss. Vor diesem Hintergrund entfaltet auch der Krimiplot eine großartige Spannung. Leo kann jederzeit auffliegen, und dann hätte nicht nur der Mörder gewonnen, sondern Leo wäre bestenfalls in den [GULag]http://de.wikipedia.org/wiki/GULag gewandert oder schlimmstenfalls direkt hingerichtet worden.

Der geschichtliche Hintergrund spielt somit eine tragende Rolle im Krimiplot. Smith verdeutlicht sehr plastisch, wie sich die Menschen damals in Russland gefühlt haben dürften. Ein falsches Wort oder eine falsche Geste konnte die Anklage als Verräter bedeuten, und die Mühlen der Justiz waren damals absolut gnadenlos. Was die Menschen durchmachten – Kriege, Säuberungen, Hunger -, ist für sich genommen schon unvorstellbar. Die Angst, als Vaterlandsverräter denunziert und angeklagt zu werden, selbst ohne sich irgendeiner derartigen Tat schuldig gemacht zu haben, muss stets präsent gewesen sein. In einem Staat, den die Wahrheit nicht interessiert, muss jeder um Position und Leben bangen. Smith beschwört dieses Klima der ständigen Angst und des Misstrauens mit seinem Roman sehr greifbar herauf.

Mit Leo Demidow hat er eine sehr ambivalente Hauptfigur geschaffen, die einerseits dem System treu folgt, aber im Laufe der Geschichte ihre Meinung ändert und gegen alle Widerstände an ihren heimlichen Ermittlungen festhält. Obwohl Leo anfangs noch alles andere als ein Engel ist und sich auch im Verhältnis zu seiner Frau Raisa noch so manches Detail offenbart, das Leo in ein ungünstiges Licht rückt, hat er die Sympathien des Lesers schnell auf seiner Seite. Er ist der Held der Geschichte, aber eben ein Held mit einer dunklen Seite, und das verleiht ihm Glaubwürdigkeit.

Smith bedient sich einer klaren und präzisen Sprache und strickt einen gut inszenierten Plot, der von Anfang bis Ende einem klaren, stetig aufwärts strebenden Spannungsbogen folgt. Obwohl der Plot nicht immer ganz gradlinig verläuft und zwischen dem ersten und zweiten Leichenfund viel Zeit verstreicht, bleibt die Geschichte durchweg spannend. Smith schlägt eben zwischendurch etwas persönlichere Bahnen ein, beleuchtet Leo und Raisa näher und baut dabei seine Figurenskizzierung aus.

Für die Hörbuchfassung hat man Schauspieler Bernd Michael Lade verpflichtet, der als Vorleser leider nicht die beste Figur abgibt. Zwar hat er eine angenehme, warme Stimme, liest aber mitunter etwas abgehackt und holt an unpassenden Stellen Luft, als würde ihm manchmal mitten im Satz die Puste ausgehen. Hier und da meine ich so etwas wie ein unterdrücktes Gähnen herausgehört zu haben, und noch nie habe ich in einem Hörbuch so bewusst das Umblättern der Seiten heraushören können. Mit einem anderen Erzähler hätte man also sicherlich noch einiges mehr aus der Geschichte herausholen können.

Bleibt unterm Strich aber dennoch ein positiver Eindruck zurück. Zwar hat das Hörbuch wegen der im Vergleich zu anderen Produktionen eher schwachen Sprecherleistung abgesehen von der Tatsache, dass man nicht selber lesen muss, keinen nennenswerten Vorteil gegenüber der Buchfassung, ist schon allein der Geschichte wegen überaus empfehlenswert. „Kind 44“ ist durchweg spannend erzählt und garniert den Plot mit einer interessanten zeitgeschichtlichen Komponente. Darum sei zum Kauf unbedingt geraten – wenngleich man nach Möglichkeit lieber zum Buch als zum Hörbuch greifen sollte.

http://www.luebbe-audio.de
422 Minuten auf 6 CDs

Howard Berk – Das Zeichen der Lemminge

Das geschieht:

In einer zeitlich nicht definierten, aber nicht allzu fernen Zukunft ist die Welt nach einem Dritten Weltkrieg zerstört, verstrahlt und menschenleer. Die USA existiert zwar noch, hat sich aber in eine Diktatur verwandelt, die streng die wenigen noch vorhandenen Ressourcen verwaltet, die selbst für die wenigen Überlebenden kaum ausreichen.

Für zusätzliche Komplikationen sorgt die steigende Zahl von Menschen, die von einem Moment zum anderen buchstäblich den Verstand verlieren. Im Rahmen eines Regierungsprogramms wurde ein Bundeszentrum gegründet, in dem Wissenschaftler fieberhaft versuchen, der Ursache dieses kollektiven Phänomens auf die Spur zu kommen. Eine Heilung ist unmöglich, die ‚Behandlung‘ deshalb radikal: Das verwirrte Hirn des Kranken wird ‚gelöscht‘ und eine neue, vorgeprägte Persönlichkeit ‚aufgespielt‘. Noch ist das Verfahren in der Erprobungsphase und riskant, die Zahl der Fehlschläge deshalb hoch.

Der Druck auf die Forscher wächst. In der Abteilung von Dr. Korman sorgt der Patient Nr. 27 deshalb für Hoffnung: Alex Parnell hat die Neuprägung glänzend überstanden, und er zeigt auch nicht die übliche geistige Trägheit oder Verwirrung, die der Behandlung normalerweise folgt. Trotzdem entwickelt sich Parnell bald zum Störfaktor, denn er will sich der Disziplin des Zentrums, das er mit einem Gefängnis gleichsetzt, nicht beugen, sondern fordert umfassend Aufklärung über den Zustand der Welt und persönliche Freiheit.

Als man ihm beides nicht zugestehen will, entwickelt sich Parnell zum Rebellen mit einem Einfallsreichtum, der ihn selbst erstaunt, bis er die Wahrheit zu ahnen beginnt: Er erinnert sich an die Person, die er einmal war – ein Mensch, der tief in die tragische Geschichte der jüngsten Vergangenheit verstrickt ist …

_Die Realität am Ende aller Utopien_

In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre kam der Welt der Optimismus abhanden – ein Optimismus, der sich indes überlebt hatte. Der kalte Krieg zwischen den Supermächten und ihren Alliierten drohte heiß zu werden; man würde ihn atomar führen und fürchtete die Folgen, ohne in den Vorbereitungen für einen gelungen Erst- oder wenigstens Gegenschlag nachzulassen. Zu den weiteren Sünden der Vergangenheit, die plötzlich relevant, weil nicht mehr durch fantastische ‚Technik der Zukunft‘ lösbar schienen, gehörte die Erkenntnis, die eigene Welt rücksichtslos ausgebeutet, zerstört, verschmutzt und überbevölkert zu haben.

Die Zukunft sah nicht mehr utopisch, sondern düster aus – ein Paradigmen-Wechsel, dem sich selbstverständlich auch die Science-Fiction nicht verschließen konnte, wollte und durfte. ‚Ökologische‘ SF hatte es schon früher gegeben, doch aus dem einsamen, gern bespöttelten Rufer in der Wüste wurde nun ein Chor, der sich nicht mehr überhören ließ und der beunruhigten Leserschaft Romane wie „Make Room! Make Room!“ von Harry Harrison (1966; dt. „New York 1999“, verfilmt 1973 als „Soylent Green“/“Jahr 2020 … die überleben wollen“) oder Filme wie „Silent Running“ (1972, dt. „Lautlos im Weltall“) präsentierte, die heute formal altertümlich, aber weiterhin erschreckend aktuell wirken.

_Des Rätsels grausame Lösung_

Howard Berk hieb 1972 mit „Das Zeichen der Lemminge“ ebenfalls in diese Kerbe. Der versierte Autor, der vor allem Drehbücher für TV-Serien schrieb, stellt sich zwar eher unauffällig in die Reihe derer, die den selbstverschuldeten Untergang der Zivilisation darstellten, legt aber eine Geschichte vor, die vor allem in ihren ersten beiden Dritteln fesseln kann (und gewisse gedankliche Assoziationen an Michael Bays „The Island“/“Die Insel“ von 2005 weckt …).

Berk springt mitten in ein Geschehen, für das er uns die Erklärung zunächst schuldig bleibt. Nur langsam enthüllt sich die Hintergrundgeschichte; unser Wissen wächst zusammen mit den Erkenntnissen, die sich Alex Parnell mühsam zusammenreimt. Natürlich ist das ein Trick, um die Spannung zu schüren; ein Trick freilich, für den es eine schockierend logische Erklärung gibt, die den Höhepunkt und Schlusspunkt dieses Romans bildet.

Etwas Schreckliches ist geschehen, das kristallisiert sich schnell heraus. Was kann es sein, und wieso wird es so sorgfältig geheimgehalten? Hier geht offenbar Böses vor, werden Menschen als Versuchskaninchen benutzt. Doch dahinter wird eine Tragödie sichtbar, die zum radikalen Umdenken zwingt. Nichts ist, wie es scheint. Selbst als es Parnell gelingt, sein ‚Gefängnis‘ zu verlassen, wähnt er sich irrtümlich in Freiheit. Die Wahrheit wartet auf ihn, und als er sie, die er so lange gesucht hat, endlich findet, kann er sie aus gutem Grund nicht verkraften.

_Diese Zukunft bleibt Vergangenheit_

„Das Zeichen der Lemminge“ hat als Roman seine Längen. Vor allem das letzte Drittel wirkt aufgesetzt. Parnell hat sein Gefängnis/Refugium verlassen und lernt die reale Außenwelt der atomaren Nachkriegszeit kennen. Natürlich beantwortet dieser ‚Ausflug‘ diverse Fragen, die sich der Leser lange gestellt hat, aber wie üblich kann die Auflösung dem Geheimnis nicht das Wasser reichen – auch wenn Berk uns wie gesagt erneut in die Irre führt: Parnells scheinbare Flucht ist schon missglückt, bevor sie beginnt. Dies zu verraten, ist kein Spoiler, denn zumindest als Leser des 21. Jahrhunderts ist man erfahren genug zu erkennen, dass da noch etwas – des Rätsels eigentliche Lösung – folgen wird. Diese wird auf jeden Fall überraschen, auch wenn mit einer Schockwirkung, wie sie Berk zu erzielen hoffte, wohl nicht mehr zu rechnen ist. Jahrzehnte später sind wir stärkeren Tobak gewöhnt, wenn man uns mit apokalyptischen Szenarien erschrecken will, und dass jeder Regierung alle möglichen Schweinereien zuzutrauen sind, haben wir ebenfalls gelernt …

1972 war der Themenkomplex, den ich hier ‚Öko-Schock‘ nennen möchte, als breitentaugliches Phänomen noch relativ neu. Gesudelt wird auf und mit dieser Erde auch heute noch, aber ein gewisser Lerneffekt lässt sich nicht leugnen: Es wird etwas getan, und es gibt Anzeichen von Besserung. (Die obligatorischen „Ja, aber …“-Gegenargumente erspare ich mir hier – bei Bedarf bitte selbst auflisten.)

_Entschlossen mit dem Rücken zur Wand_

Ein Mann gegen eine ganze Welt; später gesellt sich eine Frau an seine Seite: Die Konstellation ist klassisch und erprobt. Wie man aus ihr die besten Effekte kitzelt, ist ihm als erfahrener Drehbuchautor sichtlich bekannt. „Das Zeichen der Lemminge“ kann man sich durchaus als Film vorstellen. Ist das Buch aus einem nie verwirklichten Drehbuch hervorgegangen? Über Howard Berk ist leider wenig zu recherchieren, sodass diese Frage hier ohne Antwort bleiben muss.

Heiligt der Zweck wirklich alle Mittel? Am Beispiel seiner Figuren spielt Berk die verschiedenen Antworten durch, die sich aus dieser Frage ergeben. Daraus resultieren Reaktionen, die zunächst einmal mehr durch den Leser, der die der Frage zugrunde liegenden Ereignisse nicht kennt, als ’normale‘ Handlungsmuster erscheinen, während sie sich tatsächlich schlüssig aus der Ausgangssituation ergeben. Die Schlussfolgerung ist deshalb vielleicht nicht einmal negativ, sondern einfach nur realistisch: Der Lemming kann dem Zug in den Tod entgehen, wenn sein Ausbruchsversuch nur drastisch genug ausfällt.

„I love thee, I love but thee, / With a love that shall not die,
Till the sun grows cold, / And the stars are old,
And the leaves of the Judgement Book unfold!“

Howard Berk wählte als Romantitel ein Zitat aus dem „Bedouin Song“ (1853) des Reiseschriftstellers und Dichters Bayard Taylor (1825-1878); es wird oft William Shakespeare zugeschrieben, was es adeln soll, aber unzutreffend ist. Es spielt auf einen zweiten Handlungsstrang an, der sich um Alex Parnells Liebe zur mysteriösen Julia dreht, die so intensiv und innig ist, dass sie das Ende der Welt tatsächlich überstand.

_Der Autor_

Über Howard Berk gibt selbst das Internet kaum Informationen her. Darüber hinaus wurde seine Biografie irgendwie & irgendwann mit dem Lebenslauf eines spanischen Drehbuchautors namens José Luis Navarro verzwirbelt, der angeblich unter dem Pseudonym Howard Berk für eine lange Reihe von Spagetti-Western verantwortlich zeichnet – ein Fehler, der seither fleißig wiederholt wird.

‚Unser‘ Howard Berk (geb. 1926), der Autor von „Das Zeichen der Lemminge“, war ein US-amerikanischer Autor, der für TV-Serien wie „Columbo“ und „The Rockford Files“ sowie für Kinofilme wie „Target“ und „Robocop“ schrieb. Laut www.imdb.com ist ein Drehbuchautor Howard Berk am 29. August 1989 an den Folgen einer AIDS-Erkrankung in Los Angeles gestorben, was eine gute Erklärung dafür wäre, dass keine Berk-Drehbücher nach 1987 zu belegen sind.

Taschenbuch: 185 Seiten
Goldmann (1971)

Arthur Schnitzler / Daniela Wakonigg – Die Weissagung (inszenierte Lesung)

Wenig unterhaltsam: psychologischer Realismus

Vor zehn Jahren hat ein Wahrsager Herrn von Umprecht einen Blick in die Zukunft gewährt: er selbst tot auf einer Bahre. Seitdem führt Umprecht ein Leben in Furcht und versucht, jenem Augenblick aus dem Weg zu gehen. Aber nichts, was er tut, scheint die Erfüllung der Weissagung abwenden zu können.

Da bekommt er das Angebot, in einem Theaterstück mitzuspielen, in welchem er am Ende tot auf einer Bahre liegen soll. Ist dies der Augenblick in seiner Zukunft, den ihm der Wahrsager geweissagt hat?

Arthur Schnitzler / Daniela Wakonigg – Die Weissagung (inszenierte Lesung) weiterlesen

Reynolds, Simon – Rip It Up and Start Again: Postpunk 1978-1984

Mit „Rip It Up And Start Again“ hat der ehemalige |Monitor|- & |Melody Maker|-Redakteur, freischaffende Musikjournalist (|The New York Times|, |Village Voice|, |The Guardian|, |Rolling Stone|, |The Observer|, |Artforum|, |The Wire|, |Uncut|, |Blissout|, |Blissblog|) und Pop-Chronist („The Sex Revolts: Gender, Rebellion & Rock’n’Roll“, 1995; „Energy Flash: A Journey Through Rave Music and Dance Culture“, 1998) Simon Reynolds eine umfassende Sammlung von Portraits innovativer, zukunftsorientierter Bands und ihres jeweiligen Umfelds zur Zeit der ausgehenden Siebzigerjahre bis in die erste Hälfte der 1980er herausgegeben. Eingebettet sind seine biographischen Skizzen (Reynolds fokussiert dabei auf Kunstverständnis, Intentionen und Manifeste der jeweiligen Akteure sowie auf einzelne Werke) in eine übergreifende Narration, welche die jeweiligen lokalen/regionalen bzw. nationalen Kunst- und Musik-Szenen miteinander in Beziehung setzt, vergleicht und gegeneinander abgrenzt. Auch die Aspekte Markt und Marketing bleiben dabei nicht außen vor.

Der rote Faden dieser Erzählung ist das facettenreiche Kontinuum einer Reihe von Künstlern, Musikern, Managern und Musikjournalisten, die – beflügelt von der durch die Punkbewegung ausgelösten Aufbruchstimmung des Do-it-yourself-Spirits und des Ausbruchs aus formalisiserten musikalischen Traditionen – begannen, unter bewusster Vermeidung überkommener Rockstrukturen mit neuen technischen Möglichkeiten sowie mit neuartigen bzw. gänzlich ohne (formelle) Spieltechniken herumzuexperimentieren. Da die Protagonisten dieser heterogenen Szene(n) eine Vielzahl von musikalischen bzw. künstlerischen Ansätzen aufweisen, deren einziger gemeinsamer Nenner der bewusste Bruch mit der bisherigen Musikgeschichte inklusive des sich zunehmend formalisierenden Punkgenres war (welches in seiner Rolle als zum Rock ’n‘ Roll zurückkehrende Strömung bzw. als Fortsetzung des R ’n‘ R mit anderen Mitteln zum Teil bewusst abgelehnt wurde), ist der Untertitel des Buches „Postpunk 1978-1984“ eine durchaus treffende Bezeichnung. In der zweiten Hälfte der Achtziger wurde die anfangs noch konsequente Absetzung von den Traditionen des Rock und Pop dagegen kontinuierlich schwammiger bzw. unwichtiger. Doch bereits in den Anfängen der Postpunk-Szene(n) lassen sich erste Wurzeln solch unterschiedlicher Genres wie Synthpop, Industrial, Gothic, EBM und Alternative Rock ausmachen.

Innerhalb dieser breitgefächerten Gemengelage an eher vorwärts als rückwärts orientierten Bands beschreibt Reynolds zwei Strömungen, die sich jeweils weniger durch einen gemeinsamen Sound der ihnen zugeordneten Künstler auszeichnen als vielmehr durch ihre unterschiedliche Haltung gegenüber dem zeitgenössischen Musikmarkt und seinen Geschäftsstrukturen bzw. den Mustern des Konsums seitens der Kunden.

Der erste Teil des Buches widmet sich unter der Überschrift „Postpunk“ Bands, die sich bewusst gegen das herkömmliche (populäre) Musikverständnis – in radikalster Ausprägung teils sogar gegen das Konzept von (populärer) Musik überhaupt – stellten und/oder in bewusster Abgrenzung gegenüber dem konventionellen Musikmarkt alternative Vertriebs- und Kommunikationsformen aufzubauen versuchten. Mit den Protagonisten der Punkbewegung gemein – oftmals sogar in noch ausgeprägterer Form – hatten viele von ihnen einen (wie auch immer gearteten) revolutionären Anspruch des Selbermachens bei größtmöglicher Unabhängigkeit von bestehenden Marktstrukturen und schließlich auch die bewusste Abgrenzung gegenüber der Mainstreamkultur. Zugleich stammten mehrere dieser Bands bzw. Kollektive aus einem ursprünglich eher musikfernen künstlerischen Umfeld, das oftmals über einen kunsttheoretischen, theatralischen oder durch |performance art| geprägten Hintergrund verfügte. Vor der (neo-)konservativen Wende unter den Regierungen Reagan/Thatcher profitierten einige dieser (britischen) Gruppen von staatlicher Kunstförderung, sei es im akademischen Umfeld oder in sozialen Projekten. Für manche dieser Bands spielte sogar der |Happening|-Charakter ihrer Auftritte eine ebenso große Rolle wie die Musik selbst, bei anderen kam eine ähnliche Bedeutung ihrer künstlerischen Gesamtkonzeption oder ihren (gegen-)gesellschaftlichen Manifesten zu. Wieder anderen war besonders an der Umsetzung eines innovativen, möglichst unabhängigen Geschäfts- und Vertriebssystems oder an der Etablierung eines ureigenen Stils im Sinne einer |corporate identity| gelegen. Im Gegensatz dazu gab es freilich auch Gruppen, die sich ganz dem freien, experimentellen Spiel mit neuen oder neu verknüpften Formen hingaben oder gar der reinen Provokation ihres Publikums frönten.

Der zweiten von Reynolds beschriebenen Strömung ist dagegen gemein, dass sie sich, wenn schon nicht richtungsweisend vom Mainstream beeinflussen ließ, so doch zumindest bewusst in diesen hineindrängte. Die am Pop bzw. schließlich doch auch wieder am Rock orientierte Ausrichtung der ihr zugeordneten Bands konnte sowohl in subversiver als auch in provokativer, kommerzieller oder missionarischer Absicht erfolgen. Programmatik, thematische Geschlossenheit, das Stilmittel der Übertreibung, gewollte Exotik oder auch modisches |styling| konnten dadurch an Bedeutung gewinnen. Einerseits konnten diese Aspekte den jeweiligen Bands eine besonders faszinierende (je nach Ausprägung abgründige, glamouröse oder auch ambivalente) Aura verleihen, sich anderseits aber auch in Oberflächlichkeiten erschöpfen bzw. ähnlich aufgeblasene Stilblüten treiben wie jener bombastische Artrock, den abzulösen die Punkbewegung einstmals angetreten war. Mit dem ursprünglichen Postpunk gemein hatten diese jüngeren (oder teils auch sich weiter fortentwickelnden älteren) Bands indes noch immer einen – wenn auch im Umgang mit Versatzstücken traditionellerer Musik bisweilen formalisierteren – innovativen, spielerischen, teils auch ironisierenden oder ins Groteske kippenden oder überspitzenden Ansatz. Auch zeigten sich gerade im Postpunk-Umfeld erste Ansätze zu damals neu heraufdämmernden Musikgenres, von denen einige – wenn auch in anderer Ausprägung – mittlerweile fest etabliert sind. Obschon Reynolds in der zweiten Welle der Gothicbands während der 1980er Jahre bereits eine erste Retro-Orientierung erkennt, sieht er in ihren Anfängen wie auch im „New Pop and New Rock“ (so der Titel des zweiten Buchabschnitts) allgemein bis etwa ins Jahr 1984 noch eine Fortsetzung der Grundhaltung vieler Postpunkbands bzw. ein Aufbauen auf sowie eine Weiterentwicklung der Formensprache ihrer (modernistischen) Musik.

Im weiteren Verlauf der Musikgeschichte sei diese dann zunehmend im Zitatewust der Postmoderne auf- bzw. untergegangen, wohingegen die ursprüngliche Rolle des (Post-)Punks als musikalische Revolutionsbewegung (nach Malcolm McLaren, den der Autor durchaus als ambivalente Figur beschreibt) um die Mitte der Achtziger herum schließlich vom Hip Hop übernommen worden sei. Den heute vom Postpunk beeinflussten oder inspirierten Bands attestiert Reynolds im Nachwort eine oftmals großartige, aufregende und erfreulich verstörende Art, die Klänge seiner Jugend wiederaufleben zu lassen. Auch sprängen sie auf die Aura der Dringlichkeit und des missionarischen Eifers an, von der die Musik dieser Ära durchdrungen gewesen sei, und das, ohne notwendigerweise viel über den damaligen Kontext solcher Bands zu wissen. Doch obwohl der weitere Kontext damals wie heute von geopolitischem Tohuwabohu und einem reaktionären |backlash| mitbestimmt sei, zweifelt Reynolds am Feuer der Neopostpunkbands und ihrem augenscheinlich fehlenden Willen zum Widerstand. Mögliche Ursachen dafür, dass die meisten jüngeren Bands sich der grundsätzlichen Schwierigkeit, Politik im Pop zu verhandeln – ohne zu den bereits Überzeugten zu predigen, politisch korrekt oder übermäßig ernst zu erscheinen –, überhaupt nicht mehr stellten, sieht er in der Empfänglichkeit der 1990er Jahre für Ironie und Disengagement, welche die Popkultur noch immer im Griff halte.

Als wichtigstes Vermächtnis des Postpunk nennt der Autor dessen Eingeschworensein auf die Veränderung, welches sich zum einen in der Überzeugung geäußert habe, dass sich die Musik stets weiterentwickeln müsse, zum anderen aber auch im Vertrauen darauf, dass sie die Welt verändern könne – und sei es auch nur, indem sie die Wahrnehmung Einzelner verändere oder ihr Gespür für das Mögliche erweitere. Bei aller Bewunderung für die Zukunftsorientierung des Postpunk äußert Reynolds jedoch auch leise Zweifel und fragt sich, ob all die Energie, die in diesen Glauben geflossen ist, nicht vielleicht verschwendet und von etwas weggelenkt wurde, das die Beschäftigung damit eher wert gewesen wäre. Dennoch zeigt er sich dankbar für die durch diese Ära in ihm geweckten Erwartungen an die Musik.

Über den Index kann man das Buch durchaus auch als Nachschlagewerk für die in ihm vorgestellten Bands verwenden. Ein großes Plus ist, dass diese nicht im luftleeren Raum stehenbleiben, sondern in ihr jeweiliges Umfeld und die damaligen Trends eingebettet werden. Reynolds schreibt – ohne die eigene Subjektivität ganz außen vor zu lassen – überwiegend sachlich, jedoch in einem umgangssprachlichen Ton, sodass die Lektüre zwar informativ ist, aber niemals trocken wird. Auch auf Mainstreamgrößen wird hin und wieder Bezug genommen, hier sei auf DONNA SUMMER’s ‚I Feel Love‘ und MICHAEL JACKSON’s „Off The Wall“ verwiesen. Allerdings kann es nichts schaden, wenn man zumindest schon ein wenig Vorwissen bezüglich der (Musik-)Historie und einzelner Bands mitbringt, da man als Leser sonst hin und wieder doch etwas überwältigt werden kann. Was die Fülle des Stoffes anbelangt sowieso, denn alleine 119 vom Autor eigens geführte Interviews flossen in das Werk ein.

Auf knapp 400 Seiten lässt sich natürlich keine umfassende Geschichte sämtlicher Bands schreiben, und so wurde zu Gunsten des Gesamtüberblicks auf persönliche Anekdoten und Ähnliches weitgehend verzichtet. Stattdessen hält man mit „Rip It Up and Start Again. Postpunk 1978-1984“ eine vorbildliche Einführung für musikhistorisch Interessierte in der Hand. Wer Kultband-Klatsch und sensationelle Szenegängerberichte erwartet, der ist mit diesem Buch dagegen denkbar schlecht bedient. Doch wahre Fans der Ära werden an diesem Werk kaum vorbeikommen. Denn nicht zuletzt fordern die zahlreichen Nennungen diverser Singles dazu auf, sich selbst einmal näher mit der ein oder anderen Band zu beschäftigen, die man noch nicht kannte.

Zusätzlich zum Buch hat Reynolds von seiner [Homepage]http://www.simonreynolds.net/ aus über achtzig Seiten kommentierte Postpunk-Diskographie verlinkt, was das Stöbern nach Neu- und Wiederentdeckungen erleichtert. Schön ist auch, dass hier etablierte Genregrenzen nicht einfach zementiert werden, sondern auch Kontinuitäten, Vorläufer (wie die |Freak Culture| der Sechziger), Impulsgeber und benachbarte Strömungen (wie Electro-Funk) zumindest einmal angerissen werden, anstatt grob vereinfachende Dichotomien wie etwa ‚Punk vs. Rock‘ oder ‚Post-Punk vs. Punk‘ zu behaupten.

Nach Judith Ammanns Interview-Collage „Who’s Been Sleeping In My Brain“ und dem deutschlandlastigen Pendant „Verschwende deine Jugend“ von Jürgen Teipel ist Simon Reynolds mit „Rip It Up and Start Again. Postpunk 1978-1984“ nun ein wirklich unverzichtbares, weil umfassendes Werk zum Thema gelungen.

Wer das Buch im englischen Original lesen möchte, sollte allerdings entweder in dieser Sprache sehr bewandert sein oder aber zumindest ein Wörterbuch ständig greifbar halten, um nicht um die Feinheiten des Ausdrucks verlegen zu sein. Wenn man denn über den entsprechenden Wortschatz verfügt, liest sich „Rip It Up and Start Again“ jedoch recht flüssig. Eine deutsche Ausgabe des Buches erschien im [Hannibal Verlag]http://www.hannibal-verlag.de unter dem Titel „Schmeiß alles hin und fang neu an“, übersetzt von Conny Lösch, die bisher eher durch Bücher im Bereich ‚Sex & Porno als Pop‘ aufgefallen ist. Allerdings enthält diese Ausgabe, im Gegensatz zum Original, leider keinen Index.

Teltscher, Wolfgang – DeisterKreisel

Barsinghausen ist eine kleine beschauliche Stadt am Deister – südwestlich von Hannover. Bei Wolfgang Teltscher wird dieses kleine Städtchen nun Schauplatz für seinen Lokalkrimi. Dort, wo die Polizei meist nicht allzu viele Verbrechen aufzuklären hat, gilt es nun, im mysteriösen Todesfall des ehemaligen Kriminalkommissars zu ermitteln …

_Toter im See_

Viele Jahre lang war Alfred Matuschek Leiter der Kriminalpolizei in Barsinghausen, doch nun wurde er aufs Altenteil versetzt. Wehmütig sitzt er in seiner Heimatstadt am See, betrachtet die Enten und wirft seine Uhr ins Wasser, die seine Kollegen ihm zum Abschied geschenkt haben. Denn Zeit ist für ihn nicht mehr wichtig, sondern eher zur Belastung geworden. Mit seiner letzten handgeschmierten Stulle füttert er die Enten und denkt derweil über seinen Abschied von der Polizei nach und über den bevorstehenden Ruhestand. Fast vier Wochen später sitzt ein Liebespaar auf der gleichen Bank am See und küsst sich das erste Mal, doch über die Schulter ihres Begleiters hinweg sieht die junge Frau eine Leiche auf dem Wasser treiben – es ist der tote Alfred Matuschek.

Da die Polizei in Barsinghausen befangen ist, reist Kommissar Manfred Marder aus Stade an, der einst auch schon mit Matuschek zusammengearbeitet hat. Ganz auf sich allein gestellt, versucht er zunächst, sich ein Bild von Matuschek und seiner Familie zu machen. Währenddessen wartet er auf die Ergebnisse der kriminaltechnischen Untersuchung, denn noch ist nicht klar, ob Matuschek gewaltsam ums Leben kam oder gar Selbstmord beging. Doch wieso sollte er sich so kurz nach seiner Pensionierung freiwillig das Leben nehmen? Auf der anderen Seite finden sich keine Zeichen der Gewalteinwirkung, und die Analyse besagt auch lediglich, dass Matuschek eindeutig ertrunken ist. Ob ihn aber jemand unter Wasser gedrückt hat oder ob es doch ein Selbstmord war, muss Marder herausfinden.

Zunächst befragt er Matuscheks Frau, seine Tochter und seinen Sohn, aber auch Matuscheks ehemaligen Arbeitskollegen und seinen einzigen Freund. Das Bild, das diese Menschen Marder von dem Toten vermitteln, scheint ausgesprochen harmonisch. Niemand weiß etwas Negatives über Matuschek zu berichten, aber schnell fängt dieses scheinbar so harmlose Bild an zu bröckeln, als Marder ein wenig daran zu kratzen beginnt. Was haben diese Menschen ihm verschwiegen? Welcher Mensch war Matuschek wirklich? Als Marder tiefer zu graben beginnt, erscheint ein ganz neues Bild des Toten …

_Täuschende Idylle_

Zunächst baut Wolfgang Teltscher eine beschauliche Idylle auf. Er präsentiert Alfred Matuschek, erzählt von seiner Pensionierung und der Abschiedsfeier mitsamt dem unpassenden Geschenk. Auch die Szene am See wirkt nachdenklich und harmonisch, nichts deutet darauf hin, dass bald etwas Schreckliches passieren wird. Als die verliebte Frau auf dem See den Körper eines Menschen treiben sieht, bricht dieses Unglück in eine hübsche Kleinstadtidylle hinein. Doch Teltscher baut zunächst noch mehr Spannung auf, denn zunächst enthält er uns vor, wer denn nun tot im See treibt. Stattdessen widmet er sich seinen weiteren Charakteren. Wir lernen Matuscheks Frau auf dem Tennisplatz kennen und erfahren, dass sie ihrem Mann offensichtlich nicht allzu treu gewesen ist und die Ehe schon längst nur noch auf dem Papier existierte. Aber auch bei der Vorstellung der beiden Kinder Bertram und Anja geht der Autor schonungslos vor. In den Augen von Vera Matuschek sind ihre beiden Kinder Versager, hatte sie ihnen doch immerhin eine großartige Karriere nach einem ordentlichen Hochschulstudium gewünscht. Doch Anja ist lieber Krankenschwester geworden und will das Geld ihren späteren Ehemann verdienen lassen, während Bertram sich als Forstwirt im Wald versteckt.

Auch Matuscheks andere Bekannte – sein ehemaliger Kollege Burt Brenner und sein einziger Freund Knut Wotowski – kommen in ihrer Vorstellung nicht allzu gut weg. Brenner freut sich einfach zu sehr, seinen ehemaligen Chef los zu sein, der in seiner eigenbrötlerischen Art und Weise nie gut mit Brenner zusammengearbeitet hat. Und Wotowski hat einen Berg Schulden bei dem kürzlich verstorbenen Kriminalkommissar, den er auch nur schwerlich zurückzahlen kann, da seine deutsche Gaststube nicht so gut läuft, wie er sich das wünschen würde.

Wolfgang Teltscher konzentriert die Lesersympathien folglich in einer einzigen Person, und zwar in der des ermittelnden Kommissars Marder, dem als Einzigen daran gelegen zu sein scheint, das Verbrechen aufzuklären. Marder quartiert sich in einer hübschen kleinen Pension ein, in der er sich auch sogleich mit der Hauswirtin anfreundet, zumal diese ihm täglich ein fantastisches und wohlschmeckendes Frühstück kredenzt. Marder ist ein Mensch, der das Leben offensichtlich genießt. Ab und an quält er sich zwar zu einer Yogastunde, doch sein Vorsatz, täglich eine Stunde Yoga zu machen, ist schnell vergessen.

Manfred Marder ist es nun, der versucht, hinter die Kulissen in Barsinghausen zu schauen. Denn auf den ersten Blick erscheint alles zu perfekt; Matuscheks Familie trauert zwar nicht um das verstorbene Familienoberhaupt, dennoch beschreiben die drei eine harmonische Familienidylle. Hier passt nichts zusammen, das merkt auch Kommissar Marder – wenn auch erst auf den zweiten Blick und nach einem wichtigen Hinweis seiner Hauswirtin.

_Beschaulich und gemächlich_

Es ist nicht gerade eine reißende Spannung, die Wolfgang Teltscher aufbaut, denn nach seinem ersten großen Spannungsmoment plätschert das Buch so vor sich hin. Wir begleiten Manfred Marder bei seinen Ermittlungen, lauschen den Befragungen und spekulieren selbst, was bloß vorgefallen sein könnte. Doch Teltscher gibt uns kaum Hinweise an die Hand, um eigenständig auf die Lösung zu kommen. Schnell ist klar, dass hinter den Masken einiges verborgen bleibt, doch ist es an Marder, diese Wahrheit aufzuspüren – der Leser hat dazu keine Chance, da er nie mehr weiß als der ermittelnde Kommissar.

Auch passiert über lange Strecken hinweg nichts Neues. Die kriminaltechnische Analyse bringt keine Neuigkeiten, und die Befragungen drehen sich im Kreise, sodass Marder alle Verdächtigen – und davon gibt es später doch so einige – immer wieder neu befragen muss. Der Spannungsbogen flaut über weite Strecken ziemlich ab, um eigentlich erst kurz vor Schluss wieder etwas abzuheben, als ein wichtiges Beweismittel gefunden wird und auf der vorletzten Seite nun auch endlich der Leser erfährt, was hinter dem Tod Matuscheks steckt. Das Ende ist zwar stimmig und überzeugt auch, nur kommt es recht plötzlich und baut sich nicht wirklich spannend auf; hier hätte Teltscher dem Leser zwischendurch einfach schon mehr Informationshäppchen zuwerfen sollen.

_Barsinghausen? Wo ist das denn?_

Lokalkrimis sind „in“. Dank Susanne Mischke hat der Krimi auch endlich seinen Weg nach Hannover gefunden, doch Wolfgang Teltscher verlagert seine Krimihandlung aus Hannover hinaus und siedelt seinen Fall in Barsinghausen an. Das ist gewagt, denn in Barsinghausen und den zugehörigen Ortsteilen wohnen gerade einmal 36000 Einwohner – eine winzige Zielgruppe an ortskundigen Lesern. Und da Teltscher seinen Heimatort im Laufe der Romanhandlung nicht ein einziges Mal verlässt, erkennen nicht einmal Hannoveraner irgendetwas an Lokalkolorit wieder, zumal Teltscher auch nicht allzu viel erzählt von seinem Ort, sodass der Lokalanteil eher uninteressant wirkt. Schade.

_Über den Deister …_

Zunächst begann „DeisterKreisel“ recht vielversprechend. Teltscher baut einiges an Spannung auf und stellt einige interessante Figuren vor, von denen immerhin eine durchaus Sympathiepunkte sammeln kann. Doch über weite Strecken plätschert das Buch dann vor sich hin. Insgesamt bleibt daher ein eher mittelmäßiger Eindruck zurück, zumal etliche Tippfehler den Lesefluss stören und das „ß“ meiner Meinung nach zu arg vernachlässigt wurde. Eine ordentliche Schlusskorrektur hätte diesen Missstand sicher beheben können. Der Schreibstil gefiel mir eigentlich sehr gut und auch die Charaktere, die Teltscher zeichnet, überzeugen. Vielleicht sollte der Autor sich einmal aus Barsinghausen hinauswagen und ein wenig von der Idylle lösen, dann könnte sein nächstes Buch deutlich mehr Leser überzeugen.

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Briggs, Patricia – Rabenzauber

Tieragan kommt aus dem Krieg. Er hat einen weiten Weg hinter sich, das Wetter ist mies, und der junge Mann freut sich auf ein trockenes Gasthaus und eine warme Mahlzeit. Stattdessen platzt er mitten in eine prekäre Situation: Auf dem Marktplatz brennt ein Scheiterhaufen, und im Wirtshaus ist der Wirt gerade dabei, die Schwester des Hingerichteten zu verkaufen, weil sie die überhöhte Rechnung nicht begleichen kann.

Spontan kauft Tieragan das junge Mädchen und macht sich mit ihm aus dem Staub. Dass der andere Interessent ihnen folgt und versucht, Tieragan zu töten und das Mädchen in seine Gewalt zu bringen, dem misst der junge Soldat zunächst keine Bedeutung bei. Erst viel später wird er sich daran erinnern, als es fast schon zu spät zu sein scheint …

Patricia Briggs hat mit den meisten Figuren in diesem Roman keine reine Charakterzeichnung abgeliefert. Der Großteil der Personen besitzt dafür besondere magische Begabungen, die so stark ausgeprägt sind, dass sie die eigentliche Persönlichkeit massiv beeinflussen.

Bei Seraph, dem Mädchen aus dem Wirtshaus, hält es sich noch am ehesten in Grenzen. Der Rabe ist das Symbol für den Zauberer und seine Gabe mehr mit Fähigkeiten gleichzusetzen als mit Eigenschaften. So kann Seraph – neben allgemeinen Kleinigkeiten wie einen Bann weben, mit Magie Feuer anzünden und Ähnliches – in einer Art Vision die Vergangenheit von Dingen sehen, die sie berührt. Allerdings ist für die Ausübung dieser Gabe Selbstbeherrschung notwendig, die Seraph sich immer wieder neu erarbeiten muss, denn eigentlich ist sie sehr gefühlsbetont, und ihre Gefühle, vor allem Trauer und Angst, neigen dazu, in Zorn umzuschlagen.

Die Eule dagegen, Symbol für den Barden, verleiht die Macht der Musik. Ein Barde kann durch seine Magie dem Inhalt seiner Lieder zusätzliche Substanz verleihen in Bildern, Geräuschen, ja sogar Gerüchen. Er kann die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer an sich binden, sie beeinflussen und im Extremfall sogar seinem Willen unterwerfen. Niemand kann einen Barden anlügen, ohne dass dieser es merkt. Bei einer solchen Macht stellt sich schon die Frage, ob Tieragans ausgeprägte Menschenkenntnis und seine überdurchschnittlichen diplomatischen Fähigkeiten zu seiner Person gehören oder zu seiner magischen Gabe.

Noch extremer ist es beim Adler. Der Adler ist der Beschützer und gegen Magie von außen nahezu unempfindlich. Seine eigene Magie jedoch, die Gabe des Hüters, ist zornig, aufbrausend und kann ziemlich mörderisch werden. Gleichzeitig sind alle Adler Empathen, also Menschen, die andere, vor allem deren Gefühle, spüren und verstehen können. So kann der Leser nie ganz sicher sein, ob das Einfühlungsvermögen von Jes Tieraganssohn oder seine Reizbarkeit in der Nähe von Menschenmengen oder bei Streit Aspekte seines eigenen Wesens sind oder eine Folge der Tatsache, dass er Adler ist.

Die Personen ohne Gabe, wie Tieragans zänkische Schwester, sein gutmütiger Schwager oder der freundliche Prister seines Heimatdorfes, sind eher Randfiguren. Nur einer davon ist wirklich wichtig: Phoran, der Kaiser des Reichs. Ein noch junger Mann, durchaus intelligent, aber einsam, ohne jedes Selbstbewusstsein und seit einiger Zeit schier erstarrt in Angst vor einem Geist, der ihn jede Nacht heimsucht. Er vertut seine Tage mit Gelagen und Huren, bis ihm irgendwann der Verdacht kommt, dass der einzige Mann, den er seinen Freund nennt, ihn womöglich ebenso verachtet wie der Rest seiner Umgebung.

Mir haben eigentlich alle Figuren in dieser Geschichte gut gefallen. Selbst die Nebenrollen besitzen ziemlich viel Persönlichkeit und wirken lebendig. Und auch die enge Verbindung zwischen Gabe und Charakter bei den Protagonisten empfand ich eher als Vorteil. Dadurch, dass die Übergänge fließend sind, wird die Magie mehr zu einem Teil der Person, was vor allem im Falle von Tieragan und Jes zu sehr exotischen und faszinierenden Ergebnissen geführt hat.

Dem Entwurf ihrer Welt hat die Autorin zunächst scheinbar wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Ein Kaiserreich, ein beendeter Krieg, Fürsten, denen das Land gehört, Dörfer, Städte, der Palast in der Hauptstadt Taela … nichts Ungewöhnliches. Außerhalb dieses Gefüges aber gibt es noch die Reisenden, die von der übrigen Bevölkerung beargwöhnt, abgelehnt, ja oft genug sogar gehasst werden. Die Reisenden sind nicht etwa vergleichbar mit fahrendem Volk, sie sind kein Jahrmarkt oder Zirkus. Die Reisenden sind nur deshalb unterwegs, weil sie vor Jahrhunderten ihre Heimat verloren. Eine riesige Dummheit hatte grausame Konsequenzen, und nun versuchen die Reisenden, mit Hilfe ihrer magischen Gaben die angeschlagene Balance der Schöpfung zu erhalten. Nur ganz allmählich entwickelt die Autorin diese fantastische Seite ihrer Welt, weitet sie aus über Legenden und altes Wissen der Reisenden, bis sie irgendwann bei der Historie angekommen ist und schließlich den Kern der Geschichte stellt.

Bis dahin haben Tieragan, Seraph und ihre Kinder einige Turbulenzen zu überstehen. Denn ein Geheimbund versucht nicht nur, die Macht des Kaisertums auszuhöhlen, sondern auch, die Gaben der Reisenden an sich zu bringen – durch Entführung, Magie und Mord. Gleichermaßen durchtrieben und hinterlistig wie auch mit roher, rücksichtsloser Gewalt strebt irgendwo jemand nach unbeschränkter Macht. Die Familie macht sich auf die Suche, und tatsächlich begegnen ihr genügend Leute, die in die geheimen Machenschaften des Geheimbunds verwickelt sind. Doch keiner dieser Solsenti-Zauberer – der Unbegabten, die Magie nur mit Hilfe von Formeln und Ritualen beherrschen können – scheint der Anführer zu sein …

Tatsächlich hält die Autorin ihren obersten Bösewicht lange Zeit geheim. Auf ziemlich gemeine, höchst gelungene Art streut sie erst einen Verdacht, um ihn dann gleich wieder zu entkräften, und das macht sie so oft, dass der Leser den einen, entscheidenden, aber ziemlich unauffälligen darunter irgendwann zu übersehen droht. Das macht den Bösewicht nur umso interessanter, denn erst beim Showdown zeigt er das wahre Ausmaß seiner Boshaftigkeit. Es ist, als säße die ganze Zeit eine lauernde Spinne im Raum. Aber man sieht sie nicht. Nicht etwa deshalb, weil sie sich versteckt oder sich nicht rührt, sondern weil sie keinerlei sichtbare Ähnlichkeit mit einer Spinne hat.

Dieser Spannungsbogen trägt allerdings vor allem den zweiten Teil. Der erste Teil lebt von den diversen kleinen Scharmützeln gegen größere und kleinere Bedrohungen, die nicht mal alle dem Geheimbund angehören. Sie alle bieten Spannung, die nach dem Duell zwar schnell wieder abebbt, aber jedes Mal weitere und natürlich schwierigere Kämpfe in Aussicht stellt. Und wenn tatsächlich mal kein Kampf in Sicht ist, dann widmet sich die Autorin den Konflikten zwischen Reisenden und dem Rest der Bevölkerung oder zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb der Gruppe, was aufgrund der ungewöhnlichen Persönlichkeiten niemals langweilig ist.

Alle diese Bestandteile – die faszinierenden Charaktere, die Details ihrer Welt, die Spannungsbögen der Handlung – hat die Autorin lückenlos zusammengefügt. Alles ist überall miteinander verbunden, alles hängt miteinander zusammen, ohne dass es irgendwo knirscht oder knackt. Eine runde Sache, die ich sehr gerne gelesen habe.

Als sehr positiv empfand ich auch, dass Heyne, anstatt Bücher auseinanderzureißen, wie andernorts zur Zeit Mode, lieber zwei Teile zusammengefasst hat. Wie „Drachenzauber“ ist auch „Rabenzauber“ im englischen Original ein Zweiteiler. Und obwohl die Autorin zu Beginn des zweiten Teils noch gelegentlich Hinweise auf den ersten gibt, um das Verständnis zu erleichtern, war sie damit nicht allzu großzügig. Das Wegfallen einer größeren Veröffentlichungspause kommt dem Leser hier zusätzlich entgegen. Und auch das Lektorat war diesmal ausgesprochen gut.

Patricia Briggs schreibt bereits seit fünfzehn Jahren. Neben den Zweiteilern „Drachenzauber“ und „Rabenzauber“ schrieb sie einige Einzelromane wie „When Demons Walk“ oder „The Hob’s Bargain“ und wirkte in Anthologien mit, darunter „Silver Birch, Blood Moon“ und „On The Prowl“. Einige ihrer Bücher sind bereits wieder out of print. Außerdem schreibt sie derzeit an ihrer Mercedes-Thompson-Serie, die im englischen Original inzwischen bis Band vier gediehen ist. Der erste Band ist auf Deutsch bereits erschienen unter dem Titel „Ruf des Mondes“. „Bann des Blutes“ soll im Juli dieses Jahres, „Spur der Nacht“ im Februar 2009 in die Buchläden kommen.

Taschenbuch 990 Seiten

Originaltitel: „Raven’s Shadow“ und „Raven’s Strike“

Deutsch von Regina Winter

ISBN-13: 978-3453523159

http://www.heyne.de
http://www.hurog.com
http://www.patriciabriggs.com

 

DeLong, Candice / Petrini, Elisa – Agentin, Die. Eine Frau im Dienst des FBI

Fast fünf Jahrzehnte hatte er das von ihm mitgegründete „Federal Bureau of Investigations“ geleitet, es in seinen letzten paranoiden Jahren als politisches Instrument missbraucht, seine Mitbürger und Mitarbeiter bzw. Untergebenen terrorisiert: J. Edgar Hoover (1895-1972), Segen und Fluch des FBI, dessen Schatten noch Jahre nach seinem Tod auf dieser Behörde lastete.

Eine Folge: Noch in den 1980er Jahren, als das öffentliche Aussprechen des Wortes „Gleichberechtigung“ nicht mehr den Exorzisten auf den Plan rief, arbeiteten so gut wie keine Frauen für das FBI. Dabei gab und gibt es auch unter den weiblichen US-Bürgern viele, denen es in die Wege gelegt wurde, die Feinde von Recht, Ordnung & Demokratie möglichst lange hinter Schloss und Riegel zu bringen!

Candice DeLong gehört zu den Hütehunden, die uns Herde schafsgleich durchs Leben ziehender Zeitgenossen vor den kriminellen Wölfen dieser Welt schützen möchten. Die ehemalige Krankenschwester und alleinerziehende Mutter rückt unverdrossen in die FBI-Bastion ein. Als tapferer kleiner Soldat übersteht sie klaglos maskulinen Drill und die harte theoretische Schulung. Den plumpen Chauvinismus sowie die rauen „Scherze“ ihrer Ausbilder, Mitschüler und späteren Kollegen gibt’s gratis dazu.

Aber in God’s Own Country ist das Glück mit der Tüchtigen. Gestählt durch alle Prüfungen, vor Ehrgeiz brennend, schwer bewaffnet und ihr Markenzeichen, den schicken Hut, tief in die Stirn gezogen, zieht Agentin DeLong in den Krieg gegen das Böse. Sie führt ihn mit dem für ihre Landsleute üblichen Elan erbittert und in jeder Sekunde des Tages und der Nacht. Ja, Strolche lauern überall, und sieht man sie nicht, kann man sich immer noch der verdienstvollen Aufgabe widmen, vorsorglich jene auszutilgen, die welche werden könnten – und das sind, so das ernste FBI-Wort, im Grunde alle Menschen dieser Welt, die sich nonkonform verhalten; was das im Detail bedeutet, verrät Ihnen gern die nächste Bureau-Dienststelle.

DeLong schlägt nach mehreren Lehr- und Wanderjahren die Laufbahn einer FBI-Profilerin ein. Als solche spezialisiert sie sich auf Täter, die es auf Frauen und Kinder abgesehen haben – eine schwierige, auch psychisch belastende Aufgabe, die DeLong mit einigen unerfreulichen Zeitgenossen der jüngeren Kriminalgeschichte zusammenführt.

Insider-Berichte über Geschichte und Alltag des FBI sind zumindest auf dem deutschen Buchmarkt nicht gerade häufig. Gleichzeitig ist das Bureau in den Medien, noch mehr jedoch in Literatur und Film so präsent wie seit seiner Gründung. Hier wie dort tritt es jedoch im Guten wie im Bösen eher als nationaler Mythos auf. Deshalb ist es interessant, einen Blick auf den realen FBI-Alltag werfen zu können.

Dort wird zwar auf meist hohem Niveau, aber eben auch nur mit Wasser gekocht. Dies zu belegen, ist zumindest ein Verdienst, den Ex-Agentin und Autorin Candice DeLong für sich verbuchen kann. Es bleibt ihr einziger, denn ansonsten präsentiert sich ihr Werk als chronologisch locker geordnetes, aber inhaltlich wirres Sammelsurium persönlicher Erinnerungen, kriminalistischer Fallgeschichten und FBI-Anekdoten à la „Wie mir mal im Supermarkt die Dienstwaffe aus der Tasche fiel“. Krimi und Seifenoper: Im Fernsehen nennt man das eine „überlappende Erzählstruktur“; die meisten modernen Polizei-Serien folgen diesem Muster. Das ist in der Fiktion sehr unterhaltsam, als Rückblick auf die Realität aber irritierend.

Erträglicher (doch nicht besser) wird es nur, wenn DeLong sich auf ihre Tätigkeit als Profilerin konzentriert. Darauf versteht sie sich, sie kann diesen Job ihren Lesern vermitteln, die diese Passagen mit Interesse verfolgen. Nun wird außerdem deutlicher, dass die schmalztriefigen, einer schlechten TV-Show entliehenen Szenen des DeLongschen Privatlebens unterstreichen sollen, dass a) auch gestrenge FBI-Agenten nur Menschen sind und b) sich die Erlebnisse einer Profilerin nach Feierabend nicht einfach abschütteln lassen.

Weiterhin unverändert bleibt freilich der kindliche Tonfall dieser Biografie. Niemand verlangt von einer fähigen FBI-Agentin, auch eine gute Autorin zu sein. Aber wen hat man DeLong dann eigentlich zur Seite gestellt? Co-Autorin Elisa Petrini dürfte eine dieser literarischen Söldnernaturen sein, die auch hierzulande Gestalten wie Bohlen & Co. die Illusion vermieten, „Schriftsteller“ zu sein. Dieser Vergleich kommt hier nicht von ungefähr, denn er beschreibt etwa das Niveau, auf dem sich „Die Agentin“ bewegt.

Die saloppe Übertragung ins Deutsche konserviert diesen Eindruck oder verstärkt ihn womöglich, obwohl es möglich ist, dass die Übersetzerin die schlimmsten Plattheiten der Vorlage glättet und ansonsten einfach ihren Job zu Ende bringen wollte. (Allerdings kommt der Leser manchmal ins Grübeln. Was soll denn nur dieser Satz auf S. 96 – „Der Teufel ist manchmal ein Eichhörnchen“ – bedeuten?)

DeLongs offensichtliche Naivität, ihr Tunnelblick wirkt befremdlich. Eine Frau, die in einem großen Land im Laufe eines langen Berufslebens zahlreiche schauerliche Fälle bearbeitet hat, sollte darüber eigentlich zu einer etwas differenzierten Sicht der Welt und vor allem ihrer Bewohner gelangt sein. Aber für „Candy“ DeLong gab und gibt es nur Schwarz und Weiß, kein Grau. Nach ihrer Meinung, die – das ist das Erschreckende – durch ihre Ausbildung geprägt wurde, sind kriminelle Neigungen quasi angeboren und auch nicht wirklich ‚heilbar‘. Deshalb sollte man Verbrecher am besten gut wegsperren und sie von den braven Mitbürgern fernhalten. Aufgrund von DeLongs Erfahrungen als Mitglied einer Sonderkommission gegen Kindesmissbrauch mag diese Haltung verständlich erscheinen, aber das erhebt sie keinesfalls zur allein gültigen Maxime.

So hat sie es wie gesagt beim FBI gelernt. Obwohl auch für DeLong nicht alles Gold ist, das dort glänzt, fühlt sie sich dem Kodex dieser Institution (und dem unglücklichen, weil mit kapitelbreit ausgewalzter Affenliebe peinlich bloßgestellten Herzblatt-Sohn Seth) zutiefst verpflichtet. Nicht einmal die wirklich Bösen (= Dummen, Fiesen oder Chauvinistischen) unter „den Jungs“ stellt sie bloß. Pathetisch widmet sie ihr Werk „den 33 tapferen Männern und Frauen des FBI, die [zwischen 1925 und 1996] bei der Ausübung ihrer Pflicht durch direkte Angriffe des Gegners getötet wurden“, und listet sie über drei volle Seiten auf.

Zu echter Distanz ist DeLong unfähig, Objektivität gibt es nicht. Die Ironie, die daraus entsteht, ein Buch wie „Die Agentin“ mit dem Goethe-Zitat „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen“ einzuleiten, ist unfreiwillig. Jedenfalls scheint sie DeLong nie bewusst geworden zu sein. Und wer sich nicht nach FBI-Norm bemühen mag oder kann, hat offenbar Pech gehabt und die Folgen zu tragen: |“Ich fand es sehr erfrischend, was [DeLongs kleiner Sohn] den Leuten über meine Aktivitäten an der Academy zu erzählen pflegte: ‚Sie lernt, wie man Leute umbringt, aber nur die bösen.'“| (S. 67)

Fazit: Vom Thema interessant und als Einblick in die Arbeit der gern mythisch verklärten, tatsächlich recht alltäglichen FBI-Organisation möglicherweise aufschlussreich; aber nicht nur als Biografie langweilig, weil gespickt mit moralisierenden Binsenweisheiten und vor allem hausbacken geschrieben und/oder übersetzt – eher ein Ärgernis als ein Erlebnis.