Buchwurminfos I/2006

Zehn Jahre dauert bereits der „Streit“ und selbst die Reform der _Reform der Rechtschreibung_ nimmt kein Ende. Nach Meinungsforschungsumfragen befürworteten 8 % der Bevölkerung die Reform, 61 % waren dagegen und 31 % unschlüssig. Niemand hält sich daran. Der Vorsitzende des Rechtschreibrates, Hans Zehetmair, nennt das treffend „kollektive Unfolgsamkeit“. Denn Lehrer schreiben weiterhin die bewährte Rechtschreibung an die Tafel, Schüler machen sich über die unsinnigen Regeln lustig und auch sonst kaum ein Bürger richtet sich nach den veränderten Regeln. Auch die Autoren und große Teile der Presse haben die Reform nicht akzeptiert und in zwei Bundesländern, Bayern und Nordrhein-Westfalen, war die am 1. August 2005 endende Übergangsfrist für das Inkrafttreten der Rechtschreibreform um ein Jahr verlängert worden. Die brandenburgische Kultusministerin Johanna Wanka, die bis zum 1. Januar Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK) war und ihr Amt turnusgemäß abgab, äußerte sich nun: „Die Kultusminister wissen längst, dass die Rechtschreibreform falsch war. Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden“. Auf der Frühjahrstagung im März wird sich die Kultusministerkonferenz (KMK) mit den Vorschlägen befassen, die der Rat für deutsche Rechtschreibung Ende November gebündelt präsentiert hatte. Die meisten im Gremium vertretenen Verbände – darunter auch der VdS Bildungsmedien und der Börsenverein – haben signalisiert, dass sie die vom Rat erarbeitete Kompromisslösung unterstützen werden. Nennenswerte Änderungen sind vor allem bei der Getrennt- und Zusammenschreibung (etwa „kennenlernen“ neben „kennen lernen“, „aufeinanderbeißen“ neben „aufeinander beißen“), der idiomatischen Adjektiv-Verb-Verbindungen („krankschreiben“ oder „freisprechen“), Zusammenschreibungen, die einen Bedeutungsunterschied markieren („kaltstellen“ statt „kalt stellen“) sowie der Zeichensetzung (zum Beispiel obligatorisches Komma vor „um zu“ oder „ohne“) zu erwarten. Die Abtrennung einzelner Vokalbuchstaben bei der Worttrennung (wie bei „a-ber“, „E-sel“) wird es künftig nicht mehr geben. Schluss ist dann endlich auch wieder mit sinnentstellenden Trennungen wie „Urin-stinkt“. Obwohl das Kapitel Groß- und Kleinschreibung von der KMK als „unstrittig“ eingestuft wird, soll eine Arbeitsgruppe des Rechtschreiberats noch einmal Detailfragen klären. Auf jeden Fall werden die Beschlüsse des Rechtschreiberates und der KMK den Schulbuchverlagen wieder Änderungen bescheren.

Seit mindestens zwanzig Jahren – mehr als diese Zeit bin ich mittlerweile in die Branche involviert – klagen bereits die Buchhandlungen über zu wenige Umsätze bzw. kontinuierlichen Umsatzrückgang und hoffen so sehr auf wirtschaftliche Änderungen. Ganz viele der kleinen Buchhandlungen sind in dieser Zeit von der Bildfläche verschwunden. Aber die _Umsatzzahlen_ des Weihnachtsgeschäftes 2005 sind die bislang drastischsten in all „meiner“ Zeit. Das Weihnachtsgeschäft ist nicht mehr das, was es einmal für den Handel war. Mit Beginn der Weihnachtszeit lag der Umsatzrückgang in den Buchhandlungen zwischen 15 % bis hin zu 40 % ! Je näher Weihnachten rückte, desto besser sahen die Zahlen aber dann aus. Ab dem dritten Advent belief sich das Minus im Schnitt noch auf 3 % zum Vorjahr. Dabei gibt es große Unterschiede zwischen den kleinen unabhängigen Buchläden und den großen Ketten. In den Ketten lief das Geschäft einigermaßen positiv, in den kleinen Läden dagegen schickten die Inhaber teilweise ihre Mitarbeiter aufgrund mangelnder Kundenfrequenz schon am Nachmittag nach Hause. Dauerhaft im positiven Bereich sind die Hörbücher, auch wenn der Zuwachs im Weihnachtsgeschäft 2005 erstmals deutlich unter 10 Prozent lag. Noch im Jahr davor hatten die Hörbücher ein Umsatzplus von fast 20 Prozent erreicht. Auch Kinder- und Jugendbücher verkauften sich besser – sicherlich noch eine Auswirkung von »Harry Potter und der Halbblutprinz«. Ihr Umsatz liegt bei plus 9,5 Prozent. Ein Plus gibt es auch im Bereich Schule und Lernen mit einem Wert von 4,0 Prozent. Alle anderen Büchersparten hingegen sind aber im Minus, wenn auch kurz vor Weihnachten dann Unterhaltungsliteratur, Krimis und die Toptitel der Bestseller (allesamt in höherpreisigen Hardcover-Ausgaben) nochmals zulegten. Der Sparkurs der neuen Bundesregierung trug alles andere als zur Konsumlust bei und die hohen Öl- und Gaspreise haben die meisten Menschen sicher mehr als nur erschreckt. Immerhin verschenken 60 % der Bevölkerung zu Weihnachten ein Buch und die Kunden nahmen auch in den Buchhandlungen zu, aber steigende Kundenfrequenz ist allerdings nicht gleichzusetzen mit einem Umsatzplus.

Für Aufatmen im Handel sorgte die Entscheidung des Bundeskabinetts, den reduzierten _Mehrwertsteuersatz_ von 7 % für Bücher und andere Kulturgüter beizubehalten. Besonders der Börsenverein hatte sich in Berlin immer wieder für die Erhaltung des reduzierten Steuersatzes eingesetzt.

Dagegen ist die Branche in Alarmbereitschaft wegen der hohen Zuwachsraten beim _Gebrauchsbuch-Kauf_. Der Handel nimmt vor allem im Internet problematisch zu. Amazon generiert weltweit und über alle Produktgruppen hinweg bereits 30 % aller Bestellungen über das Marketplace-Programm, das bei jeder Suchanfrage entsprechende gebrauchte Waren anzeigt. Durch die Buchpreisbindung hat das Angebot in Deutschland überdurchschnittliche Bedeutung. Gebrauchte Bücher kosten im Schnitt ein Drittel des Originalpreises, sind häufig neuwertig und werden zum Teil unmittelbar nach der Erstauslieferung angeboten. Damit höhlen sie das Preisbewusstsein beim Endkunden aus – zumal es oft die aktivsten Buchkäufer sind, die sich für ein gebrauchtes Buch entscheiden. Mittelfristig gerät dadurch die Preisbindung in Gefahr. Autoren und Verlage gehen bei schnell wachsenden Umsätzen mit Gebrauchtbüchern leer aus. Der Online-Handel mit Second-Hand-Ware kann zunehmend an die Stelle ihrer Stammumsätze treten. Der Verleger-Ausschuss des Börsenvereins hat deswegen Amazon zu Gesprächen eingeladen, um einen Meinungsaustausch zu ermöglichen. Der Handel mit Gebrauchtbüchern kann natürlich nicht verhindert werden, aber Modelle könnten entwickelt werden, die den Verlagen einen angemessenen Anteil an der Vermittlungsgebühr sichert und vielleicht auch Einfluss auf die Preisgestaltung ermöglichen.

Zum Ende des letzten Jahres gab es im Buchhandel eine Sensation. Alle 26 _Gondrom_-Filialen wurden an den nationalen Marktführer _Thalia_ verkauft. Das Kartellamt muss dem Deal aber noch zustimmen. Reinhold Gondrom bleibt für zwei Jahre Geschäftsführer, mit einer möglichen Verlängerung für weitere drei Jahre. Der Name Gondrom wird beibehalten und weitere Filialen sind geplant. Mit dem Kauf übersprang Thalia gleich zum Auftakt des Jahres die 500-Millionen-Euro-Umsatzmarke im deutschsprachigen Raum. Gondrom hatte zuletzt 60 Millionen Jahresumsatz, Thalia 461 Millionen. Ein weiterer Vergleich: Die _Weltbild Plus Medienvertriebs GmbH_ hatte 2005 in ihren Läden Weltbild plus, Weltbild! und Jokers 266 Millionen Euro umgesetzt. Das Gemeinschaftsunternehmen von Hugendubel und Weltbild betreibt in Deutschland, Österreich und der Schweiz mit den drei genannten Ketten rund 310 Buchhandlungen, und Weltbild plus ist zudem zu 51 % an der Wohltat`schen Buchhandlung beteiligt (30 Millionen Euro Umsatz). Weltbild expandiert auch in diesem Jahr mit weiteren zusätzlichen Läden.

Es bleibt also bei den Konzentrationen auf große Konzerne, wie es _Random House_ vormachte. Dessen Expansion nimmt auch kein Ende. 2005 wurden DVA, Kösel, Manesse und die Gerth Medien übernommen.

_Bucheditionen_: Bereits sechs Wochen vor dem Start der _“SZ“-Krimi-Bibliothek_ brachte das Magazin „Stern“ seine Krimi-Edition in den Handel. Vertriebspartner ist das Schwester-Unternehmen Random House, und die überwiegende Zahl der Lizenzen stammt auch aus den Imprints von Random House. Die _“Stern“-Edition_ setzt auf aktuelle Krimis (und konnte in den ersten beiden Monaten – Start war 1. Dezember – 300.000 Bände verkaufen), die „SZ“-Edition dagegen auf Klassiker der letzten 60 Jahre in fünfzig Bänden. Die Süddeutsche Zeitung erwartet allerdings nicht, dass die Krimi-Edition an den Erfolg der „SZ-Bibliothek“ heranreichen kann. Interessant zu sehen ist, dass bislang jedes Buch aus der _“Brigitte“-Edition_ sofort den Sprung in die Bestseller-Verkaufslisten schaffte. Dadurch konnten von den ersten zehn erschienenen Bänden 1,5 Millionen Exemplare verkauft werden. Das Konzept – Empfehlungen von Elke Heidenreich – ist aufgegangen. Die Edition wird im August abgeschlossen und dann 26 Bände umfassen. Ob sie später fortgesetzt wird, ist noch nicht entschieden.

In den _Bestseller-Listen_ vor Weihnachten dominierte ansonsten Joanne K. Rowling mit sieben Harry-Potter-Titeln (da auch der sechste in Englisch dazugehörte). Auf Platz 2 stand Cornelia Funke mit ihrem „Tintenblut“. Natürlich ist auch der Vorgänger „Tintenherz“ hoch im Ranking. Im Januar kam sie auch mit ihrem Buch von 2000 „Herr der Diebe“ in die Charts, da das populäre Kinderbuch als Film in den Kinos angelaufen ist. Durch diese drei Titel schlägt sie die englische Bestsellerautorin, die zwar auch noch mit drei Pottern-Titeln in den Besteller-Listen ist, aber weiter hinten. Marc Levys Liebesroman „Zurück zu dir“ – die Fortsetzung des derzeitigen Kinofilms „Solange du da bist“ – ist einer der gut platzierten derzeitigen Newcomer. Durch den Weihnachtskinofilm gelangte auch C. S. Lewis‘ „Der König von Narnia“ wieder auf vordere Plätze. Auch die Buchversionen der „Perry Rhodan“-Serie gelangen bislang sofort in die Charts. Selbst Kochbücher hatten sich aufgrund ihres „Verschenkwertes“ während des Weihnachtsgeschäftes ganz gut lanciert. Aber Kochen und vor allem Diätratgeber sind seit langer Zeit die liebste Sachbuch-Lektüre der Deutschen. Langsam starten nun aufgrund der kommenden Fußball-WM die Fußball-Bücher in die Sachbuchbestseller-Listen.
In Amerika war „Harry Potter and the Half-Blood Prince“ mit 7,02 Millionen Exemplaren das meistverkaufte Buch 2005. Die Longseller von Dan Brown („Sakrileg“ und „Illuminati“) schafften es dort auf die Plätze 5 und 8.

Auf dem _Hörbuch-Markt_ beginnt neuerdings ein richtiges Preisdumping. Vor Weihnachten bot _Aldi Süd_ in seinen 1600 Fillialen zwei Hörbuchpakete mit jeweils (!) 12 CDs für gerade mal 12,95 Euro an. Diese wurden vom _Tandem Verlag_ exklusiv für den Discounter produziert – Krimis und Weltliteratur, gelesen von namhaften Sprechern wie Matthias Ponnier oder Hannelore Elsner.

Nach „Brigitte“ und „Eltern“ legt sich nun auch der „_Playboy_“ eine Audiobook-Edition zu. Vorerst sind zehn Titel für je 9,99 Euro geplant, darunter „Fanny Hill“ und „Lady Chatterly“. Die _Brigitte-Hörbuch-Edition „Starke Stimmen“_ wird fortgesetzt. Im April kommt die Nachfolgebox – wieder mit zwölf Titeln, wieder mit weiblichen Sprecherinnen, wieder mit Vertriebspartner Random House, aber auch nach Buchvorlagen von männlichen Autoren.

Im Januar wurden im Hessischen Staatstheater Wiesbaden die _Hörbücher des Jahres 2005_ gekürt. Seit 1997 geben das Börsenblatt und der Hessische Rundfunk in Zusammenarbeit mit dem „Buchjournal“ die hr2-Hörbuch-Bestenliste heraus und einmal im Jahr ermittelt die Jury das Hörbuch des Jahres. 2005 fiel die Wahl in der Kategorie Kinder- und Jugendhörbuch auf „Winn-Dixie“ von Kate DiCamillo, erschienen bei der Hörcompany. Zur besten Produktion in der Kategorie Hörbücher für Erwachsene wählte die Jury „Wörter Sex Schnitt“ mit Tondokumenten des 1975 verstorbenen Rolf Dieter Brinkmann, die im Archiv vergraben waren.

Die Finalisten für den _HörCules_ stehen nunmehr auch fest: Aus den 30 im Herbst im „HörBuch“-Magazin vorgestellten Titeln sind drei Spitzenreiter von den Lesern ausgesucht worden, aus denen bei der „ARD-Radionacht der Hörbücher“ per TED der Publikumssieger gewählt wird: „Illuminati“ von Dan Brown (Lübbe Audio), „Mein Venedig“ von Donna Leon (Diogenes) sowie „Nurejews Hund“ von Elke Heidenreich und Michael Sowa (Random House Audio).

Um den _Deutschen Hörbuchpreis_ konkurrieren 33 Hörbücher in fünf Kategorien. Die Auszeichnung des WDR wird am 12. März bei der LitCologne in Köln verliehen.
Durch den _Hörverlag_ wurde ein neuer _Hörbuch-Preis_ für das beste Original-Hörspiel initiiert, welcher alle zwei Jahre, erstmals am 18. Mai 2006 vergeben wird.

_Senioren-Zeitschrift_ jetzt auch als Hörbuch. 1200 blinde oder stark sehbehinderte Menschen in Frankfurt werden sich über ein Projekt des Diakonischen Werks freuen: Die Seniorenzeitschrift, die seit 30 Jahren vom Sozialdezernat herausgeben wird und kostenlos in Apotheken oder Seniorenanlagen ausliegt, erscheint nun auch als Hörbuchausgabe – viermal im Jahr und jeweils fünfeinhalb Stunden lang. Voraussetzung ist ein MP3-CD-Player.

Mit „_Summa Cultura_“ erweitert das Hörbuch-Downloadportal Claudio.de sein Angebot um das bislang einzige Kulturmagazin im Audio-Format. Jede Woche präsentiert die Redaktion von www.summacultura.de einen Überblick über das Wichtigste im aktuellen Kulturgeschehen.

Wie jedes Jahr stehen 2006 auch eine ganze Reihe von Verlags-Jubiläen an, auf die wir zu entsprechender Zeit näher eingehen werden. Das _Patmos-Verlagshaus_ wird 60 Jahre alt und seit der Gründung 1946 kamen eine ganze Reihe weiterer renommierter Verlage hinzu (Sauerländer, Artemis & Winkler, Walter und Dachs). Der seit seiner Gründung in Wien residierende Kinderbuchverlag Dachs mit 23 Novitäten 2005 hat Ende Januar seinen Sitz ins Mutterhaus Patmos nach Düsseldorf verlegt. Seit 2001 gehört Dachs bereits zu Patmos. Eine ausführliche Verlagsgeschichte befindet sich auf der Website www.patmos.de.

Der _Antje Kunstmann Verlag_ begeht auch bereits das 30. Jahr des Bestehens und feiert das mit einer Jubiläumsaktion neun preisgünstiger Erfolgstitel für je 10 Euro, schön gebunden und mit Leseband. Z.B. Fay Weldon „Die Teufelin“, Alice Walker „Roselily“, Veronique Olmi „Meeresrand“ u. a.
Aus der Esoterik-Bewegung des „New Age” ist nach 25 Jahren leider eine Wellness-, Selfness- und Spiritness-Geschichte geworden, die mit dem ursprünglichen Ansatz nichts oder nur wenig zu tun hat. Aber der unabhängig gebliebene _Aquamarin_- Verlag hat es dennoch geschafft bestehen zu bleiben und feiert dieses Jahr 25. Jubiläum. Verlagsleiter Dr. Peter Michel gehört selbst zu den zeitgenössischen Esoterikern und ist mit seinem Programm an der Theosophie orientiert. Gleich mit dem ersten Buch gab es seinerzeit Ärger, denn „Das Geistchristentum“ – eine kritische Analyse christlich-mystischer und christlich medialer Schriften – brachte eine hohe Schadensersatzklage seitens der „Geistigen Loge Zürich“ ein. Jahrelang wurde prozessiert und letztlich vorm Bundesgerichtshof gewonnen, der höchstrichterlich feststellte: „Geister haben kein Copyright“. Die Züricher Loge war längst geschlossen, als das Verfahren vom Verlag gewonnen wurde, und die Gerichtskosten von Seiten der verlierenden Seite sind bis heute offen geblieben. Bestseller gab es im Verlagsprogramm keine, auch wenn sich Titel von „White Eagle“ etwa 100.000-fach verkauften. Vorzeigetitel sind aber „Weltreligion“, von Peter Michel selbst verfasst, oder „Einbruch in die Freiheit“ von Krishnamurti, das, obwohl es lange Zeit als Taschenbuch bei Ullstein vorlag, bei Aquamarin wieder in schöner Hardcover-Ausgabe erhältlich ist. Bedauerlich ist, dass im Gesamtprogramm dennoch auch viel Mainstream-Titel enthalten sind, was ein wirtschaftliches Zugeständnis an den Eso-Markt und das Wegsterben der anspruchsvollen Esoterik-Buchhandlungen darstellt, denn ansonsten würde sich der Verlag nicht halten können. Aber anspruchsvolle Titel gehen nicht unter, was die jüngste „Edition Adyar“ mit wichtigen theosophischen Titeln beweist.

Und die Wochenzeitung „_Junge Freiheit_“ wird in diesem Sommer 20 Jahre alt. Anfänglich ein zweimonatiges Studentenblatt, dann eine Monatszeitung und seit 1994 wöchentlich. Dieses Jubiläum ist deswegen bemerkenswert, weil es sich um einen mediengeschichtlichen Sonder- und Ausnahmefall in Deutschland handelt. Überregionale Zeitungsneugründungen, die ihr Gründungsjahr überlebten, sind mit der Lupe zu suchen. Neugründungen zudem, die nicht von einem der fünf marktbeherrschenden Verlagsgiganten ausgingen, sind kaum festzustellen. Die „Junge Freiheit“ allerdings ist an Krisen gewachsen und ihre Verbreitung nahm stetig dabei zu. Jahrelang wurden sie vom Verfassungsschutz als „rechtsradikal“ diffamiert, bis dem ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts im letzten Jahr ein Ende bereitete. Seitdem ist die „Junge Freiheit“ ein lebendiges Denkmal geworden für die Presse- und Meinungsfreiheit. Dennoch gab es Ende Januar erneut eine Überraschung, da vom Direktor der Leipziger Buchmesse, Oliver Zillo, ein Stand auf der diesjährigen Leipziger Messe versagt wurde, mit der Begründung, ein solcher Messestand „gefährde die ordnungsgemäße Durchführung der Buchmesse“. Auf Nachfragen, welcher Art diese Gefährdung denn sein solle, wurde nicht geantwortet.

10 Jahre Jubiläum feiert der _Karl Blessing Verlag_ und begeht dieses mit einer zehnbändigen Jubiläumsedition für zehn Euro pro Band, u. a. Mit Autoren wie Michael Crichton, Dieter Hildebrandt oder Kathy Reichs.

Die _Verlagsgruppe Lübbe_ und der _Gong-Verlag_ haben mit Beginn des Jahres die _Deutsche Rätsel Verlag GmbH & Co. KG_ als Joint-Venture gegründet. Beide bringen ihre jeweiligen Rätselpublikationen in das neue Unternehmen ein. Lübbe hält 49 % und Gong 51 % an dem Verbund, dem das Kartellamt noch zustimmen muss. Beim Lübbe-Verlag selbst werden nun vom ehemals starken Segment (Rätsel, Comics, Romanhefte) künftig nur noch die Romanhefte betreut und dabei dem Buchbereich von Lübbe zugeordnet.

Der _Schwabenverlag_ hat den _Matthias Grünewald Verlag_ übernommen. Der Mainzer Verlag fügt sich mit Titeln zu Religion, Psychologie und Pädagogik gut in das Portfolio des Schwabenverlags ein. Zur Schwabenverlags-AG gehören unter anderem der Verlag „Jan Thorbecke“ und der „Verlag am Eschbach“.

Der Hamburger _Marebuchverlag_ publiziert die Taschenbuchausgaben seiner Titel ab Mai 2007 exklusiv bei Fischer in Frankfurt. Bisher sind die Taschenbücher seit 2004 bei Piper erschienen. Fischer will um die Mare-Titel herum ein umfangreiches Angebot zum Thema Meer aufbauen, in das auch andere Lizenzen, Titel aus den Fischer-Verlagen und Originalausgaben einfließen sollen. Unter dem Labe „Mare“ könnten dann so 15 Taschenbücher pro Jahr erscheinen, davon vier bis sechs Titel aus dem Mare-Verlag, der 2001 gegründet wurde und jährlich etwa 20 Titel veröffentlicht.

_Piper_ startet im Frühjahr ein neues Programm mit nordischer Literatur. Unter dem Label „Piper Nordiska“ erscheinen zum Auftakt fünf Romane von skandinavischen Autoren – darunter der schwedische Krimiautor Arne Dahl und der Däne Christian Jungersen. Der Verlag will sowohl seine eingeführten nordischen Autoren aus dem herkömmlichen Programm hervorheben als auch Neuentdeckungen präsentieren. Die Titel „Das Leben ein Fest“ von Elsie Johansson und „Rosenrot“ von Arne Dahl sind im Original bei Verlagen der schwedischen Mediengruppe Bonnier erschienen, zu der auch Piper seit 1994 gehört. Künftig sollen pro Halbjahr fünf bis sechs Titel erscheinen. Die Reihe „Piper Boulevard“, in der bisher Aktionstitel erschienen waren, wird zu einem eigenständigen Programm ausgebaut. Die ersten vier Titel für „freche Frauen“ zwischen 18 und 35 erscheinen Ende März, drei weitere folgen im Mai.

Der italienische _White Star Verlag_, gegründet 1984, ist einer der größten Bildband-Verlage der Welt mit einem Fundus von mehr als 5000 Titeln und arbeitet bereits seit 15 Jahren mit deutschen Koproduzenten wie Frederking & Thaler zusammen. Im Februar startete er nun auch mit einem eigenen deutschen Programm. Zwar ist der Preisverfall im Bildbandbereich durchaus groß, aber nach wie vor gibt es einen Markt für hochwertige Bildbände jeder Art. In dieser Preisgruppe findet noch keine Preisschlacht statt. Der Verfall findet nur im unteren Segment statt. White Star sieht sich programmgemäß in einer Linie mit Verlagen wie Frederking & Thaler, Knesebeck oder Rosenheimer. Bereiche sind Archäologie, Kunst, Geschichte, Kulturgeschichte, Ethnologie, Natur und Architektur. Seit 2001 arbeitet der Verlag mit National Geographic zusammen und ist in Italien der exklusive Verleger der National Geographic Society. In Deutschland werden diese Titel allerdings bereits durch Random House vertrieben und kommen nicht ins Programm von White Star. Gestartet wird im Frühjahr mit 22 Bildbänden und vier Kalendern, im Herbst folgen weitere 30 Bücher.

Hans Robert Cram, bisher Hauptgesellschafter und Beiratsmitglied des Berliner Wissenschaftsverlags Walter de Gruyter, ist selber wieder verlegerisch tätig geworden und hat von der Beteiligungsgesellschaft Valiva die Berliner Kunstbuchverlage _Dietrich Reimer_, _Gebr. Mann_ sowie den _Deutschen Verlag für Kunstwissenschaft_ übernommen. Im selben Zug hat Cram seinen Anteil an de Gruyter (33 %) an den geschäftsführenden Gesellschafter Klaus G. Saur und die übrigen Gesellschafter verkauft. Einen Teil davon reichen die neuen Eigentümer an die geplante Walter de Gruyter-Stiftung für Wissenschaft und Forschung weiter, die damit selbst an dem Unternehmen beteiligt wird. Die von Cram erworbenen Kunstbuchverlage gehörten ursprünglich zur Weltkunst-Gruppe, die Axel Springer 2003 an die Starnberger Arques-Gruppe verkauft hatte. An dem Verlagsverbund, zu dem auch der Deutsche Kunstverlag, Hirmer und Philip von Zabern gehören, beteiligte sich später auch die Valiva AG in Zürich, die nun als Wiederverkäufer auftritt und sich Zug um Zug von dem Unternehmen trennt. Anfang 2005 übernahm der Zeitverlag Zeitschriften und Buchtitel des Weltkunstverlags; Mitte 2005 ging der Philip von Zabern-Verlag an die Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Die verbliebenen Verlage wurden anschließend in der _Verlagsgruppe Kunstbücher_ mit Sitz in Berlin und München gebündelt. Die drei traditionellen Labels, die Cram nun aus dem Verbund herausgekauft hat, erzielen einen Jahresumsatz von rund einer Million Euro und verfügen über eine Backlist von 2000 Titeln. Auch unter der Führung von Cram verbleiben sie zunächst in der Berliner Bürogemeinschaft mit dem Deutschen Kunstverlag und Hirmer, die nach wie vor zu Valiva gehören. Die bisherigen Geschäftsführer der übernommenen Verlage scheiden aus.

Seit Januar besitzt der Oldernburger _Lappan Verlag_ sämtliche Anteile an der Achterbahn Verlags-GmbH in Kiel. Lappan, schon seit 2003 mit 51 % an Achterbahn beteiligt, hat nun die restlichen 49 % gekauft. Das Achterbahn-Programm soll sich künftig an die „freche Comic- und Humorbuch-Linie“ für die Zielgruppe ab 16 Jahren aufwärts positionieren. Lappan widmet sich dagegen weiterhin dem Bilderbuchsegment und den Cartoons, etwa von Uli Stein. Unter dem Label Looping sind sämtliche Kalender-Aktivitäten gebündelt.

Johannes Thiele hat den stillgelegten _Europa Verlag Wien_ gekauft, den er mit einem kleinen, feinen Programm wiederbeleben will. Er begann seine Verlagsarbeit beim Benzinger Verlag in Zürich, war dann in Stuttgart bei Kreuz tätig, danach in Hamburg bei Hoffmann und Campe, dann ging er nach München zu List und Marion von Schröder, von dort nach Bergisch Gladbach zu Lübbe und 2005 wieder an die Elbe, wo er unter dem Verleger Arne Teutsch Programmleiter des Europa Verlages wurde. Nun arbeitet er erstmals auf eigenes Risiko als Verleger.

Der Schriftsteller Habib Bektas und der Übersetzer Yüksel Pazarkaya haben den [Sardes Verlag]http://www.sardes.de gegründet. Damit hat türkische Literatur eine neue Adresse in Deutschland. Im auf sechs Titel pro Jahr angelegten Programm werden Werke deutsch-türkischer Autoren sowie zeitgenössische türkische Literatur erscheinen.

Der _Suhrkamp Verlag_ ist erneut in der Krise, nachdem das Unternehmen am 12. Januar die Trennung von Geschäftsführer Georg Rippel bekannt gab, der seit 2004 für Marketing, Vertrieb und Werbung zuständig war. Über die Gründe wird in den Feuilletons heftig debattiert, manche denken, seine Marketing-Konzepte wie beispielsweise die Fernsehspots zu Isabelle Allendes „Zorro“ seien zu teuer gewesen, andere glauben, dass die Differenzen mit Suhrkamp-Chefin Ulla Unseld-Berkéwitcz zu groß geworden waren. „Man weiß nicht mehr, wohin der Verlag steuert“, sagt aber auch Joachim Unseld, Verleger der Frankfurter Verlagsanstalt und Miteigentümer der Suhrkamp GmbH & Co. KG. „Eine erfolglose Programmpolitik, der Weggang erfolgreicher Autoren, eine erfolglose Personalpolitik, schließlich Erfolglosigkeit in ökonomischer Hinsicht – all das bestätigt meine große Sorge um die Marke Suhrkamp“. Manche sehen das aber auch ganz anders. Die Süddeutsche Zeitung schrieb, dass sie das Erbe Siegfried Unselds zu bewahren versuche, auch wenn sie dessen Erbe vielleicht völlig missverstehe. Alle deutschen Verlage hatten in den letzten Jahren eine Transformation durchlaufen: War früher das Lektorat die taktgebende Einheit, so haben diese Funktion mehr und mehr die Marketing- und Vertriebsabteilungen übernommen. Ulla Berkewicz stemmt sich gegen diesen Wandel. Sie will ihr Ausnahmehaus als Programm-, nicht als Publikumsverlag führen. Ökonomisch gibt das Programm, die berühmte Backlist eben, einen solchen Sonderweg aber nicht mehr her. Es ist schon ein Verdienst von Berkewicz wenn vielleicht auch ökonomisch ein Privatvergnügen -– dass sie jüngst anstelle von Bestsellern einen „Verlag der Weltreligionen“ aus dem Boden stampfte. Auf literarische Qualität zu setzen, ist unternehmerisches Risiko, aber das ist doch eigentlich die Tradition von Suhrkamp. Natürlich wäre es tragisch, wenn Suhrkamp durch seine Beharrungskräfte finanziell in eine Krise geräte, aber bislang gab es weder Sparkurse noch Entlassungen. Intern wurden nun die Bereiche von Georg Rippel auf zwei Mitarbeiterinnen verteilt, von denen aber keine in den Rang der Geschäftsführung kam. Auf Geschäftsführungsebene ist nun der kaufmännische Geschäftsführer Philip Roeder für Marketing und Vertrieb zuständig. Den Vorsitz hat Ulla Unseld-Berkewicz, für das Programm ist unverändert Rainer Weiss verantwortlich.

Ein Rechtsstreit aus dem letzten Jahr – das Verbot des Romans _“Esra“ von Maxim Biller_ – nimmt kein Ende. Verboten wurde er wegen Verletzung von Persönlichkeitsrechten, da in den Romanfiguren reale Personen erkennbar seien. Der Verlag hatte Verfassungsbeschwerde gegen das Verbot eingelegt. Das Bundesverfassungsgericht hat nun den Börsenverein, das deutsche PEN-Zentrum und den Verband Deutscher Schriftsteller um Stellungnahme gebeten. Der Börsenverein bemängelt am Urteil, dass der Eigenschaft des Romans als Kunstwerk nicht genug Rechnung getragen wurde. Ein Roman ist auch über das Recht der Kunstfreiheit geschützt, was nicht hinreichend berücksichtigt wurde. Bei der Prüfung der Persönlichkeitsrechtsverletzung haben die Gerichte so argumentiert, als gehörten die Romanfiguren der Wirklichkeit an. Äußerungen über Romanfiguren dürfen aber nicht mit Äußerungen über reale Personen gleichgesetzt werden. Das PEN-Zentrum hat um eine Fristverlängerung seiner Stellungnahme gebeten, und der Verband Deutscher Schriftsteller argumentiert ähnlich wie der Börsenverein. Würde das Verbot vom Bundesverfassungsgericht bestätigt, wird die bereits jetzt spürbare Verunsicherung bei Autoren und Verlagen noch weiter zunehmen und manch gutes Buch vielleicht nicht mehr verlegt.

Das Gerichtsverfahren gegen den diesjährigen Friedenspreis-Träger _Orhan Pamuk_ in Istanbul wurde eröffnet und kurz danach aufgrund scharfer Kritik der Europäischen Union eingestellt. Der Autor war wegen „Herabsetzung des Türkentums“ angeklagt, weil er die Verfolgung von Armeniern und Kurden in einem Zeitungsinterview offen angesprochen hatte. Die Literaturnobelpreisträger Josè Armago, Gabriel Garcia Márquez und Günter Grass hatten gemeinsam mit anderen prominenten Autoren wie Umberto Eco und Mario Vargas Llosa eine Solidaritätserklärung unterzeichnet, die vom Prisa-Konzern, dem spanischen Verlagshaus der Autoren, publiziert wurde. Pamuk selbst, dem eine Haftstrafe bis zu drei Jahren droht, zeigte sich vor Prozessbeginn zuversichtlich: „Ich glaube nicht, dass sie mich ins Gefängnis werfen werden“. 169 türkische Intellektuelle hatten mittlerweile auch die Regierung in Ankara aufgefordert, die „Kopenhagen-Kriterien“ der EU (Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Achtung von Menschenrechten) einzuhalten und zwei bedenkliche Vorschriften aus dem türkischen Strafgesetzbuch zu streichen. Paragraf 301, auf den sich die Anklage gegen den Friedenspreisträger Orhan Pamuk stützte, stellt die „Herabwürdigung des Türkentums“ unter Strafe; Paragraf 305, der „Propaganda gegen nationale Interessen“ sanktioniert, behindert vor allem die Arbeit von Journalisten. Der Prozess gegen Pamuk war Teil einer Klagewelle, mit der Ultranationalisten, Militär und Staatsanwaltschaft derzeit Autoren, Journalisten, Hochschullehrer und Unternehmer in der Türkei überziehen. EU-Kommissar Olli Rehn begrüßte die Entscheidung, den Prozess gegen Pamuk einzustellen, als wichtigen Schritt für die Meinungsfreiheit in der Türkei. Er betonte aber, dass dort noch ein Dutzend ähnlicher Prozesse gegen Journalisten und Autoren in Vorbereitung sei. Pamuk ist nicht freigesprochen worden, zum Jubilieren besteht kein Grund.

Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ging in diesem Jahr an _Juri Andruchowytsch _ aus der Ukraine für sein Werk „Zwölf Ringe“ (Suhrkamp). 1985 gehörte er zu den Gründern der legendären Performance-Gruppe Bu-Ba-Bu und im Herbst 2004 engagierte er sich für die Orange Revolution in seiner Heimat.

Die Günter-Grass-Stiftung hat einen neuen Literaturpreis ins Leben gerufen, den „_Albatros_“ für das Werk eines Autors, das offenes Denken und die freie Auseinandersetzung mit allen Lebensbereichen befördert. Mit dem Original zusammen wird eine Übersetzung gewürdigt, die der literarischen Eigenart des Werks besonders gerecht wird, also eine Doppel-Ehrung für Autor wie Übersetzer. Es geht um die Würdigung großer literarischer Leistungen, die aus anderen Ländern zu uns kommen – zusammen mit der Würdigung der besonderen Leistung des Übersetzers. Erste Preisträgerin ist die Portugiesin _Lidia Jorge_. In ihren Romanen spürt sie den Nachwirkungen historischer Ereignisse wie den Kolonialkriegen oder der Diktatur nach – im intimen Rahmen des Familien- oder Gruppenbilds. Ihre Übersetzerin _Karin von Schweder-Schreiner_ ist es zu verdanken, dass dem Werk von Lidia Jorge auch in Deutschland – im Suhrkamp Verlag – die gebührende sprachliche Sorgfalt zukommt. Trotz des Namens der Stiftung hat Günter Grass selbst mit dem Preis nichts zu tun.

Am 24. November 2005 war nach langer Krankheit der Bestseller-Autor _Harry Thürk_ im Alter von 78 Jahren verstorben. Der in Weimar lebende Schriftsteller galt als „Konsalik des Ostens“. Zu seinen Erfolgen gehören der Antikriegsroman „Die Stunden der toten Augen“ und die in Fernost spielenden Romane „Der Tiger von Shangri-La“ und „Des Drachens grauer Atem“.

Anfang November ist _Detlef Pillat_ im Alter von 47 Jahren an einer schweren Muskelschwäche-Krankheit verstorben. Er war einer der engagierten Esoterik-Verlagsvertreter und lebte im Kulturzentrum ZEGG bei Belzig. Daneben unterstützte er viele sinnvolle politische Initiativen in seiner Heimatregion Hoher Fläming, u. a. das „Infocafe gegen Rechtsextremismus und Gewalt“, die Wiederaufforstungsaktion „Grüner Gürtel“ und eine von der Sängerin Ida Kelerova gegründete Roma-Initiative in Tschechien.

Am 15. Januar 2006 verstarb der 82-jährige anthroposophische Autor _Georg Kühlewind_, geboren am 6. März 1924. Bereits als Jugendlicher hatte er sich ausgiebig mit der Psychoanalyse beschäftigt, wobei er für sich entdeckte, dass die Probleme des Einzelnen sowie auch diejenigen der Gesellschaft primär ein Bewusstseinsproblem darstellen. Wichtig dabei war die Begegnung mit dem Kulturwissenschaftler Karl Kerenyi, der ihm die Mythologien begreiflich machte. 1944 wurde er unter den Nazis zum Arbeitsdienst verpflichtet und anschließend in mehrere Lager deportiert, darunter das KZ Buchenwald. 1945 wurde er von den Amerikanern befreit. Zur Anthroposophie stieß er erst im Jahre 1942. In seinen letzten Jahren beschäftigte er sich vor allem mit dem Phänomen sogenannter ADS-Kinder und nahm kritische Positionen zu dieser Diagnose ein.

Kurz nach seinem 75. Geburtstag verstarb am 27. Januar Altbundespräsident _Johannes Rau_ (SPD), der auch tief mit der Buchbranche verbunden war. Der gelernte Verlagsbuchhändler leitete in den 1960er Jahren den Peter Hammer Verlag in Wuppertal, der damals noch Jugenddienst-Verlag hieß, und arbeitete zwei Jahrzehnte als Verleger. Auch danach zeigte er seine Verbundenheit noch durch Taten. Er sprach zum Festakt des 175-jährigen Bestehens des Börsenvereins 2000, war Gast bei zahlreichen Börsenvereinsveranstaltungen, besichtigte die Schulen des Deutschen Buchhandels, war Schirmherr des Vorlesewettbewerbs, nahm den damaligen Vorsteher des Börsenvereins, Dieter Schormann, mit zum Staatsbesuch nach Spanien und sprach bei einer Veranstaltung in Berlin, mit der Börsenverein und PEN 2003 an den 70. Jahrestag der Bücherverbrennung erinnerten.

Im Juni eröffnet in Marbach das _Literaturmuseum der Moderne_ vom deutschen Literaturarchiv der Schillergesellschaft. Am 6. Juni wird die erste Ausstellung mit Bundespräsident Horst Köhler eröffnet. Gezeigt werden künftig Manuskripte und Dokumente aus dem literarischen Leben – Romanmanuskripte, handgeschriebene Briefe, Kladden und Notizbücher, Erstausgaben und Dokumente aus dem Leben der Schriftsteller und Dichter. Es ist der kostbare Rohstoff, den Wissenschaftler immer wieder aus den Magazinen fördern, um bisher Unveröffentlichtes zu publizieren, Werkausgaben zu revidieren oder neue Editionen zu planen. Rund 1200 Nachlässe und Vorlässe lagern im Deutschen Literaturarchiv – neben einer Reihe von Sammlungen und Verlagsarchiven: etwa von S. Fischer, Piper, Insel und Luchterhand. Das Gebäude ist treppenartig in den Hang neben dem Schiller-Nationalmuseum hineingebaut. Für Museumsleiterin Heike Gfrereis soll das „LiMo“ in erster Linie eine Brücke bauen: zwischen dem sammelnden Archiv, das seine Bestände „langsam, asketisch, esoterisch“ erweitert, und der Ausstellung, die die Betrachter unmittelbar ansprechen soll. Gfrereis will dem „flachen Papier zur Dreidimensionalität verhelfen“. In schrankhohen Vitrinen sind ab Juni in den vier unterschiedlich großen Ausstellungsräumen auf 1000 Quadratmetern Kostbarkeiten zu sehen: die Originalmanuskripte von Franz Kafkas „Prozess“, Martin Heideggers „Sein und Zeit“ und Alfred Döblins „“Berlin, Alexanderplatz“ sowie zahlreiche andere Texte und Dokumente von Jean Amery über Paul Celan bis Ernst Jünger, von Günter Grass über Sarah Kirsch bis Oskar Pastior. Neben der Dauerausstellung, die rund 600 Quadratmeter beansprucht, werden auf den übrigen 400 Quadratmetern im Wechsel Ausstellungen aus den Archivbeständen zu sehen sein. Gfrereis verfolgt beim Entwurf der Ausstellung ein ungewöhnliches didaktisches Konzept: „Dem Besucher wird keine Orientierung anhand von Schautafeln und tradierten Einteilungen der Literaturgeschichte geboten. Wir geben keine Handreichungen zu Leben und Werk von Autoren. Stattdessen gehen wir gleichsam archäologisch vor: Wir legen die Bestände des Archivs offen und stellen ihre phänomenale Seite, ihre Materialität, in den Vordergrund.“ So kann der Besucher künftig etwa Gedichte von Gottfried Benn in Augenschein nehmen, die der Dichter auf die Rückseite von Speisekarten schrieb, oder die Zettelkästen des Philosophen Hans Blumenberg. Gfrereis geht es darum zu „zeigen, wie Literatur aussieht, wenn sie ins Leben kommt, wenn sie geschrieben und gelesen wird“. Eine Navigationshilfe wird in Gestalt des Multimedia-Readers
„M 3“ gegeben, der Kurzführungen abspielt, Manuskripte transkribiert und Stimmen der Dichter zu Gehör bringt. Das Motto des ersten Jahresprogramms lautet „Zeigen“, unter der das Deutsche Literaturarchiv und das „LiMo“ zahlreiche Lesungen, Ausstellungen und Podien stellen – unter anderem zu Carl Schmitt, Arno Schmidt und Gottfried Benn. Im Literaturmuseum der Moderne werden also nicht nur Dichter Thema sein, sondern auch Wissenschaftler und Gelehrte. Zum Thema Carl Schmitt wird eine Editorentagung stattfinden, in die die beteiligten Wissenschaftsverlage einbezogen werden. Für Verlage wird das „LiMo“ künftig ein wichtiger Referenzpunkt sein; zeigt es doch die Literatur in ihrem Materialstadium und macht den Zusammenhang plastisch sichtbar, in dem die moderne deutschsprachige Literatur steht. Bereits vor der Eröffnung findet in Worms am Donnerstag, den 27. April, um 20 Uhr im Heylsschlösschen (Eingang Schlossplatz) bei freiem Eintritt, veranstaltet vom Nibelungenmuseum, ein Vortrag der Leiterin des „LiMo“ Dr. Heike Gfrereis „Museale Präsentation von Literatur“ statt, wo sie ihr Museumskonzept zwischen Tradition und Innovation vorstellt.
http://www.dla-marbach.de und http://www.nibelungen-museum.de

Wie im letzten Jahr berichtet, wollte der Bundestag die _Deutsche Bibliothek_ in _Deutsche Nationalbibliothek_ umbenennen. Dies ist nunmehr vom Bundesrat abgelehnt worden. Bayern und Berlin hatten eingewandt, dass die Bayrische Nationalbibliothek und die Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz gleichrangige Funktionen hätten. Kulturstaatsminister Bernd Neumann verteidigt aber weiterhin die Umbenennung gegen die Kritik aus den Ländern: „Die Deutsche Bibliothek erfülle aufgrund ihres Sammel- und Archivauftrags seit über 90 Jahren die Kernaufgaben einer Nationalbibliothek“.

Wie schon in der vorherigen Buchwurminfo berichtet, ist _Gottfried Honnefelder_ vom Kölner Verlag Dumont Literatur und Kunst ab Januar 2006 neuer Vorsteher des Börsenvereins, zunächst bis zur Hauptversammlung im Mai. Sein Stellvertreter ist _Olte Schultheis_ (Bücherjolle Starnberg). Honnefelder war bislang Stellvertreter und rückte nach Ausscheiden von _Dieter Schormann_ nach. Mit dem neuen Vorstand beginnt eine Debatte um die Konzern-Marktkonzentrationen. Aggressives Marktverhalten soll im Licht der eigenen Regeln der Buchbranche bewertet und geprüft werden, wie weit Marktteilnehmer in ihrer Politik gegenüber Branchenkollegen gehen dürfen. Der Börsenverein sucht nicht die Konfrontation mit einzelnen Mitgliedern, sondern will gemeinsam mit ihnen die Marktentwicklung auf breitem Konsens bewerten und gegebenenfalls Branchenregeln überdenken. Zu prüfen, ob die Spielregeln, die sich die Branche selbst gegeben hat, von allen eingehalten werden und ob sie tauglich sind, bleibt Aufgabe des Verbandes. Da sich der Markt rasant verändert, will man auch künftig rascher zu Ergebnissen kommen. Das zeigt sich auch beim Thema Volltextsuche. Amazon und Google treiben ihre Projekte mit Hochdruck voran. Damit die Verlage die Hoheit über ihre Daten nicht aus der Hand geben müssen, feilt der Börsenverein an einer Branchenlösung zur „Volltextsuche online“.

Frankfurt ist um ein Schmuckstück reicher geworden. Korea hat sich als Dank für seinen Gastlandauftritt auf der _Frankfurter Buchmesse_ mit einem ganz besonderen Geschenk bedankt. Im Frankfurter Grünewaldpark befindet sich nun eine fernöstliche Anlage, die Korea gestiftet hat.
Bundeskanzlerin Angela Merkel warb beim amerikanischen Präsidenten dafür, dass die USA 2008 Gastland der Frankfurter Buchmesse werden. Als Buchliebhaberin hat sie sich zuvor nicht unbedingt präsentiert. 2003 besuchte sie zum ersten Mal die Frankfurter Buchmesse. Zumindest Laura Bush, die Gattin des amerikanischen Präsidenten, steht der Präsentation ihres Landes bei der Frankfurter Buchmesse wohlwollend gegenüber. Sie ist in den USA auch sehr engagiert, was das Thema Leseförderung anbelangt, und verfügt über gute Kontakte in der US-Verlagsszene.

|Das Börsenblatt, das die hauptsächliche Quelle für diese Essayreihe darstellt, ist selbstverständlich auch im Internet zu finden, mit ausgewählten Artikeln der Printausgabe, täglicher Presseschau, TV-Tipps und vielem mehr: http://www.boersenblatt.net/. |

Klein, H. D. – Googol

Im Jahr 2045 ist es so weit: Außerirdische fliegen die Erde an! Sie reisen an Bord eines riesigen Pyramidenraumschiffs an, hüllen sich aber in tiefes Schweigen. Die Erdmenschen ergreifen die Initiative, doch als sich ein „Begrüßungskomitee“ aufmacht, die Pyramide anzufliegen, setzt es sich nicht aus kernig-stoppelhaarigen NASA-Astronauten zusammen. An Bord der “Nostradamus” befindet sich eine Multikulti-Crew, die ihre Anweisungen – man lese und staune! – vom deutschen (!) Raumfahrtkonzern „Space Cargo“ erhält. (Das ist wahre Science-Fiction!) Kapitän John Nurminen und seine Mannschaft haben den Auftrag, die außerirdischen Gäste zu begrüßen und, sollte niemand zu Hause sein, die Geheimnisse ihres Pyramidenschiffes zu erkunden – zum Wohle des Mutterkonzerns und der Menschheit: in genau dieser Reihenfolge.

Die Mission ist schwierig und stellt ihre Mitglieder vor nie gekannte Probleme. An Bord der „Nostradamus“ herrscht wenig von dem weihevollen Eifer, der Forschern und Entdeckern in den Geschichtsbüchern nachträglich gern zugeschrieben wird. Die Mannschaft ist bunt zusammengewürfelt und arbeitet (noch) nicht harmonisch zusammen. Kapitän Nurminen hat kein Mitspracherecht bei der Zusammenstellung der Crew; „Space Cargo“ stellt ihn vor vollendete Tatsachen. Mehr als die Tatsache, die historische Mission mit einer Mannschaft anzutreten, die in ihrer Mehrheit die Erde niemals verlassen hat, beunruhigt Nurminen die Tatsache, dass man ihn zwingt, dies an Bord eines Schiffes zu tun, das wenig mehr als ein Prototyp ist. Der Antrieb der „Nostradamus“ ist revolutionär – jedenfalls in der Theorie, denn praktisch wurde er noch nicht unter Dauerbelastung getestet. Das ficht seinen geistigen Vater, den knarzig-genialen Professor Schmidtbauer, allerdings nicht an. Schließlich ist er höchstpersönlich mit von der Partie und wird dem Kapitän schon zeigen, welche Knöpfe er zu drücken hat. Da schreckt es den gebeutelten Nurminen nicht mehr, als er entdeckt, dass seine neue Bordärztin eine ehemalige Geliebte ist, von der er sich im Streit getrennt hat, und sich zum Dienst auch eine Parapsychologin mit dem schönen Namen Halbmond sowie ein Nexialist melden, der von allem ein bisschen, aber nichts richtig versteht und dadurch nach Ansicht des Konzern prädestiniert ist für die Kontaktaufnahme mit einer außerirdischen Intelligenz.

Allerdings ist es fraglich, ob die „Nostradamus“ ihr Ziel jemals erreichen wird. Die Konkurrenz-Konzerne von „Space Cargo“ gedenken nicht, sich ausbooten zu lassen. Sie schicken eigene Schiffe aus. Der Vatikan ist davon überzeugt, dass am Steuer der Pyramide der Antichrist höchstpersönlich sitzt, der komfortabel anreist, um endlich sein Reich des Bösen auf der Erde zu errichten. Die Außerirdischen sind gar nicht so fremd im Sonnensystem, denn auf dem Mars wurden schon vor einigen Jahren Pyramidenbauten gesichtet, die stark an die Form des nun georteten Raumschiffs erinnern; die Entdeckung wurde aus politischen Gründen geheim gehalten. „Space Cargo“ selbst scheint ein falsches Spiel mit der Mannschaft der „Nostradamus“ zu treiben und sehr viel interessierter an der Erprobung des neuartigen Antriebs als an der Erforschung der Pyramide zu sein, und, und, und … Die Ränke und Intrigenspiele auf der Erde und im Weltall scheinen kein Ende zu finden, und mittendrin steckt immer die „Nostradamus“ – ein hilfloser Spielball divergierender, undurchsichtiger Interessen und einer Technik, die sich verhängnisvoll zu verselbständigen beginnt …

„Googol“ – eine Space Opera aus deutschen Landen, die eigene Wege geht; ein Unikum auf einem schon lange weitgehend nivellierten SF-Buchmarkt, der durch angelsächsische Autoren und Endlosserien à la „Star Trek“ oder „Battletech“ geprägt wird: eine Überraschung, mit der wohl niemand gerechnet hat, und deren Wiederkehr sechs Jahre nach der Erstausgabe mit einer „überarbeiteten“ Neuauflage versucht wird.

H. D. Klein erfindet mit seinem ziegelsteinschweren Opus das Rad nicht neu, aber das verlangt ja auch niemand. Selbst wenn sich das Erstaunen, dass es ein Buch wie „Googol“ tatsächlich geben kann, ein wenig gelegt hat, bleibt die Freude an einer spannenden, trotz ihrer Umfangs ohne gravierende Längen erzählten Geschichte. Offensichtlich gibt es doch kein Gen, das nur Amerikaner oder Briten befähigt, einen lesenswerten SF-Roman zu Stande zu bringen (dessen Held nicht Perry Rhodan oder Rhen Dark heißt …). Klein hat sein Thema und seinen Stoff im Griff. Die von ihm zum Einsatz gebrachte Technik wirkt überzeugend. Besonders positiv macht sich indes sein Entschluss bemerkbar, das Hauptgewicht eben nicht auf die „harte“ Science-Fiction zu legen, wie dies im Umfeld der Erforschung außerirdischer Artefakte im SF-Roman allzu oft geschieht, sondern die Menschen in den Vordergrund zu stellen – „Menschen“ wohlgemerkt, nicht eindimensionale „Helden“ und „Schurken“. John Nurminen beispielsweise müht sich redlich, die übernommene Aufgabe erfolgreich durchzuführen. Für ihn ist es ein schmerzlicher Prozess, als er zum einen herausfindet, dass er eindeutig überfordert ist. Schlimmer wirkt sich die Entdeckung aus, vom „Space Cargo“-Konzern, dem er bisher vertraut und für den er sein Bestes gegeben hat, belogen und ausgenutzt worden zu sein; eine Erkenntnis, die um so bitterer wirkt, als Nurminen sich eingestehen muss, dass die entsprechenden Zeichen schon lange an der Wand gestanden haben: Er wollte sie einfach nicht sehen.

Unter diesen Umständen ist es zu verschmerzen, dass das Rätsel der Außerirdischen in „Googol“ niemals eine echte Auflösung erfährt. Sie dienen ihrem Autor als „McGuffin“, wie Alfred Hitchcock es genannt hat: als Katalysator, der die Handlung in Schwung bringt, um anschließend nebensächlich zu werden. Dazu kommt die uralte Einsicht, dass ein Rätsel, dessen Auflösung man allein dem Leser überlässt, einen um so stärkeren Eindruck hinterlässt. So sind die Außerirdischen letztlich tatsächlich gar nicht so wichtig.

Einige wenige Schwachpunkte gibt es gleichwohl doch. So ist das Bild einer im Würgegriff skrupelloser Wirtschaftskonzerne gefangenen Erde nicht nur ein wenig abgegriffen. Es wurde auch schon wesentlich schärfer und konsequenter und dadurch überzeugender gezeichnet. (Man denke nur an William Gibsons „Neuromancer“-Trilogie oder – um einen echten Klassiker zu nennen – Frederik Pohls und Cyril M. Kornbluthes „Eine Handvoll Venus und ehrbare Kaufleute“/“The Space Merchants“ von 1953.) Auch in seinem Bemühen, sich von der anglo-amerikanischen „Konkurrenz“ um jeden Preis abzugrenzen, ist Klein ein Stück zu weit gegangen: Seine Zeichnung der Mannschaft der „American Gothic“ und besonders ihres Captains ist womöglich satirisch gemeint, geht aber weit über die Grenzen der Karikatur hinaus.

Zu vermerken sind schließlich gewisse stilistische Schwächen oder besser Eigenarten, die wahrscheinlich nicht ausbleiben können bei einem Werk dieses Umfangs und einem Autor, an dem die Jahre der Perry Rhodan/Atlan/Terra Astra & Co-Monokultur nicht spurlos vorübergegangen sein können. Aber das sind nur Marginalien; es überwiegt die Freude an einem ambitionierten und gelungenen Roman – kein Meisterwerk, aber grundsolides Lesefutter, oft ein gutes Stück oberhalb des Durchschnitts.

Ach ja: Was ist eigentlich ein „Googol“? Den Mathematikern unter uns wird dieses Wort womöglich nicht unbekannt sein, denn es bezeichnet eine Zahl, die so unvorstellbar groß ist, dass es den Fachleute sogar schwer fiel, einen Namen für sie zu finden: eine Zehn, gefolgt von einhundert Nullen. Klingt noch nicht sehr eindrucksvoll, gewinnt aber an Gewicht, führt man sich vor Augen, dass die gesamte Anzahl aller Protonen des Universums auf eine Zehn mit achtzig Nullen geschätzt wird. (Edward Kasner, der das Googol in den 30er Jahres des 20. Jahrhunderts „erfand“, wandte sich für die „Taufe“ übrigens an seinen neunjährigen Neffen, der ahnungslos ein wahrhaft großes Wort gelassen aussprach und damit in die Wissenschaftsgeschichte einging.) Das Googol wird als erstes Zahlwort diesseits der Unendlichkeit, für das es keine Entsprechung mehr in „unserer“, der sichtbaren Welt gibt, definiert. Damit qualifiziert es sich nachdrücklich als Titel für einen Science-Fiction-Roman und mag gleichzeitig ein Wortspiel bilden, das die Erfahrungen seines Autors beschreibt, für einen mehr als tausendseitigen fantastischen Roman aus Deutschland in Deutschland einen Verlag zu finden.

Anmerkung: Für April 2006 ist die Fortsetzung „Googolplex“ bei |Heyne| angekündigt.

Rothe, Bernd (Hrsg.) / Haubold, Frank W. / Aster, Christian von / Rößler, Armin / Bionda, Alisha u.a – Rattenfänger (Magic Edition, Band 8)

Die alte Sage vom Rattenfänger ist im Anhang dieses Buches abgedruckt. Sie umfasst nicht einmal eine Seite. Rund 370 Seiten dagegen beanspruchen die 18 Geschichten, die das Thema variieren. Auf Einladung des Herausgebers Bernd Rothe, eines gebürtigen Hamelners, lieferten beim BLITZ-Verlag 18 AutorInnen, die in verschiedenen Bereichen des Phantastischen zu Hause sind, ihren Beitrag zu dem ewig jungen Stoff ab. Entstanden ist eine lesenswerte Anthologie, die bekannten und weniger bekannten Namen auf den Spuren einer der bekanntesten deutschen Sagengestalten folgt.

In der Tat bietet der kleine Ausgangstext viele verschiedene Ansatzpunkte für Phantasien und Phantastisches. Da sind erstens die menschlichen Protagonisten: der Rattenfänger, ein Spielmann, ein Outlaw, aber vielleicht auch der Teufel; das saturierte Bürgertum, das ihn um seinen Lohn betrügt; die Kinder dieser Bürger. Schon vor x Jahren lieferte der Liedermacher Hannes Wader seine Version des Geschehens, die den Rattenfänger entteufelt und die Karten neu mischt – einige der AutorInnen folgen dieser Lesart, am deutlichsten Stefanie Bense („Schattenschläger“, die Eingangsgeschichte) und Frank W. Haubold („Der Puppenmacher von Canburg“, immer wieder lesenswert, ein Highlight des Bandes). – Zweitens wäre da die Idee, es doch auch einmal aus der Perspektive der Ratten zu versuchen – am eindrucksvollsten gemeistert von Barbara Jung in „Die Königin und ihr Gardist“. – Drittens bietet das Wort „Rattenfänger“ in seiner übertragenen Bedeutung wundervolle Ansatzpunkte, für die Satire etwa; wer aber könnte die in einem solchen Forum besser meistern als Christian von Aster („Niederfrequenzmanipulation oder Des großen Rattenfänger Trick“)? Aber auch Christian Schönwetter liefert zu dieser Lesart eine gute Story ab („Die Rattenfänger sind in der Stadt!“). – Sodann haben wir natürlich das Thema des Betrugs und der darauf folgenden Rache (u. a. in Armin Rößlers SF-Geschichte „Der Verlorene“ umgesetzt). Hybriden Gestalten aus Ratte und Menschen entstehen in Alisha Biondas „Mephisto“, wobei auch das Teuflische und das Erotische zum Tragen kommen, oder in Dominik Irtenkaufs „Der Lichtfänger“, eine Geschichte, die in nahezu schwelgerischen Bildern ein hier oft präsentes weiteres Thema ausschmückt: das des Verfalls nicht nur einer Stadt, sondern auch der sozialen Bindungen zwischen den Menschen. Vielleicht ist dieses Motiv nicht das eigentliche Zentrum der ursprünglichen Rattenfänger-Sage, in der Anthologie jedoch rückt es in den Fokus vieler Erzählungen.

Blieben noch zwei besondere Beiträge zu erwähnen: Marc-Alastor E.-E.s dunkeldüstere Vampir-Novelle „Nicht ohne Wut, sei vom Lamm das Blut“, welche sprachlich exorbitant die Sage vom Bingener Mäuseturm mit der Hameln-Geschichte und dem Vampirmotiv verquickt, und Markus K. Korbs spannende Horror-Story „Rattenfänger GmbH“, die durch eine außergewöhnliche Hauptfigur und durch einen Showdown in dunklen Gängen überzeugt (Leser mit Ratten- und Klaustrophobie seien vor ihr dringlichst gewarnt).

Auch die übrigen, hier aus Platzgründen nicht genannten VerfasserInnen leisten durchaus Solides, so dass diese Anthologie insgesamt bestens unterhält. BLITZ-Stammillustrator Pat Hachfeld gibt jeder Geschichte per Titelblatt ein eigenes Gesicht; die Autoren zeigen Gesichter in der abschließenden Galerie. Gesamtprädikat: lohnenswert!

http://www.blitz-verlag.de/

© _Peter Schünemann_

Niemi, Mikael – Populärmusik aus Vittula

|Tjus lätmi isamatö råckönråll mjosik!| – So in etwa klingt es, bzw. sieht es in schriftlicher Form aus, wenn ein Junge aus einem der abgelegensten Winkel Schwedens, genaugenommen irgendwo aus dem Nichts zwischen Schweden und Finnland, einen Beatles-Song nachsingt, ohne Englisch zu können. Charmant, nicht wahr? Nicht minder charmant ist das Buch, in dem man die Kindheits- und Jungendgeschichte eben dieses Jungen nachlesen kann: „Populärmusik aus Vittula“. Eine Chronik der ersten musikalischen Gehversuche, der ersten ernüchternden Alkoholerlebnisse und des ersten Sex.

Pajala ist ein nichts sagendes Kaff in einer nichts sagenden Gegend Schwedens, dem Tornedal. Hier liegt der sprichwörtliche Hund begraben. Die Einheimischen reden Schwedisch oder Finnisch bzw. ein Kauderwelsch, das unter dem Namen Tornedalfinnisch läuft. In Pajala arbeiten die Menschen hart und auch die im Tornedal verbreitete religiöse Bewegung des Laestadianismus macht mit ihrer übertriebenen Strenge und Lustfeindlichkeit das Leben nicht unbedingt angenehmer. Wenn da nicht der Alkohol wäre, die ständige Versuchung, die auch in Pajala, das sich dem über Finnland nach Russland verlaufenden „Wodka-Gürtel“ zugehörig fühlt, locken würde.

In diesem Umfeld wachsen Matti und sein nicht sonderlich redseliger Freund Niila auf. Und das mitten in den wilden 60ern, von denen man im äußersten Norden Schwedens logischerweise wenig mitbekommt – bis zu dem Tag, an dem Niilas Großmutter beerdigt wird und seine beiden Cousins aus Amerika mit einer Beatles-Single als Gastgeschenk für Niila anreisen. Die beiden Jungs sind völlig aus dem Häuschen und gründen kurzerhand selbst eine Band. Im Keller von Mattis Eltern zimmern sie sich aus Sperrholz so etwas ähnliches wie eine Gitarre zusammen und träumen fortan ihren Traum vom Leben: Rock ’n‘ Roll Music bzw. Roskn Roll Musis …

Niemi erzählt einzelne Episoden aus Mattis Kinder- und Jugendzeit in Pajala, bzw. dem im Volksmund Vittulajänkka (zu deutsch in etwa: „Fotzenmoor“) genannten Ortsteil von Pajala. Er pickt sich einzelne Begebenheiten heraus, die besonders erzählenswert erscheinen, so dass die Kapitel theoretisch vielleicht auch als Kurzgeschichten für sich stehen könnten. Dennoch gibt es Überleitungen, Niemi stellt Zusammenhänge her und baut die Kapitel aufeinander auf, so dass daraus am Ende ein zusammenhängender Roman entsteht.

Und das hat er offenbar so gut gemacht, dass er von seinem Werk in Schweden 700.000 Exemplare verkauft und den bedeutendsten Literaturpreis des Landes eingeheimst hat. Und auch die |Brigitte| hat sich von so viel Euphorie anstecken lassen und beurteilt „Populärmusik aus Vittula“ als |“Das großartigste Buch des Jahres – und auch des letzten und des kommenden Jahres dazu.“| Auch wenn ich mich nicht dem Urteil der Brigitte anschließen will (mit Superlativen sollte man schließlich sorgsam umgehen), kann ich nicht leugnen, dass mir das Buch sehr gut gefallen hat. Niemis Roman hat so eine skurrile, charmante, warmherzige und kauzige Art, dass man sich dem Charme der Geschichte kaum entziehen kann.

Begeistern kann Niemi dabei schon gleich im Prolog mit seinem etwas schrägen Humor, der auch im weiteren Verlauf des Buches immer wieder durchschimmert. Er setzt gekonnte Pointen, die so witzig sind und teilweise vor Einfallsreichtum strotzen, dass den Leser immer wieder das Lachen oder Schmunzeln überkommt. „Populärmusik aus Vittula“ ist dabei gar kein durch und durch komischer Roman, sondern eher tragikkomisch. Niemi kann trotz seiner amüsanten Erzählweise auch sehr ernst sein, wenn er das Leben der Menschen in Pajala schildert, so dass einem manchmal das Schmunzeln zu gefrieren droht.

Die Geschichten, die Niemi aus Mattis Kindheit erzählt, drehen sich dabei einerseits um Land und Leute, andererseits um Musik und die Zeit der Pubertät. Der Leser beobachtet, wie Matti und Niila langsam halbwegs erwachsen werden. Beide erscheinen dabei eher als Antihelden. Ihre spielerischen ersten Versuche, eine Band zu gründen, ihr erster Auftritt vor der versammelten Klasse, der noch als Playback abläuft, all das wirkt eher peinlich als mutig. Grundsätzlich scheint ihr musikalisches Interesse ohnehin in einem unvereinbaren Widerspruch zum Lebenswandel der Tornedalbewohner zu stehen. Hier kommt es vor allem darauf an, als Mann körperliche Arbeit zu leisten, wen interessiert da schon dieses mädchenhafte Rumgeklimper?

Matti und Niila stammen beide aus eher schwierigen familiären Verhältnissen, so dass die Musik für sie die Möglichkeit zum Ausbruch ist. Sie ist ihre Art der Rebellion, auch wenn die beiden sich das wohl nicht ausgemalt hatten, als sie zum ersten Mal im Keller von Mattis Vater mit der Sperrholzgitarre Elvis-Posen imitiert haben.

Was die beiden in den folgenden Jahren erleben, ist durchaus schon einen Roman wert, der einerseits locker-flockig skurrile Geschichten mit viel Witz erzählt, andererseits aber auch einige düstere und tragische Momente enthält. Niemi bewegt sich oft auf einem sehr schmalen Grat zwischen Tragik und Komik. Sein Humor bekommt dadurch eine schwarzhumorige Note, und tragische Momente verlieren trotz der leichtfüßigen Erzählart nichts von ihrer Dramatik.

Vereinzelt hat Niemi dabei sogar schon einen Hang zum Surrealen. Einzelne Kapitel spielen mehr in der Phantasie als in der Realität und mögen im ersten Moment nicht so recht in das Buch passen. Schlägt man es dann am Ende zu, kann man aber dennoch sehr zufrieden sein. Es ergibt sich ein stimmiges Gesamtbild, in das auch Niemis scheinbar verrückte Phantastereien wieder ganz gut hineinpassen.

Wenn Übersetzung und Lektorierung etwas sorgfältiger gemacht worden wären, wäre das Buch nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich rundum ein Genuss. So bleibt leider ein etwas fader Beigeschmack zurück. Nicht nur, dass die deutsche Ausgabe teilweise haarsträubende Rechtschreib- und Grammatikfehler aufweist und sich hier und da etwas holprig liest, auch die Übersetzung an sich bietet Anlass zur Kritik. Niemi verwendet viele schwedische und tornedalfinnische Ausdrücke, die teilweise einfach so unübersetzt und unerklärt stehen gelassen werden. Welcher durchschnittlich sprachbegabte Deutsche kann schon etwas mit Begriffen wie „ummikko“, „meän kieli“ oder „ulosveisu“ anfangen? Wenn man solche Ausdrücke schon nicht übersetzt, weil sie evtl. im Deutschen nicht entsprechend existieren, wäre es dann unmenschlich zu erwarten, dass sie in einem Glossar erklärt werden? Wohl kaum.

Bleibt abschließend festzuhalten, dass Niemi einfach den richtigen Ton trifft. Er zaubert dem Leser ein Lächeln aufs Gesicht und rührt ihn, er stimmt ihn nachdenklich und lässt ihn lauthals loslachen. Er kreiert ein wunderbares Wechselbad der Gefühle, das auch nach der Lektüre im Gedächtnis haften bleibt. Wer schöne Geschichten mit komischen Käuzen an merkwürdigen Orten mag, der wird an diesem Buch seine Freude haben. Wer obendrein Mattis und Niilas Musikbegeisterung teilt, muss dieses Buch eigentlich lieben.

Dan Simmons – Lovedeath

Fünf Kurzgeschichten bzw. Novellen, die um die Themen Liebe oder/und Tod kreisen, sammelt dieser Band, der zwar als „Horror“-Taschenbuch erscheint, aber vergleichsweise wenige Elemente des Übernatürlichen bietet. Stattdessen geht es um die beiden grundlegenden Gefühle in ungewöhnlichen, meist krisenhaften Situationen. Facettenreich und meisterhaft lotet der Verfasser aus, wie erstaunlich und erschreckend dünn die Trennlinie zwischen Liebe (oder Leben) und Tod ist.

Inhalt

Das Bett der Entropie um Mitternacht („Entropy’s Bed at Midnight“, S. 29-70): Ein auf die Untersuchung bizarrer Unglücksfälle spezialisierter Versicherungsvertreter meint die Regel entdeckt zu haben, dass der Tod der Liebe zwingend und unter grausamen Begleiterscheinungen folgen wird …

Tod in Bangkok („Dying in Bangkok“, S. 71-128): Ein ehemaliger Vietnamkämpfer sucht in Thailand nach einem Mutter-Tochter-Vampirpaar, das einst seinen besten Freund auf höchst extravagante Weise zu Tode brachte …

Sex mit Zahnfrauen („Sleeping With Teeth Women“,129-222): Ein junger Indianer begibt sich auf eine lange, gefährliche Reise, an deren Ende er in jeder Beziehung zum Mann gereift oder tot sein wird …

Flashback („Flashback“, S. 223-284): Die Bevölkerung der USA dämmert im Bann einer Droge dahin, die es ermöglicht, vergangene Ereignisse noch einmal zu durchleben …

Der große Liebhaber („The Great Lover“, S. 285-431): Im I. Weltkrieg erlebt ein junger Schriftsteller das Grauen der französischen Schützengräben. Im täglichen Kampf um das Überleben hilft ihm eine wunderschöne Geisterfrau, die er bald für den leibhaftigen Tod halten muss …

Lang oder kurz bzw. irgendwo dazwischen

Die Novelle ist der ungeliebte Bastard zwischen Roman und Kurzgeschichte. Literaturwissenschaftler werden bei diesem Bild aufschreien, doch es trifft dennoch den Kern der Sache. In einem langen Vorwort (S. 13-27) erläutert Dan Simmons, dass diese mittellange Erzählform als höchst marktschädlich gilt. Romane verkaufen sich besser als Kurzgeschichten, Storysammlungen immer noch besser als Novellen. Diese sind gleichzeitig zu lang und zu kurz. Gleichzeitig gibt es freilich gute Gründe für ihre Existenz: Manche Idee ist für die mittellange Form geboren. Nur wenige Autoren gehen jedoch das Risiko ein dies zu berücksichtigen. Lieber walzen sie das, was ihnen eingefallen ist, zum (mehrbändigen) Roman aus.

Dan Simmons kann es inzwischen einen gewissen Konfrontationskurs leisten. Wie Stephen King, Peter Straub oder Clive Barker gehört er zu den ganz Großen der Phantastik, hat sich aber auch in anderen Genres etabliert. In „Lovedeath“ wirft er seinen Verlegern gleich zwei Fehdehandschuhe hin: Er liefert ihnen Novellen, die zu allem Überfluss nicht einmal ‚richtigen‘ Horror bieten.

Obwohl der Leser in seiner Mehrheit ein Gewohnheitstier ist, geht Simmons das Risiko ein, auch sein Publikum zu verwirren. „Tod in Bangkok“ ist fast Grusel, „Flashback“ irgendwie Science Fiction. Doch der Verfasser hält sich nicht an Genregrenzen, die er überspringt und sogar Erzählungen präsentiert, die verdächtig in Richtung Belletristik (= ’schöne‘ bzw. ‚echte‘ Literatur) gehen.

Was Simmons tatsächlich gelingt, ist das Ad-Absurdum-Führen einer viel zu lang postulierten Grenze: die zwischen „E“- und „U-Literatur“ nämlich. „Lovedeath“ bietet schlicht spannende Geschichten, die gleichzeitig Stoff zum Nachdenken bieten. Zwar stößt der Autor gewaltig ins Horn: „Lovedeath“ sollte eigentlich (auch im Original) „Liebestod“ heißen und eine Beziehung zu Richard Wagners Oper „Tristan und Isolde“ herstellen. So schlimm kommt es jedoch nicht; Simmons bietet durchweg schnörkellose Lektürekost. Ohnehin stellt sich die Frage, ob es überhaupt Literatur gibt, in der Liebe und Tod ausgespart bleiben. Auch Simmons hat inhaltlich wie formal sehr unterschiedliche Erzählungen unter den gemeinsamen Titel gestellt, der dadurch wie eine weit gespannte Klammer wirkt.

Faszinierende aber unbequeme Wahrheiten

Betrachten wir uns die fünf Novellen ein wenig näher. „Das Bett der Entropie um Mitternacht“ kreist um die bekannte aber ungeliebte Erkenntnis, dass es Liebe ohne Risiko nicht gibt. Das Schicksal hat den männlichen Protagonisten doppelt geschlagen: Sein Sohn kam bei einem jener tragischen Unfälle um, mit denen er sich beruflich im Auftrag einer Versicherung beschäftigt. Seither lebt er wie auf dünnem Eis, vermeidet ängstlich jedes Risiko und würde vor allem seine kleine Tochter am liebsten niemals aus den Augen lassen. Immer wieder zitiert er aus seinen „orangefarbenen Akten“, in denen er festhält, wie aus einem nichtigen Anlass eine Tragödie erwachsen kann. Der übervorsichtige Vater kommt zu der Erkenntnis, dass er sein Kind nicht vor allen möglichen Übeln bewahren kann oder muss – er raubt sonst ihr und sich die Lebensfreude. Klingt langweilig? Von wegen! Simmons trifft exakt die richtigen Töne, er weiß Gefühle in Worte und Bilder zu übersetzen und spart zwischendurch nicht mit rabenschwarzem Humor, wenn er von ebenso lächerlichen wie grausamen Unglücksfällen erzählt. (2000 griff Simmons dies übrigens für seinen spannenden Thriller „Darwin’s Blade“, dt. „Das Schlangenhaupt“, wieder auf.)

„Tod in Bangkok“ wirkt wie ein „Nebenwerk“ zu Simmons’ berühmten, mehrfach preisgekrönten Romanerstling „Song of Kali“ (1985; dt. „Göttin des Todes“/“Song of Kali“). Das tropische Asien stellt er als dampfende Sickergrube dar. Bangkok ist eine Stadt, in der Suff, Drogen und Sex zusammen mit Gesetzlosigkeit, Korruption. Armut und Schmutz in einer Halbwelt zusammenfließen, in der sogar der Tod käuflich ist. So deutlich wie keine andere Erzählung macht „Tod in Bangkok“ deutlich, wieso Simmons selbst dieses Buch nicht „Leben und Tod“ nannte: Die Liebe kann durchaus beides subsumieren. Die Atmosphäre rücksichtsloser Verderbtheit verleiht „Tod in Bangkok“ als Erzählung eine unheilvolle Anziehungskraft, während die eigentliche Handlung kaum überraschen kann. In den 1990er Jahren mag AIDS als Symbol modernen Schreckens gewirkt haben. Heute hat Gleichgültigkeit diesen Effekt beeinträchtigt; der von Simmons heraufbeschworene Horror aus Sex und ‚verdorbenem‘ Blut verwandelte die Welt doch nicht in ein Siechen- und Beinhaus, sondern blieb mehr oder weniger auf die Länder der Dritten Welt beschränkt, was ihn problemlos ignorierbar werden ließ.

Mythen ohne Tümeleien

„Sex mit Zahnfrauen“ überrascht als farbenprächtiger Streifzug durch die (Mythen-) Welt der nordamerikanischen Ureinwohner. Der weiße Mann beginnt sich bereits breit zu machen auf den Prärien des nur scheinbar unendlich weiten Kontinents aber noch geben die Indianer sich nicht geschlagen und führen wie seit Jahrtausenden ein Leben, das geprägt wird vom Existieren in und von der Natur sowie einem Glauben, der Geister und mythische Wesen in Tieren, Pflanzen, Felsen oder Quellen ortet; das Nebeneinander von Realität und Übernatürlichem wird als völlig normal erachtet.

In dieser harten aber harmonischen Welt erleben wir die Abenteuer eines jungen Tunichtguts, der eigentlich nur der schönen Maid im Nachbarzelt an die Wäsche möchte, stattdessen seine Berufung zum Schamanen erfährt und sich plötzlich auf einer aufregenden Reise durch sein Land wieder findet, die ihren gefährlichen Höhepunkt in der Begegnung mit den „Zahnfrauen“ des Titels findet – einer besonders für geile junge Kerls unerfreulichen Spezies weiblicher Dämonen. Simmons hat fleißig recherchiert für seine Novelle; letztlich sollte man indes vorsichtig sein mit der Beantwortung der Frage, in wie weit oder ob überhaupt es ihm gelungen ist die historische Realität einer versunkenen indianischen Kultur neu zu beleben. Er präsentiert auf jeden Fall seine unterhaltsame, spannende, mit Humor nicht sparende Version, in der er kräftig gegen kitschigen Ethno-Quark à la „Wer mit dem Wolf tanzt“ vom Leder zieht.

Harte Alternativ-Realität

Eine beklemmende Vision gelingt Simmons mit „Flashback“. In den 1990er Jahren galten die Japaner als ökonomische Gegner, welche die USA wirtschaftlich ins Abseits zu drängen oder gar aufzukaufen drohten. Auf dieser Schiene fährt Simmons ein Stück in eine gar nicht so ferne Zukunft. Die USA sind von der Weltmacht zum Armenhaus abgestiegen; die Schulden der Reagan-Jahre haben das einst reichste Land der Welt zum Schuldner Japans und der Europäischen Gemeinschaft gemacht, die ihre Wirtschaftskriege von amerikanischen Soldaten auskämpfen lassen. Damit diese Weltordnung gewahrt bleibt, schleusen die neuen Herren die Droge „Flashback“ in die USA ein. Fast jeder Bürger nimmt es, ist abhängig davon, kommt nicht auf den Gedanken gegen sein Schicksal aufzubegehren.

„Flashback“ erzählt die Geschichte einer Durchschnittsfamilie, die zufällig von diesem Komplott erfährt. Das genretypische Happy-End bleibt aus; dem ungemein detailliert beschriebenen Alltagsleben der dystopischen Art folgt ein konsequent düsteres Finale, das Simmons zudem als Schriftsteller zeigt, der sich schon vor mehr als einem Jahrzehnt nur zu gut vorstellen konnte, was Globalisierung tatsächlich bedeuten kann.

Delirien eines ‚großen‘ Krieges

Beinahe Romanlänge erreicht „Der große Liebhaber“, die eindringlichste aber auch seltsamste Erzählung dieses Bandes. Akribisch rekonstruiert Simmons die fiktiven Erlebnisse eines jungen Mannes und Schriftstellers, der in den Weltkrieg von 1914-18 zieht und seine Erlebnisse während des realen Somne-Feldzugs von 1916 schildert. Dieser entwickelte sich zu einer Hölle auf Erden, in der die Soldaten aller Krieg führenden Länder zu Hunderttausenden verheizt wurden. Simmons kreiert Bilder äußersten Schreckens, die sich eng an zeitgenössischen Frontberichten orientieren. Eine ganze Generation junger und talentierter Schriftsteller zog mit in diesen Krieg. Sie schrieben über das Grauen, das sie hautnah erlebten, und das mit dem Talent, das ihnen gegeben war. Immer wieder streut Simmons Gedichte aus und vom Krieg ein seine Novelle ein. Er lässt sie von seinem Protagonisten verfassen; in ihrer poetischen Wucht und Eindringlichkeit verdichten sie künstlerisch den Schrecken, den Simmons ansonsten betont sachlich in knapp gehaltenen Tagebucheinträgen fixiert.

„Der große Liebhaber“ lässt seine Leser freilich ratlos zurück. Was möchte uns der Autor sagen? Krieg ist die Hölle, das stellt er wortgewaltig unter Beweis. Dennoch belebt Simmons primär die Erinnerung an einen Krieg, der längst Geschichte ist. Gewisse Strukturen des Schreckens – durch die Kriegshistorie zieht sich als dicker roter Faden die Menschen verachtende Dummheit frontfern entscheidender Feldherren – sind zeitlos. Trotzdem erschreckt Simmons eher vordergründig durch drastische Splatter-Szenen als durch die Darstellung der Sinnlosigkeit des Grabenkampfes.

Aufgesetzt wirken außerdem jene Szenen, in denen der psychisch überforderte Soldat die „Lady in Weiß“ halluziniert. Sie sollen seine ungebrochene Lebenslust bzw. -sehnsucht im Angesicht der Hoffnungslosigkeit illustrieren. Der Schuss geht nach hinten los: Lange fragt man sich, ob Simmons von einer Kriegs- zu einer Geistergeschichte umschwenkt. (Das hatte er übrigens in der früheren Novelle „Iversons Gruben“ vor dem Hintergrund des Amerikanischen Bürgerkriegs von 1861-65 schon getan.) Der Tod in Frauengestalt kann mit den Schrecken des Schlachtfelds nicht mithalten. Es fehlt zudem eine Auflösung; das Kriegstagebuch bricht unvermittelt ab. Simmons selbst übernimmt es das Nachkriegsleben seiner Figur zu beschreiben.

Plötzlich entpuppt sich „Der große Liebhaber“ als Versuch eines Psychogramms. Nicht ohne Grund wird der I. Weltkrieg in Großbritannien noch heute als der „Große Krieg“ bezeichnet. Ganze Jahrgänge junger Männer fielen im Felde; ihr Fehlen führte zu enormen gesellschaftlichen Verwerfungen, deren Folgen sich erst nach dem Krieg abzeichneten. Simmons gelingt es nur bedingt diese Entwicklung am Beispiel eines individuellen Schicksals darzustellen. Letztlich beeindruckt und erschreckt „Der große Liebhaber“ als stupende handwerkliche Leistung eines bemerkenswerten Verfassers. Ihn deshalb gescheitert zu nennen wäre falsch: „Der große Liebhaber“ entwickelt auf jeden Fall einen düsteren Sog, dem sich kein Leser entziehen kann.

Unterm Strich ist dies wohl die Gemeinsamkeit, welche die „Lovedeath“-Erzählungen eint; ich empfinde das als großartige Empfehlung für ein Buch, das die Lektüre von der ersten bis zur letzten Seite lohnt. Ein – zudem flüssig übersetztes – Werk dieser inhaltlichen und formalen Qualität sollte in den von öden Endlosreihen dominierten Regalen der deutschen Buchmärkte keinesfalls untergehen.

Autor

Dan Simmons wurde 1948 in Peoria, Illinois, geboren. Er studierte Englisch und wurde 1971 Lehrer; diesen Beruf übte er 18 Jahre aus. In diesem Rahmen leitete er eine Schreibschule; noch heute ist er gern gesehener Gastdozent auf Workshops für Jugendliche und Erwachsene.

Als Schriftsteller ist Simmons seit 1982 tätig. Fünf Jahre später wurde er vom Amateur zum Profi – und zum zuverlässigen Lieferanten unterhaltsamer Pageturner. Dass er nicht längst in dieselbe Bestseller-Kategorie aufgestiegen ist wie Dan Brown oder Stephen King, liegt wohl primär daran, dass er auf zu vielen Hochzeiten tanzt: Simmons ist einfach zu vielseitig, lässt sich in keine Schublade stecken, versucht immer wieder etwas Neues. Leider liebt das träge Leservieh keine Aufregung, sondern hält sich lieber an das Bekannte, scheinbar Bewährte. Ein flinker Schriftsteller wie Simmons taucht unter zu vielen Masken auf und kann sich deshalb nicht als Markenzeichen etablieren. In Deutschland wird er daher wohl ewig im Taschenbuch-Getto gefangen bleiben, während es Fließband-Kolleginnen und -Kollegen längst zum gediegen gebundenen Festeinband gebracht haben, der allein vom Radar der ‚richtigen‘ Literaturkritik geortet wird: eine Ungerechtigkeit, die den wissenden Fan indes nicht davon abhalten wird, den Meister in seinen vielen Verkleidungen zu finden!

Über Leben und Werk von Dan Simmons informiert die schön gestaltete Website http://www.dansimmons.com.

Impressum

Originaltitel: Lovedeath. Five Tales of Love and Death (New York: Warner Books 1993)
Übersetzung: Joachim Körber
Deutsche Erstausgabe: Dezember 1999 (Blitz Verlag)
352 S.
ISBN-10: 3-93217-122-5
Diese Ausgabe: Oktober 2005 (Festa Verlag/Horror-TB Nr. 1512)
431 S.
EUR 9,90
ISBN-13: 978-3-86552-032-6
www.festa-verlag.de

Alef, Rob – Bang Bang stirbt

„Entweder Schwein essen oder Mensch werden!“ Die Rote Bete Fraktion, eine Truppe von Fun-Guerilleros, wütet in Berlin und macht der SoKo für Veganischen Terrorismus schwer zu schaffen. Steakhäuser, Hutgeschäfte, Zoohandlungen und Metzgereien werden überfallen, um die fleischlose Message zu verbreiten. Der Spaß hört spätestens dann auf, als der Panda Bang Bang, Publikumsliebling im Zoologischen Garten, gekidnappt wird – eine nicht ganz ungefährliche Angelegenheit, denn obwohl der behäbige Bang Bang im Zuge der Resozialisierung inzwischen am liebsten vom Sofa aus Videos wie „Peking Opera Blues“ und „Rasierte Thai-Muschis IV“ guckt, war er doch einst ein skrupelloser Mafiakiller.

Kein leichter Fall also für Kommissar Pachulke, der die Tage bis zur Pensionierung ebenso gewissenhaft zählt wie seine Büroklammern und eigentlich nur der einen Frau sehnsuchtsvoll hinterher jagt, (Ähnlichkeiten zu Judith Kuckarts „Bibliothekar“ mögen rein zufälliger Natur sein, lesen sich aber so oder so beeindruckend). Aber auch Pachulkes Team, Zabriskie und Dorfner, ist nicht immer ganz bei der Sache: Zabriskie trinkt ihren Whiskey immer ’straight‘ und sucht bei attraktiven, kooperationsbereiten Zeugen zweckdienlich gern den intimeren Kontakt; während Dorfner völlig in der Arbeit für den von ihm gegründeten ‚Freundeskreis für rechtsstaatliche Folter unter Beachtung der Menschenwürde‘ aufgeht.

Der entführte Bang Bang wird zwischenzeitlich zum Politikum. Sollte es möglich sein, dass gar der ‚Regierende Bürgermeister Und Geliebte Bausenator‘, Staatssekretär Prunk oder der windige Blaschko von Goltz Dreck am Stecken haben? Um die Täter zu überführen, kann Pachulke lediglich auf zwei Beweisstücke zurückgreifen, auf eine Gabel und einen Klops. Und er sollte sich beeilen, denn mittlerweile pflastern Leichen den steinigen Ermittlungsweg …

Der ‚Ausschuss für Alles‘ beschließt frenetisch, endlich erpressbar zu sein, und unter der Ägide des ‚Regierenden Bürgermeisters Und Geliebten Bausenators‘ werden organisierte Selbstmordkommandos zum wichtigen Wirtschaftsfaktor, und Trümmerfrauen und -Männer bekommen endlich wieder eine Aufgabe. Was macht es da für einen Unterschied, ob man in 123 oder 321 Jahren den Schuldenberg abgetragen hat – die Wirtschaft boomt – hemmungslos – ebenso wie die Dolcevita.

Ein nervenaufreibender ‚zynischer Politthriller‘, wie es der Verlag behauptet, ist „Bang Bang stirbt“ nicht unbedingt. Eher eine Polit-Satire, eine famos komponierte, sarkastische Retrospektive, die auf die nahe Zukunft projiziert wird. Brillant geschrieben und überzeugend bis ins abstruseste Detail, führt „Bang Bang stirbt“ in ein haarsträubendes Berlin, das mit ausgefeilten Spitzfindigkeiten, echten Typen von nebenan und zynisch überspannten Visionen die Gegenwart ebenso seziert und zitiert wie eine völlig normale (?) Zukunft anvisiert.

Aber was ist mit Bang Bang? Muss Bang Bang wirklich sterben? Kann Pachulke den Fall lösen? Nun, die Auflösung ist weitaus realistischer als in manch einem anderen Krimi – und wenn der Spannungsbogen auch ab und an ein wenig ins Wanken gerät, einige Handlungsstränge sich im Sand oder sonst wo verlieren; das alles überspielt Alef mit seinem furiosen Stil, der ihm wie en passant aus der Feder zu fließen scheint. Der lustschwache, kulinarisch verwöhnte Bambusbär – der in Gefangenschaft tatsächlich durch Panda-Pornos zur Reproduktion animiert wird – ist Kult. Und „Bang Bang stirbt“ ein Muss!

© _Anna Veronica Wutschel_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.X-Zine.de/ veröffentlicht.|

Abnett, Dan – Ehrengarde (Warhammer 40.000)

Neun Monate sind seit dem Fall der Vervunmakropole auf Verghast vergangen. Doch noch immer sind Spannungen zwischen den Tanithern und den Vergasthitern, die sich damals freiwillig dem „Ersten und Einzigen Tanith-Regiment“ angeschlossen haben, an der Tagesordnung und drohen, die aktuelle Mission zu überschatten.

Die Schrein- und Heimatwelt der Heiligen Sabbat, Hagia, wurde von Chaos-Anbetern infiltriert und weitgehend besetzt, zahlreiche Reliquien und Heiligtümer sind in die Hände des Feindes gefallen. Gaunts Geister sollen im Verbund mit anderen imperialen Streitkräften die Abtrünnigen vernichten, um die symbolisch bedeutsame Welt zu retten. Als der anfänglich erfolgreiche erste Vorstoß in die Hauptstadt Doctrinopolis und gegen die heilige Zitadelle in einem Debakel endet, gibt die militärische Führung allein den ungeliebten Tanithern die Schuld daran, dass nun eine unermesslich große Flotte aus Chaos-Raumschiffen auf den Planeten zusteuert.

Während die übrigen imperialen Truppen und die planetare Herrscherklasse von Hagia evakuiert werden, schickt Marschall Lugo die Tanither und eine Pardus-Panzer-Kompanie auf ein neues Himmelfahrtskommando: Als so genannte Ehrengarde sollen sie die heiligsten Reliquien Sabbats aus einer Feste tief in den verschneiten Bergen vor dem Zugriff der Kultisten in Sicherheit bringen. Der Weg führt die Kämpfer durch unwegsame Regenwälder und vom Feind besetzte Dörfer, vorbei an Flüchtlings- und Pilgerströmen; und hinter jedem Baum könnte ein Hinterhalt liegen, jeder Mensch ein Attentäter sein.

Doch nicht alle Tanither sind mit von der Partie. Einige müssen verwundet in Doctrinopolis zurückgelassen werden, darunter auch der hünenhafte Bragg, der geniale Corbec, Dorden, der Arzt, und Bran Daur von den Verghastitern. Als diese einen seltsamen, unterschwelligen Ruf spüren, der von der Bergfeste auszugehen scheint, und in ihren Träumen immer wieder das Wort „Sabbatmärtyrer“ auftaucht, machen sie sich trotz ihrer Verletzungen in einem fast schrottreifen Panzer an die Verfolgung der einige Tagesmärsche entfernten Ehrengarde.

Nachdem die ersten beiden der „Gaunt´s Ghosts“-Romane lesenswert waren, der dritte aber äußerst eintönig mit vielen Mängeln im Detail daherkam, bietet dieser vierte Band sowohl Licht als auch Schatten.

Im Entwerfen unterschiedlicher Schlachtenszenarien, der Erläuterung von Taktiken und Strategien (ungeachtet derer Realitätsnähe) und dem Schaffen einer düsteren, blutigen Schlachtfeldatmosphäre erweist sich Abnett nach wie vor als wahrer Meister, wobei sein Hang, sich in eintönigem Kanonendonner und Lasergewehr-Gewitter zu verlieren, unverkennbar ist. Dennoch setzt er in diesem Roman genug Akzente – z. B. im Panzergefecht um das kleine Dorf Bhavnager oder den Handlungsbogen um die „Verfolger“ -, um nicht mit endlosen, immer gleich anmutenden Kämpfen zu langweilen.

So fähig er in der Darstellung authentischer Action ist, so schwach ist der Autor im Aufbau vielschichtiger, glaubwürdiger Charaktere und eines befriedigend, plausiblen Abschlusses der Geschichte. Einmal mehr lassen zahllose Figuren keinen Raum, irgendeine von ihnen genauer zu beleuchten, gibt Abnett den zentralen Protagonisten (Larkin, Bragg, Corbec, Rawne, Mkoll, etc.) keine Gelegenheit, aus ihren schon bekannten -und mittlerweile langweilig-vorhersehbaren Verhaltensmustern auszubrechen; und bedauerlicherweise zeichnet sich für die neu ins Regiment integrierten Verghastiter (Daur, Kolea u. a.) eine ähnliches Schicksal „schematischer Einfallslosigkeit“ ab. Der Einzige, der mal wieder etwas mehr Aufmerksamkeit des Autors auf sich zieht, ist Gaunt. Allerdings ist dessen Charakterentwicklung, die Flucht in den Alkohol und das An-den-Tag-legen verhaltener Verzweiflung, vollkommen „out of character“.

Ein weiteres Problem, welches am Horizont auftaucht, ist die Integration der Verghastiter in den tanithischen Hintergrund. Die besondere Fähigkeiten des „Ersten und Einzigen“ im Tarnen, Täuschen, Anschleichen und Erkunden ergeben sich unmittelbar aus den Lebensbedingungen auf der untergegangenen Heimatwelt. Und nun will uns Abnett weismachen – indem er das Problem nicht thematisiert -, die Stadtmenschen der Vervunmakropole seien ein gleichwertiger Ersatz für die gefallenen Geister.

Unbefriedigend ist auch diesmal wieder das Auftreten der Antagonisten: eine uniforme und zudem stupide und dumm agierende Masse von Chaosanbetern auf der anderen Seite der Frontlinie und vom Ehrgeiz zerfressene Offiziere in Reihen des Imperiums.

Ist es denn so schwer insbesondere den Chaosanhänger ein Gesicht zu geben und sie rational agieren zu lassen? Immerhin infiltrieren sie Welten, bauen militärische Infrastrukturen auf und malen ihre Panzer hübsch limonengrün an. Wieso verhalten sie sich in Kämpfen wie Idioten – und damit ist nicht „unlogisch“ oder „unvorhersehbar“ gemeint, sondern „dumm wie Schwarzbrot“? Dieses intellektuelle Stigma dürfte auch die Chaos-Spieler unter den Warhammer-40.000-Tabletop-Anhängern kaum zu Freudensprüngen veranlassen.

Zu den ganz großen Ärgernissen dieses Romans gehört das Abnett-typische Finale, über das man besser keine Worte verlieren sollte. „Reset-Button“ und „aus heiterem Himmel“ müssen deshalb genügen.

Um mit einem positiven Aspekt abzuschließen: Endlich erfährt man, woher der Sabbat-Kreuzzug seinen Namen hat, und man erhält weitere Einblicke in die theokratische Organisation des Imperiums sowie die Absonderlichkeiten der Heiligen-Verehrung.

Licht und Schatten halten sich die Waage: Drohende Eintönigkeit wird durch mitreißende Schlachtenbeschreibungen durchbrochen, interessante Hintergrundinformationen werden durch Unlogik, Vorhersehbarkeit und ein indiskutables Ende relativiert.

|Originaltitel: Honor Guard
Originalverlag: Games Workshop
Übersetzt von Christian Jentzsch|

© _Frank Drehmel_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [buchrezicenter.de]http://www.buchrezicenter.de/ veröffentlicht.|

Fontenay, Charles Louis – Jahrtausendflut, Die (Magic Edition, Band 2)

Charles L. Fontenay wurde 1917 geboren. Er schrieb nach seinem Abschluss für einige Magazine und mauserte sich währenddessen zum Chefredakteur einer amerikanischen Tageszeitung. Nebenher widmete sich Fontenay den verschiedensten Hobbys; er malte, war als Philosoph aktiv, spielte Schach und errang einen Meistertitel im Taek Wan Do. Seine Karriere als Buchautor sollte allerdings nicht von langer Dauer sein; insgesamt schrieb Fontenay nur drei Science-Fiction-Romane, von denen zwei nach der Erstveröffentlichung auch den Weg nach Deutschland fanden. Der letzte hingegen, „Die Jahrtausendflut“, blieb bis zuletzt ein gesuchtes Sammlerstück, das nur in der Originalausgabe zu haben war.

Vor einiger Zeit hat sich schließlich der BLITZ-Verlag dieses Buches angenommen und es im Rahmen der hauseigenen |Magic Edition| erstmals in deutscher Sprache aufgelegt, dies jedoch in leicht überarbeiteter Form, denn der Autor selber hat den Inhalt in gewissen Punkten an das aktuelle Tagesgeschehen angepasst, um die Geschichte auch für die heutige Zeit noch relevant zu machen.

_Story_

In nicht allzu ferner Zukunft ist die Erde einer mächtigen Bedrohung durch die Natur ausgesetzt. Die globale Erwärmung hat allerorts Folgen hinterlassen, so dass durch das ständige Schmelzen der Gletscher und der Pole der Meeresspiegel erheblich angestiegen ist. Die Erdbevölkerung ist sich darüber im Klaren, dass eines Tages die gesamte Landschaft von den Wassermassen überflutet werden wird, doch sie ist noch nicht darauf vorbereitet, dass dieser Tag schon der heutige sein könnte …

Die Erde droht nämlich mit einem Meteoriten zusammenzustoßen, der bei seinem Aufprall eine gewaltige Flut nach sich ziehen würde. Den Berechnungen nach soll dieser Himmelskörper mitten im Atlantischen Ozean aufschlagen und die angrenzenden Länder sollen durch die übermächtige Sturmflut bereits nach wenigen Minuten verschlungen werden. Und tatsächlich: Das Unglück ist nicht mehr abzuwenden und die gesamte Welt steht vor ihrem Untergang.

Mittendrin im totalen Chaos: eine Gruppe von sechs Menschen (von denen drei aber eine eher untergeordnete Rolle spielen), die versuchen, der Jahrtausendwelle zu entrinnen und während ihrer Flucht um ihr Leben kämpfen. Doch nicht nur die Katastrophe selber wird zur schier unausweichlichen Bedrohung; auch die überlebenden Mitmenschen werden im brutalen Überlebenskampf zu Gegnern, die in ihrer Todesangst jegliche Skrupel ablegen und jenseits jeglicher Moral ihre eigene Haut retten wollen. Auch in dieser Sechsergruppe bilden sich zwei Parteien mit unterschiedlichen Motiven. Der Wissenschaftler Brand Caravel versucht das Beste aus der Situation zu machen und somit auch den Weg des allgemeinen Wohles zu gehen – sofern dies möglich ist. Ihm entgegen stellt sich der skrupellose Geschäftsmann Ashley Garland, der auch nach dem urplötzlichen Verfall seines Unternehmens die altbewährten Strategien beibehält und lediglich auf sein eigenes Wohl schielt. Die Übrigen stehen nun vor der Entscheidung, wem sie folgen sollen – dem kompromisslosen Unternehmer oder doch dem sozial motivierten Wissenschaftler. Und währenddessen werden die apokalyptischsten Visionen immer mehr zur Realität …

_Meine Meinung_

Naturkatastrophen von astronomischem Ausmaß waren zur Entstehungszeit dieses Romans eigentlich noch kein Thema, über das sich die Wissenschaft, geschweige denn die Bevölkerung ausführlich Gedanken gemacht hat. Doch durch das wachsende Bewusstsein über die Folgen der globalen Erwärmung und nicht zuletzt aufgrund der verheerenden Tsunami-Flutwelle aus dem vorletzten Jahr hat die Welt selber erfahren müssen, wie mächtig die Natur infolge des Raubbaus von Menschenhand geworden ist. Insofern ist die Thematik dieses Buches mittlerweile aktueller denn je, auch 40 Jahre, nachdem Charles L. Fontenay diesen lange Zeit verschollenen Roman verfasst hat.

Sehr positiv fällt auf, dass sich der Autor trotz des verhältnismäßig geringen Seitenumfangs recht detailliert auf die Thematik einlässt, sowohl im Hinblick auf das Ereignis an sich als auch bezogen auf die Charaktere, die im Buch eine wesentliche Rolle spielen. Die Katastrophe als solche und auch ihre Auswirkungen auf die Zivilisation werden sehr ausführlich dargestellt und weichen in ihrem Facettenreichtum gar nicht mal so weit von den jüngsten, real geschehenen Horrorszenarien ab. Ob dies jetzt daran liegt, dass der Autor die Geschichte im Nachhinein noch mal überarbeitet hat, vermag ich nicht zu sagen, jedoch ist es schon sehr erschreckend, welch authentisches Bild sich bei der Schilderung der Ereignisse ergibt. Dies gilt auch für die Darstellung der gesellschaftlichen Konflikte, die sich innerhalb des sehr knappen Zeitrahmens nach der Katastrophe ergeben; Menschen ringen mit allen erdenklichen Mitteln um ihr Leben und vergessen dabei jegliche moralischen Werte; das eigene Leben steht über allem, das Wohl der Gesamtbevölkerung ist hingegen gar nichts mehr wert. Aus einer Milliardenbevölkerung wird eine gewaltige Ansammlung von Einzelkämpfern, von denen sich jeder selbst der nächste ist, und wer dann doch versucht, an die Vernunft zu appellieren wie in diesem Fall Brand Caravel, der senkt seine Überlebenschancen mit einem Mal um einen drastischen Prozentsatz.

Das einzige Problem an diesem Buch ist lediglich, dass sich Fontenay nicht wirklich darauf einschießen kann, was nun das genaue Thema des Buches ist: die Entstehung der Naturgewalt oder die Folgen für das menschliche Miteinander, geprägt durch Personen wie Ashley Garland, Jimmy Haggard und Brand Caravel. Trotz umfassender Beschreibung versäumt der Autor es nämlich irgendwann, sich auf beide Themen gleichermaßen intensiv einzulassen. Gerade die Lösung im Bezug auf die Hauptpersonen ist im Endeffekt ein wenig unbefriedigend, zumal man eigentlich schon erahnen kann, wer mit seiner weiteren Vorgehensweise Erfolg haben wird. Aber auch der Konflikt zwischen Ashley und Brand wird nicht auf angemessenem Level ausgetragen und lässt die erforderliche Brisanz vermissen.

Dafür kann Fontenay allerdings mit tollen Szenenbeschreibungen glänzen, in denen seine Berufung als Journalist voll und ganz durchkommt. Sehr eindrucksvoll sind diesbezüglich die Schilderungen über die letzten Momente von New York, bevor die Stadt komplett von den Wassermassen vernichtet wird. Der Anschlag auf das World Trade Center hinterließ ein Bild des Schreckens und der Trauer, das man nie vergessen wird, und daran knüpft der Autor hier nahtlos an. Beim Lesen bekommt man eine echte Gänsehaut, die potenziell noch viel öfter hätte auftreten können, hätte sich Fontenay mehr auf diese Stärken konzentriert. Dies ist aber leider nicht der Fall, und so fehlt es dem Buch letztendlich auch an dem gewissen Etwas, sozusagen an der nötigen Würze und schließlich auch am erforderlichen Tiefgang, der prinzipiell – man beachte den schon erwähnten Detailreichtum – möglich gewesen wäre. Es mangelt der Geschichte weitestgehend an Konsequenz, d.h. der Autor führt die vielen Andeutungen und Ansätze nicht adäquat aus, und dadurch büßt „Die Jahrtausendflut“ trotz eigentlich sehr gutem Inhalt einiges an Klasse ein.

Fazit: Gute Unterhaltung: ja, intensive Atmosphäre: jein, tatsächlicher Tiefgang: nein.

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Marx, André – Die drei ??? – Feuermond

Die berühmte Jugendserie feierte nicht nur unlängst ihr 25-jähriges Bestehen, im September 2005 erreichte sie ihren 125. Band. Sicherlich ein Grund zum Feiern, weswegen man André Marx ausschickte, nach Nummer 100 „Toteninsel“ einen weiteren Dreierband auf die Leserschaft loszulassen. Wieder erschien die Erstausgabe als Paket mit drei Büchern im Schuber und wieder ergeben die Covers des Triples ein zusammenhängendes Bild: ein Triptychon, wie man fachlich korrekt in der Malerei sagen würde. Mit Malerei liegt man hier auch sehr nah am Thema des Jubiläumsbandes. Denn nicht nur die Zahl drei ist innerhalb der Serie wichtig, auch ein ganz bestimmter Meister-Kunstdieb mischt wieder mit. Und nicht nur er.

_Zur Story_

Bob hauts von den Socken. Nein. Eher vom Fahrrad. Nach einem Kinobesuch spät dran, radelt der dritte Detektiv eilends nach Hause, als ihn die Explosion des alten, leer stehenden Verwaltungsgebäudes von Rocky Beach vom Drahtesel fegt. Ein Unfall? Unwahrscheinlich, denn bei den drei Fragezeichen trudelt am nächsten Morgen ein knapper Brief ein, der von Absicht kündet und weitere Informationen darüber verspricht. Allerdings stehen die schließlich mühsam am Treffpunkt erkämpften Informationshäppchen augenscheinlich damit nicht in Zusammenhang. Vielmehr stoßen die drei Detektive auf Hinweise auf ein mysteriöses Bild eines berühmten, französischen Malers. Ein Bild, dessen Existenz in der Fachwelt kontrovers diskutiert und vielerorts sogar angezweifelt wird: „Feuermond“. Dass dieses Bild wohl kein Mythos ist, erkennen Justus, Peter und Bob bereits daran, als dass sie bald auf alte Bekannte treffen.

Zunächst Britanny. Eben jene Britanny, welche Justus seinerzeit so arg gelinkt hatte (vgl. „Das Erbe des Meisterdiebes“). Und auch diesmal ist Messieur Victor Hugenay, der berüchtigte Gentleman-Kunstdieb, nicht weit. Unschwer zu ermitteln, dass dieser wegen des „Feuermond“-Bildes unter seinem Stein hervorgekrochen ist. Britanny gibt sich geläutert und zeigt sich kooperativ, was auch schließlich zum Erfolg führt. Es gelingt den drei Fragezeichen durch List, was noch niemandem – weder in Europa, noch in Amerika – gelang: Hugenay (gesprochen: „Üschänee“) kann dingfest gemacht werden und landet in Untersuchungshaft! Doch ist damit das letzte Wort gesprochen? Der gerissene Meisterdieb hat immer einen Kniff gefunden, sich dem Gesetz zu entziehen. Kann man Britanny wirklich trauen? Wo ist „Feuermond“? Die erste Schlacht ist gewonnen, doch der Krieg der Superhirne hat erst begonnen.

_Meinung_

Für ein solch rundes Jubiläum wie den 125. Band kann man gerne wieder einen der Lieblingsgegner (und sicher auch eine der Lieblingsfiguren der Fans) ausbuddeln. Victor Hugenay is back! Für alle, die es nicht wissen: Messieur geruhten schon öfter die mentalen Klingen mit den drei Fragezeichen – respektive hauptsächlich deren Vordenker Justus – zu kreuzen. Legendär sind die Fälle „Seltsamer Wecker“, „Super-Papagei“ und „Erbe des Meisterdiebs“. Letzterer beinhaltete eine harte Schlappe (die einzige in der ansonsten makellosen Historie der drei ???) – Grund dafür war – neben Hugenay – Britanny. Auch sie hat in dieser Geschichte ihre Auferstehung. Undurchsichtiger denn je. Hat sie sich geändert? Marx lässt den Leser zappeln und somit auch seine Protagonisten, die nicht recht wissen, in welche Schublade sie Britanny stecken sollen.

Bei Hugenay scheint der Fall ganz klar. Er ist ein Verbrecher, ein Bösewicht par exellance. Oder vielleicht doch nicht? Dass er einen Narren an Justus gefressen hat, ist bekannt. Wie immer dirigiert er die Ereignisse scheinbar nach seinen Gunsten und Belieben. Ob in Haft oder nicht. Fraglich bleibt bis zum Schluss, was seine Beweggründe sind, diese Spielchen zu treiben. Bis zum absoluten Finale ist der Leser ratloser als je zuvor, was seinen Charakter angeht. Natürlich darf eine solche Folge nicht ohne Rätsel und noch mehr undurchsichtige Typen auskommen. Ebensowenig dürfen bestimmte Figuren fehlen. Tante Mathilda und Onkel Titus gehören zur Grundausstattung, aber auch Inspector Cotta und Chauffeur Morton – samt Rolls Royce selbstverständlich – haben mal wieder ihr Schärflein beizutragen.

Als originelle Idee spielt diesmal die Zentrale der ??? eine vollkommen ungeahnte Rolle. Mehr sei hier darüber nicht verraten, als dass der gammelige Campinganhänger durchaus noch rüstig ist. An Ideenreichtum mangelt es André Marx jedenfalls nicht. Die drei Teile lesen sich sehr flüssig und mit einer guten Portion Humor. Zudem ist die Geschichte sprachlich sehr ausgefeilt, kaum ein Buch der drei Fragezeichen ist je ausschmückender verfasst worden. Die sehr bildhafte Schilderung ist erstklassiges Kopfkino. Allerdings ist Autor Marx spürbar kein wirklicher Waffenexperte: Das „Entsichern“ einer Pistole macht kein Geräusch – zumindest kein auf Entfernung wahrnehmbares – was er so lautmalerisch beschreibt, dürfte demnach der Hahn sein. Egal.

Dankbar muss man ihm sein, dass er der Verlockung widerstand, auch in diesem Jubiläumsband auf Deibel komm raus alle möglichen Figuren zu reanimieren. Er belässt beispielsweise Jelena, Skinny Norris und andere schön in der Mottenkiste und hält den Cast übersichtlich. Nichts gegen diese (Kult-)Figuren, doch der letzte, opulente Dreierband „Toteninsel“ war einfach nur gnadenlos damit überfrachtet. „Feuermond“ ist dagegen fast schon minimalistisch aufgezogen und hat nur wenige Szenen, die nicht ganz so überzeugend sind. Das Ausgangs-Szenario für den Showdown etwa. Das wirkt arg beigedengelt und allein vom Setup her eher minder glaubwürdig, ist dafür aber im Verlauf nichtsdestoweniger spannend und halbwegs schlüssig geworden.

_Fazit_

Alle drei separaten Teile vergehen wie im Flug. Die Geschichte ist, bis auf kleinere, zu vernachlässigende Macken, erfreulich intelligent und – in Sachen Hugenay und seiner Vergangenheit – höchst aufschlussreich. Der 14,90 Euro teure Dreierband ist nicht unbedingt für Einsteiger in die Serie gedacht, wenngleich auch solche damit einen recht lockeren Einstieg haben dürften. Einen gelungenen und eher actionreichen noch dazu – ein schon fast klassisch (und serientypisch) zu nennendes Rätsel gibt’s obendrauf. Natürlich ist der Fall wieder in sich abgeschlossen und eigenständig, doch stärker als üblich sind Bezüge auf frühere Begebenheiten zu finden. Diese zu kennen, ist hilfreich, jedoch für das generelle Verständnis nicht nötig. Sie sind andererseits diesmal jedoch auch etwas mehr als nur das Salz in der Fan-Suppe.

_Die Buchdaten auf einen Blick:_
Die drei ??? ® – „Feuermond“-Band 125
Erzählt von André Marx
Franckh-Kosmos, Stuttgart – 09/2005
Das Rätsel der Meister (125-1)
Der Pfad der Täuschung (125-2)
Die Nacht der Schatten (125-3)
Drei Hardcover im Schuber, je 128 Seiten
ISBN: 3-440-10205-X

Isaac Asimov – Das galaktische Imperium (Foundation-Zyklus 4)

Isaac Asimov bemühte sich gegen Ende seiner Schaffenszeit, seine beiden großen Steckenpferde, die Robotergeschichten mit ihren Gesetzen der Robotik und die Geschichte der Menschheit mit der Foundation-Trilogie, zu einer zusammenhängenden, umfassenden Erzählung zu verknüpfen. »Das galaktische Imperium« wurde so zum vierten Band des erweiterten Foundation-Zyklus und bildet den endgültigen Übergang von den Robotergeschichten zur galaktischen Menschheitsentwicklung mit Hilfe der Psychohistorik.

Zweihundert Jahre nach Elijah Baleys letztem Fall auf Aurora, in dessen Verlauf er den Erdenmenschen einen neuen Anlauf für die Besiedlung der Galaxis ermöglichte, droht eine neue Krise: Die Spacer, die in ihrer von Robotern behüteten Zivilisation verharren, sehen ihre Macht über die Erdenmenschen durch die neuen Siedler bedroht, die allein durch ihre Masse zur Gefahr werden könnten. Der oberste Robotiker macht den hinterhältigen Plan eines seiner Kollegen zu dem seinen, der darauf abzielt, die Erde als Zentrum der Siedlerbewegung zu vernichten.

Inzwischen scheinen die Bewohner des letzten von Spacern besiedelten Planeten, die Solarianer, einen eigenen Plan zu verfolgen. Ihre Bevölkerung war schon immer die niedrigste aller Spacerwelten, und in dieser Krisenzeit haben sie ihren Planeten plötzlich verlassen.

Die bekannten Roboter Daneel und Giskard sehen sich vor die schwierige Aufgabe gestellt, nach den Gesetzen der Robotik zu handeln und die Menschen zu beschützen und gleichzeitig die Vernichtung der Erde durch Menschen zu verhindern. Sie als intelligenteste Roboter machen sich Gedanken um die Zukunft der gesamten Menschheit, was ursprünglich die Kapazität von Positronengehirnen übersteigt.

In typischer Weise entwickelt Asimov die Geschichte um seine Protagonisten, wobei diesmal ein deutlicher Schwerpunkt auf Daneel und Giskard und ihren inneren Konflikt zwischen ihren Erkenntnissen bezüglich der Menschheit und der Robotikgesetze gelegt wird. Es ist erstaunlich, über welchen Zeitraum (seiner Lebenszeit) und welchen Umfang (zehn, ursprünglich noch mehr, inzwischen zusammengelegte, Bände) er den großen Bogen spannt. Dass dem Leser dabei nicht langweilig wird, da er (in dieser Ausgabe nicht zuletzt wegen der wirren Veröffentlichungsstrategie des Verlags) die Romane wahrscheinlich nicht in chronologischer Reihenfolge gelesen hat und somit Details der Zukunft, auf die Asimov hinarbeitet, bereits kennt, ist ein Merkmal des Unterhaltungswerts der Geschichte und Asimovs Fähigkeit, spannende und verstrickte Abenteuer zu schreiben.

Ein wichtiger Punkt des Stils sind die langen Unterhaltungen, die einen Großteil der Geschichte ausmachen. Hier wird Stellung bezogen, Handlungen werden rückblickend dargestellt, neue Rätsel ausgestreut oder alte gelöst, und der Leser denkt mitunter zusammen mit den Protagonisten in die völlig falsche Richtung oder meint, Hintergründe noch vor ihnen durchschaut zu haben.

Geschickt flicht Asimov Fäden ein, die bereits in späteren Romanen gelöst wurden, und erklärt zum Beispiel, wie Daneel und Giskard zu ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten kommen. Bereits in vorangehenden Bänden wird angedeutet, dass nicht der geniale Hari Seldon (siehe Foundation Bände 7, 8) auf die Idee mit der Psychohistorik kam, sondern diese ein wichtiges Anliegen ursprünglich Giskards und ausgefeilter Daneels ist, wozu auch im vorliegenden Roman deutliche Grundsteine gelegt werden. Daneel, der durch Elijah Baley noch an dessen Sterbebett in Richtung Menschheit beeinflusst wurde (»ein einzelner Faden ist nichts im Gegensatz zum ganzen Gewebe«), schafft es sogar, sich selbst endgültig das Nullte Gesetz der Robotik einzuprogrammieren und es den ursprünglichen drei Gesetzen voranzustellen: Ein Roboter darf der Menschheit nicht schaden oder durch Untätigkeit zulassen, dass ihr Schaden widerfährt. Demzufolge wird die Unverletzbarkeit von Individuen der Abstraktion der Menschheit untergeordnet, was für den Einzelnen durchaus zur Gefahr werden könnte.

Es ist schwierig, darüber zu urteilen, aber ging Asimov vielleicht etwas zu weit, als er den Robotern die Macht zusprach, sich über die zum Schutz der Menschen eingesetzten Drei Gesetze hinwegzusetzen? Sollte es einem Roboter, und sei er noch so intelligent, zustehen, über die Zukunft der Menschheit zu entscheiden und damit vielleicht Einzelne zu gefährden? In dem Zusammenhang lässt er seine Roboter eine brisante Idee fassen:

[…] Wir müssen eine wünschenswerte Spezies formen und sie dann schützen, damit wir uns nicht wieder gezwungen sehen, zwischen zwei oder mehr unerwünschten Alternativen wählen (d.h. welcher unerwünschten Menschengruppe ihr Schutz gelten soll!) zu müssen. […] (Seite 492f)

Bei diesem Satz kann den Leser Unbehagen befallen, denn was wäre das für eine Menschheit, die nach den Wünschen von Robotern geformt ist? Ähnliches Unbehagen beschleicht einen ganz zum Ende des Zyklus, doch es soll nicht zu viel vorweggenommen werden.

Was den Roman gegenüber seinen Vorgängern so besonders macht, ist die gewisse Überlegenheit der Roboter gegen die Menschen; so spielte Daneel in den Bänden Foundation 2 und 3 zwar eine wichtige Rolle, dominiert wurden die Geschichten aber von Elijah Baley. Jetzt, nach Baleys Tod, bemüht sich Daneel um die Denkweise der Menschen allgemein und der Baleys im Besonderen, um der Menschheit möglichst perfekt dienen und sie schützen zu können. Dabei wird er in seinen Gedanken, Gefühlen und seiner Handlungsweise immer menschlicher, und darum wirkt es auch menschlich tragisch, als er sich seiner Aufgabe endgültig allein gegenübergestellt sieht.
Ein den anderen Bänden ebenbürtiger Beitrag zum großen Foundationuniversum.

Der Foundation-Zyklus im Überblick

1. Meine Freunde, die Roboter
2. Die Stahlhöhlen
3. Der Aufbruch zu den Sternen
4. Das galaktische Imperium
5. Die frühe Foundation-Trilogie
6. Die Rettung des Imperiums
7. Das Foundation-Projekt
8. Die Foundation-Trilogie
9. Die Suche nach der Erde
10. Die Rückkehr zur Erde

Mason, Richard – unsichtbare Vierte, Die

Bereits sein erster Roman „Der Liebesbeweis“, den Richard Mason mit gerade achtzehn Jahren verfasste, überzeugte Kritiker und Leser von der erzählerischen Virtuosität des Jungautors. Und tatsächlich erzählt Mason so kraftvoll und dabei so feinsinnig und federleicht, dass man seine Bücher – einmal begonnen – nur äußerst ungern aus der Hand legt.

„Die unsichtbare Vierte“ brilliert durch unendlich viele kleine Szenen, die sich vielversprechend wie schimmernde Perlen aneinander reihen. Szenen, die sich dann jedoch leider nicht gänzlich zur strahlenden Kette, zum überzeugenden Ganzen zusammenfügen wollen.

Denn auch wenn Richard Mason sich fünf Jahre Zeit genommen hat, um „Die unsichtbare Vierte“ zu komponieren – fünf Jahre übrigens, die er als Albtraum voller Selbstzweifel beschreibt -, verführt der Roman vorwiegend durch sein kunstvolles Arrangement, das mit Sprache, mit Zeitebenen sowie den Perspektiven seiner Figuren, drei unterschiedlichen Stimmen, gewandt zu jonglieren weiß.

In vier große Kapitel unterteilt Mason die Handlung. In ICH lernt der Leser zunächst die drei Protagonisten kennen: Julian, den etwas blassen Lehrer; Jake, den süchtigen, einst gefeierten inzwischen jedoch konzeptlosen Konzept-Künstler, und Adrienne, die Tochter aus mondäner New Yorker Gesellschaft, die einen erfolgreichen, viel älteren Filmproduzenten geheiratet hat. So unterschiedlich sich ihr Leben gestaltet hat, verbindet sie doch ein tragisches Ereignis, das mehr als ein Jahrzehnt zurückliegt. Denn alle drei fühlen sich in gewisser Weise für den Tod von Maggie – der unsichtbaren Vierten – verantwortlich.

In den Kapiteln DAMALS und WIR lässt Mason seine Figuren aus ihrer Jugend erzählen. Die Wege der vier kreuzten sich endgültig in Oxford, wo sich ihr Schicksal auf dramatische Weise für immer miteinander verknüpfte. In WIR nimmt der Roman die Züge des im englischsprachigen Raum sehr beliebten College-Mystery an, weshalb man „Die unsichtbare Vierte“ wohl des Öfteren mit Donna Tartts Weltbestseller „Die geheime Geschichte“ verglichen hat. In dem letzten Teil, HEUTE, treffen Julian, Jake und Adrienne nach über einem Jahrzehnt wieder zusammen – und erneut nimmt ihr Treffen einen schrecklichen Ausgang.

Ein US (WIR – so der Originaltitel) hat es letztlich niemals gegeben. Eigentlich war Maggie, Julians Schwester, die mit ihrem ungestüm charmanten wie dominanten Charakter Jake zu ihrem Liebhaber und Adrienne zu einer ihrer Freundinnen machte, das Bindeglied dieses tragisch endenden Quartetts.

„Die unsichtbare Vierte“ bezaubert – wie gesagt – durch Masons Geschick, mit Sprache wunderbare Atmosphäre und elegante, anekdotenhafte Szenen zu schaffen. Als Geschichte jedoch überzeugt „Die unsichtbare Vierte“ nicht gänzlich. Unzählige Zufälle lassen teilweise Zweifel an dem Plot aufkommen. Und auch die Figuren bleiben eher blass, ihre Motive und Beziehungen nicht immer nachvollziehbar – Was z. B. treibt Adrienne in Julians Arme und über Monate in sein Bett? Da klingen auch die ein oder andere philosophisch moralische Betrachtung und Hobbes zitiertes Weltbild zu kurz und zu unmotiviert an, um dem Text ernsthaft mehr Tiefe zu verleihen. Tragisch ist die Geschichte in vielfacher Hinsicht. Vor allem, da die drastisch grausamen, aber doch letztlich banalen College-Streiche, die Maggie inszeniert, um Gerechtigkeit herbeizuführen, für alle Beteiligten ein so schlimmes Ende nehmen. „Der kurze, reizvolle Augenblick, in dem aus einem Spiel das Leben wird – und dann der Tod.“ Wobei jedoch eigentlich die Unfähigkeit der Figuren zur Kommunikation das tragischste Moment der gesamten Geschichte ist.

„Die unsichtbare Vierte“ ist ein tragisch schöner, virtuos erzählter Roman, der jedoch an Logiklücken und der zu zahmen Umsetzung eines extremen Charakters kränkelt. Hätte Mason auf das Nachbeben, das die übrig gebliebenen drei Figuren noch Jahre später erschüttert, verzichten wollen, wäre der Roman vielleicht ein spannender Krimi aus der Sparte College-Mystery geworden. Mason jedoch zielt auf die erzählte Gegenwart ab, um die Auswirkungen von Maggies Tod zu verdeutlichen. „Die unsichtbare Vierte“ ist spannend, aber trotz Todesfällen nur bedingt als Krimi zu lesen. Denn Mason konzentriert sich nicht explizit auf Spannung und Thrill, sondern verlässt sich ganz auf seine Figuren. Ob diese Konstellation den Leser letztlich in den Bann zieht, muss jeder selbst entscheiden, so wie der Autor sich das vorstellt: ‚Ich möchte, dass die Leser bewegt sind, aber ich möchte auch, dass jeder Leser den Text auf seine eigene Weise erfährt.‘

© _Anna Veronica Wutschel_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.X-Zine.de/ veröffentlicht.|

Schmidt, Peter – Endzeit (Magic Edition, Band 3)

Im dritten Teil der „Magic Edition“ vom BLITZ-Verlag darf sich nun erstmals ein deutscher Autor im Bereich des Übersinnlichen versuchen. Peter Schmidt, so sein Name, hat bereits dreimal den Deutschen Krimipreis einheimsen können und ist für sein Gesamtwerk 1994 mit dem Literaturpreis Ruhrgebiet geehrt worden. Im Laufe seiner Karriere als Schriftsteller haben sich seine Prioritäten jedoch immer mehr verschoben. Schmidt hat seine Vorliebe für Science-Fiction-Themen immer mehr in den Vordergrund gestellt und sich diesem Gebiet auch seit seinem recht erfolgreichen Genre-Debüt „Vorwärts“ ausnahmslos gewidmet. „Endzeit“ ist bereits seine fünfte Science-Fiction-Erzählung, mit Sicherheit aber nicht seine beste …

_Story_

Inmitten einer Großstadt macht der Wissenschaftler Alexander Born eine grausame Entdeckung: Ein überdimensionales, fliegendes Etwas treibt in der Dunkelheit sein Unwesen und stürzt sich urplötzlich auf eine hilflose Passantin, die schließlich vom als Flugsaurier entlarvten Tier verspeist wird. Born meldet den Vorfall umgehend den Behörden, wird aber dort nicht für voll genommen. Der bekannte und gerade für den Nobelpreis nominierte Wissenschaftler wird stattdessen für verrückt erklärt und abgewiesen. Weil er jedoch nicht an eine bloße Illusion glaubt, sucht er am nächsten Abend die nahe liegende Umgebung ab und stößt auch tatsächlich wieder auf das vorzeitliche Wesen. Born muss allerdings erkennen, dass er dem Urvieh alleine nicht gewachsen ist und begibt sich dabei in große Gefahr. In letzter Minute kann er dem Saurier noch entkommen.

Bei der Suche nach Unterstützung entscheidet sich Born schließlich dafür, die Presse einzubeziehen, die aus der Geschichte ja auch eine sensationelle Story drehen könnte. In Gestalt der gebildeten Reporterin Linda Meyer trifft er schließlich auf eine Person, die ihm glaubt, und gemeinsam gelingt es dem neu verbündeten Team tatsächlich, das Wesen einzufangen. Bei der Ursachenforschung stößt Born dann auf einige dunkle Kanäle; er vermutet, dass sein direkter Konkurrent und ehemaliger Kollege Dr. Haderer infolge einer zielgerichteten Gen-Manipulation für das Auftauchen des Wesens verantwortlich ist. Doch bevor er sich hiermit ausführlicher befassen kann, taucht plötzlich ein weiterer Flugsaurier auf – und dieses Mal ist das Wesen nicht alleine …

_Meine Meinung_

„Jurassic Park“ – klarer Fall, dass einem dieser Gedanke bei der Betrachtung dieser Inhaltsangabe als Erstes kommt. Und in der Tat weist Schmidts aktueller Roman deutliche Parallelen zu Michael Crichtons Bestseller auf. Jedoch besteht zwischen der mehrfach verfilmten Edel-Story und dem hier zur Kritik vorliegenden Roman ein gehöriger Klassenunterschied, denn Peter Schmidt schafft es nicht mal annähernd, eine ähnlich intensive Atmosphäre zu entfachen wie das als Inspiration dienende Original. Im Gegenteil; trotz des zweifellos rasanten Tempos basiert das Buch auf viel zu vielen Ungereimtheiten. Natürlich stellt die Bedrohung durch die Urzeit-Geschöpfe eine Gefahr für die gesamte Bevölkerung dar, doch wieso setzt sich diese überhaupt der Gefahr aus? Immerhin treiben die Flugsauriern nur in einem lokal einzugrenzenden Gebiet ihr Unwesen, es wäre also ein Leichtes, aus dieser Stadt zu fliehen und sich somit in Sicherheit zu bringen. Während die Protagonisten bei „Jurassic Park“ auf der Insel quasi gefangen und somit auch jederzeit angreifbar waren, bestehen für die Menschen in diesem Buch genügend Schlupflöcher, um der drohenden Gefahr zu entgehen – und sei es, dass man einfach in der heimischen Wohnung bleibt. In dieser Hinsicht sind die Hintergründe von „Endzeit“ recht unbefriedigend eingefangen und die vermeintlichen Lösungsstrategien recht unlogisch dargestellt worden.

Nicht abzustreiten ist indes, dass Schmidt ein Verständis dafür hat, wie man die aus einer immensen Gefahr abzuleitende Action inszeniert. Gerade bei der Darstellung des apokalyptischen Endzeit-Szenarios bzw. beim finalen Gefecht zwischen den angerückten Militär-Einheiten hat sich der Autor echte Mühe gegeben und auch sehr gute Resultate erzielt.

Dem entgegen bleiben die Hauptcharaktere in diesem Buch blass. Der erfahrene Wissenschaftler Born zum Beispiel taugt als Actionheld nur bedingt; seine Tochter hingegen, die ebenfalls eine tragende Rolle in diesem Roman einnimmt, würde sich hierzu schon besser eignen, kommt aber irgendwie nicht richtig zum Zuge. Bleiben ein Polizist, der irgendwie nie Herr der Lage ist, und die sicherlich motivierte Reporterin, die aufgrund ihrer Stellung aber ebenfalls nicht zur Heldin avancieren kann. Und unter dieser Voraussetzung leidet das Buch letztendlich auch; man findet keine Identifikationsfiguren, ganz anders noch als bei „Jurassic Park“, wo sich quasi jede Altersklasse ihren Helden aussuchen konnte. Bei „Endzeit“ gibt es sowas indes nicht.

Dass die Story zudem wenige eigene Elemente beinhaltet, nimmt dem schwächelnden Inhalt schließlich auch den letzten Halt. Peter Schmidt versucht zwar direkt zu Beginn, durch einen selber gestellten Vergleich mit dem großen, preisgekrönten Vorbild den Verdacht ein wenig abzuweisen, doch alles in allem ist „Endzeit“ dann doch eine leicht abgewandelte und bei weitem nicht derart fesselnde Kopie von „Jurassic Park“. Und dies schließt auch die erwarteten, bis auf die Genmanipulation aber im Grunde genommen gar nicht vorhandenen Science-Fiction-Elemente ein.

„Endzeit“ ist moderne Horror-Fantasy auf höchstens durchschnittlichem Niveau und muss nicht einmal von begeisterten Anhängern der „Magic Edition“ aus dem BLITZ-Verlag angetestet werden; in diesem Genre gibt es nämlich eine stattliche Anzahl weitaus empfehlenswerterer Romane.

http://www.blitz-verlag.de/

Wilson, Robert – Toten von Santa Clara, Die (Javier Falcón 2)

Es ist ein altbekanntes Dilemma: Männer mittleren Alters verändern sich nicht mehr!
Diese Behauptung könnte auf Erfahrungswerten beruhen, stammt in diesem Falle aber nicht von mir, sondern ist ein Zitat des Autors Robert Wilson. Und dieser stand somit vor einem Problem: Denn eine glaubwürdige Figur eines Leiters der Mordkommission bedarf einiger (Dienst-)Jahre und einer gewissen Lebenserfahrung – ist somit ein Mann ‚in den besten Jahren‘. Ein interessanter Protagonist jedoch braucht die Chance, sich zu entwickeln, sich von festgefahrenen Gewohnheiten und dem Alltagstrott zu befreien. Um diese komplexe Kernfrage zu lösen und seinem Protagonisten die Möglichkeit eines Neuanfangs zu bieten, ließ Wilson seinen Inspector Jefe Javier Falcón in „Der Blinde von Sevilla“ ein sehr persönliches, traumatisches Ereignis durchleben, das sein gesamtes Selbstbild bis in die Grundfesten erschütterte und einen Nervenzusammenbruch auslöste.

„Der Blinde von Sevilla“ wurde zu einem kleinen Meisterwerk, das sich jedoch vorrangig durch die tragischen Familienverhältnisse und den Seelenstriptease des Protagonisten Falcón auszeichnet. Es ist außergewöhnlich, wie es Wilson gelingt, das Große im Kleinen zu spiegeln – also Weltgeschichte im persönlichen Drama einzufangen. Die Demontage der Persönlichkeit Falcóns, die Zerstörung der übergroßen Vaterfigur, des Künstlers Francisco Falcón, reflektiert die Zerstörungswut und Tragik eines gesamten Jahrhunderts. Dabei tritt jedoch der überaus brisante Fall der eigentlichen Todesermittlung etwas in den Hintergrund, sodass Wilson zwar vollendet, mit großem Anspruch und überaus spannungsvoll das Krimi-Genre erweiterte – seine Aufmerksamkeit aber für meinen Geschmack zu sehr auf seinen gebrochenen Protagonisten richtete.

Im vorliegenden Folgeband „Die Toten von Santa Clara“ begegnet man einem immer noch etwas instabilen Falcón, der sich über die aktuelle Lage seiner Psyche nicht ganz sicher zu sein scheint und der sein ’normales‘ Auftreten tragikomisch auf seinen Tablettenkonsum zurückzuführen weiß. Nichtsdestotrotz scheint Falcóns Selbstbild wieder gefestigter und selbstsicherer, sodass er gleich zu Beginn der Ermittlung einen komplexen Kampf an mehreren Fronten aufnehmen kann.

Zunächst einmal begegnet er Consuelo Jimenéz, einer überaus beeindruckenden Frau, die in „Der Blinde von Sevilla“ eine bedeutende Rolle spielte. Weiterhin trifft er zum ersten Mal nach einem Jahr auf den Staatsanwalt Esteban Calderón, der mit Falcóns Exfrau Inés verbandelt ist und diese Beziehung demnächst vor dem Traualtar legalisieren will. Allein diese beiden Begegnungen bieten genug Zündstoff, um Falcóns aufgewühltes (Innen-)Leben auf Trab zu halten. Aber dann ist da letztlich noch dieser seltsame Todesfall, den die Staatsanwaltschaft allzu rasch als Selbstmord abhaken möchte.

Gerufen wird Falcón in das gepflegte barrio (Vorort) Santa Clara, wo der Bauunternehmer Rafael Vega nach der Einnahme von Abflussreiniger tot in der Küche aufgefunden wurde. Im Schlafzimmer findet man seine ermordete Frau Lucía. Die Tat wirkt wie ein typischer Selbstmordpakt, bei dem der Mann zunächst seine Frau und dann sich selbst tötet. Doch bei genauerer Betrachtung will nicht jedes Detail in dieses Szenario passen, und Falcón entschließt sich zu ermitteln.

Überaus seltsam scheint die Notiz, die bei dem Toten gefunden wird: ‚… in der dünnen Luft sein, die ihr atmet, vom 11. September bis zum Ende…‘ Mit diesem kryptischen, fast poetischen Hinweis auf das Datum eines Terroranschlags macht Falcón sich auf die Suche nach den Hintergründen im Umfeld der Toten, nach einem Motiv für einen eventuellen Mörder. Dabei trifft er in der Nachbarschaft der Vegas nicht nur auf besagte Consuelo Jimenéz, sondern auch auf das amerikanische Pärchen Krugman und den alternden Schauspieler Pablo Ortega.

Während sich im Verlauf der Ermittlungen Falcón immer wieder der Frage stellen muss, ob sein Instinkt ihn trügt und der Todesfall Vega vielleicht doch ’nur‘ ein Selbstmord war, offenbaren seine Befragungen die seltsamsten Erkenntnisse: So erfährt Falcón nach und nach, dass der Tote Vega in seiner Freizeit gern schlachtete, offensichtlich Kontakte zur Russenmafia pflegte und ein obskures Doppelleben zu verbergen schien. Falón erfährt, dass die Fotografin und femme fatale Madeleine Krugman ein Foto von einem völlig verstörten Falcón in ihrer Sammlung präsentieren kann. Desweiteren stürzt sich ein Nachbar in die Jauchegrube, die einst sein eigenes Haus war, und Falcón glaubt, er müsse sich um dessen Sohn kümmern. Ein Polizist begeht Selbstmord. Und wie auch noch der moderne Sklavenhandel, ein Netzwerk Pädophiler, die Russenmafia und Geheimdienste ins Spiel kommen, scheint schwer vorstellbar und wäre wohl bei vielen Autoren in eine schier unglaubliche Farce abgedriftet. Doch kann man beruhigt Robert Wilson vertrauen, der, wie es wohl die wenigsten Autoren vermögen, grandios aktuelles Weltgeschehen wie Historie in den Alltag seiner Figuren einflechten kann und dabei an Glaubwürdigkeit noch gewinnt.

Wer am Ende alle Ereignisse auf Haupt- und Nebenschauplätzen chronologisch zusammensetzt, erkennt, welcher Fülle an Verbrechen und Tätern Falcón auf die Spur kommt. Das aber gelingt Wilson in einem erstaunlich gemächlichen Tempo, bei dem die Kunst der Konversation im Vordergrund steht, sodass die Figuren an ungeahnter Tiefenschärfe gewinnen.

Einen minimalen Einwand möchte ich allerdings nicht verschweigen: Wilsons Frauenfiguren irritieren mich. Allesamt ein wenig überzeichnet und durchweg alle so reizvoll und lockend, wie das Weib nun einmal sein soll. (Die Ex-Nonne Ferrera, die nun in Falcóns Team ermittelt, einmal ausgenommen.) Zwar differenziert Wilson den Grad der Verlockung, doch bleiben die Frauenfiguren zu sehr Statistinnen, an denen sich die Herren abarbeiten dürfen. So kann man Falcón moralisch bald auf die Schulter klopfen, wenn er die Spielchen der femme fatale, die ihn eben noch reizte, schnell angewidert ablehnt. Und wer könnte nicht einen heißblütigen Staatsanwalt ob seiner tragischen Obsession ebenso beneiden wie bedauern oder gar verurteilen? Für Maddy Krugman zumindest, der wir von Beginn an nur ‚auf den Hintern schauen‘, hätte ich mir gern etwas mehr Substanz als das alte Spiel des Jagens und Gejagtwerdens gewünscht.

Der Stil von „Die Toten von Santa Clara“ scheint simpel, ist aber gesucht präzise und abgründig im Hinblick auf Details, die vor allem ein Panorama aufgewühlter Seelen unter der normal anmutenden Oberfläche offenbaren. Es ist famos, mit welcher subtilen Ruhe Falcón an den glänzenden Fassaden kratzt, bis der Schein von Glück, Frieden und Normalität einstürzt. Ein gekonnter Schachzug ist dabei die gewählte Kulisse des maravillosa Sevillas – der Stadt der Lebensfreude, die dem Leser sehr plastisch und verlockend vor Augen tritt, gerade weil Wilson hinter die Front der Fröhlichkeit schaut.

Die Bücher aus der Javier-Falcón-Serie bieten spannungsreiche Einsichten in weltliche Abgründe und sind ein absoluter Garant für beste Unterhaltung auf überdurchschnittlichem Kriminalroman-Niveau. Was das Genre Krimi betrifft, sind „Die Toten von Santa Clara“ eindeutig eine Steigerung zum ersten Band der Serie!

„Die Toten von Santa Clara“ sind im neu gegründeten Verlag |Page & Turner| als schön und einfallsreich gestaltetes Hardcover erschienen; ein spannendes Interview mit dem Autor zu diesem Text findet sich hinter folgendem Link: http://www.curledup.com/intrw2.htm.

© _Anna Veronica Wutschel_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.X-Zine.de/ veröffentlicht.|

Shan, Darren – Darren Shan

_Der britische kleine Vampir_

Die Ausgangsidee für die aus England stammende Reihe „Darren Shan“ ist vielversprechend. Ein Teenager, dessen Alter vom Autor nicht näher genannt wird, der aber schätzungsweise zwischen 12 und 14 Jahren alt sein wird, lebt ein normales Leben und wird im Zuge einiger Geschehnisse zu einem Vampir gemacht. Ein Traum vieler Kinder, die in ihren Fantasien zu gerne einmal über die Menge hinausragen, als etwas Besonderes gelten und nicht zuletzt mit übermenschlichen Kräften ausgestattet sein wollen.

Diese Idee – also die Ausstattung eines Kindes respektive Jugendlichen mit wundersamen Kräften – ist natürlich keineswegs neu und wurde gerade den jüngeren Lesern wohl auch durch Harry Potter näher gebracht. Aber warum auch nicht? Es geht bei Jugendbüchern zuallererst darum zu unterhalten, nicht wahr? Nicht jeder Autor muss es schließlich darauf anlegen große Literatur zu produzieren und auch eine Eingliederung in den – zuweilen recht überschwemmt wirkenden – Kanon der Trivialliteratur birgt doch gewisse Vorteile für den Autoren. Die Gleichung ist hier simpel: Trivialliteratur ist einfach und wenn etwas von vornherein als einfach deklariert wurde, so kann man prinzipiell auch schreiben, was man will, niemandem würde es einfallen, solch ein Werk von analytischen Gesichtspunkten aus zu betrachten. Wenn überhaupt, wäre der einzige Kritikpunkt an solcherlei niedergeschriebenem Wort, dass es doch zu kompliziert formuliert ist und der Leser dem ganzen Verlauf der Geschichte nicht zu folgen vermag. Gerade bei einem Jugendbuch soll ein Kind an die unterhaltenden Eigenschaften der gedruckten Medien herangeführt werden. Man will vermitteln, dass nicht nur Fernsehen und Computer zum modernen Zeitvertreib herangezogen werden können. Dass dies allerdings nicht alles so einfach ist, wie vom Autor offensichtlich angenommen wurde, darauf werden wir später noch eingehen müssen.

_Idee und Rahmenhandlung_

Was nun also „Harry Potter“ geschafft hat, dass kann auch ein anderer, kindlicher Protagonist mit übernatürlichen Fertigkeiten. Somit machte sich ein Autor unter dem Pseudonym „Darren Shan“ auf und begann eine Geschichte zu ersinnen. Diese Geschichte ist durchweg aus der Sicht des Protagonisten geschildert und wird somit in der ersten Person erzählt. Hierbei entspricht der Name unseres jungen Helden dem Pseudonym, das sich der Autor zugelegt hat, was kein Zufall ist, dient dies doch dazu, der ganzen Handlung einen autobiografischen Charakter zu verleihen. Im ersten Band, „Mitternachtszirkus“, wird dies noch zusätzlich durch ein vierseitiges Vorwort unterstrichen. In diesem umschreibt der Autor kurz, wie er aufgewachsen ist, was ihm als Neunjähriger widerfahren ist, und zu guter Letzt beteuert er, dass alle geschilderten Vorkommnisse auf wahren Begebenheiten basieren. Wir wollen das mal als ein stilistisches Mittel werten und hoffen, dass der Autor sich der Tatsache bewusst ist, dass das Sonnenlicht ihn nicht zu Asche verbrennen wird.

Die eigentliche Handlung der einführenden beiden Bände ist dabei schnell umrissen. Der erste Band „Der Mitternachtszirkus“ dient hierbei als eine weit ausholende Einleitung und schildert auf den ersten Seiten den Schulalltag unseres zukünftigen Vampirs. Schnell wird dann zum titelgebenden, Aufsehen erregenden Event in der kleinen Stadt, die Darren seinen Heimatort nennt, herübergeschwenkt. Eine geheimnisvolle Freakshow, der besagte Mitternachtszirkus, auch einfach „Cirque Du Freak“ genannt, ist in der Stadt erschienen. Wir wollen im Übrigen nicht darauf eingehen, dass das Wort „Freak“ im Französischen nicht existiert und dort „mordu“ heißt. Natürlich will Darren mit seiner Clique die Show besuchen. Es ist vorprogrammiert, dass nicht alles so läuft, wie es soll, aber letztendlich gelingt es ihm und seinem Freund Steve dann doch an einem Abend, den Zirkus zu besuchen.

Einer der Akteure entpuppt sich dabei als Vampir und auch der Rest der Show ist mehr denn eigenartig. Im Laufe der Ereignisse ist Darren dann gezwungen, selber zum Vampir zu werden, oder besser gesagt: zum Halb-Vampir – nun ja, es ist nun mal ein Jugendbuch, lassen wir es also dabei. Diese Transformation nimmt er dabei auf sich, um seinem Freund das Leben zu retten. Im Endeffekt endet der erste Band damit, dass Darrens fingierter Tod inszeniert wird, so dass er schweren Herzens seine Familie verlassen kann.

Im zweiten Band, „Die Freunde der Nacht“, muss er dann mit seinen erwachenden Kräften zurechtkommen und lernen, sich mit seinem neuen Zustand zu arrangieren. Der zentrale, wichtige Punkt der Handlung ist hierbei seine Unzufriedenheit mit dem Zustand als Vampir, insbesondere will er kein Menschenblut trinken. Das fasst im Prinzip den zweiten Band bereits zusammen, denn dieser ist ein Flickstück aus scheinbar zusammenhangslosen Episoden, die Darren zusammen mit seinem Meister durchlebt. Teilweise sind dies Erlebnisse, die nur die beiden betreffen, und später dann einzelne, kleinere Geschichten im „Cirque Du Freak“. Dem Ganzen wird ein grober Rahmen verliehen, der den Anschein des Zusammenhangs wahren soll, doch besteht bereits die besagte Problematik, dass die gesamte Handlung aus Darrens Unwillen, das Blut eines Menschen zu trinken, besteht und natürlich aus seinen Problemen in der Gesellschaft der normalen Menschen. Dieser grobe Rahmen ist hierbei vornehmlich der Aufenthalt unseres Helden im Cirque Du Freak.

_Erster Eindruck_

Was soll man nun von „Darren Shan“ halten? Zum einen muss man es dem Autor lassen, dass er gewiss flüssig zu schreiben vermag. Vor allem als kindgerecht muss man die Sätze, die er niederschreibt, bezeichnen. Wenig komplizierte Konstrukte und nur einfache Nebensätze, keinerlei Schachtelsätze. Dies ist natürlich überaus positiv zu erwähnen. Ein Heranwachsender kann den Sätzen gut folgen und die Handlung kommt meistens durch derartige Konstrukte gut voran. Es wird dabei dem Leser viel Fantasie abverlangt; so wird das Innere eines Wohnwagens mit einem einzigen Satz beschrieben. Dies mag auch den geringen Umfang eines jeden Buchs erklären, der sich durchschnittlich auf ca. 260 Seiten beziffert. Es kommen allerdings auch ausführlichere Beschreibungen von Szenerien vor. Diese werden dann dem Leser, entsprechend aus der Position des Ich-Erzählers, in kindgerechten Worten dargelegt.

Es soll aber nicht unerwähnt bleiben, dass der Autor seinen auf ein jüngeres Lesepublikum ausgerichteten Stil nicht immer durchhält. Vereinzelt verirren sich doch Vokabeln in den Text, die weder in Kinder- noch in Jugendbüchern etwas zu suchen haben, es sei denn man will seine jungen Leser gehörig verwirren. Um ein Beispiel anzuführen: |“»Bleib anständig«, deklamierte er. »Töte nur im Notfall,….«“|. Das Wort „deklamiert“ ist wohl kaum der breiten Allgemeinheit geläufig, geschweige denn einem Zwölfjährigen. Es zeigt sich also eine gewisse Inkonsequenz des Autors bezogen auf seinen Stil und seine Formulierungen.

Schön wird in den beiden Romanen die Wankelmütigkeit eines jungen Teenagers beschrieben, insbesondere in „Der Mitternachtszirkus“ hat man fast das Gefühl, der Autor wäre selber noch ebenso jung, wie er dies in seiner Rolle unter dem Pseudonym als Darren Shan vorgibt. Da versucht Darren in einem Moment unglaublich erwachsen zu sein, benimmt sich wie „einer der Großen“, wie es immer so schön heißt, um dann im nächsten Moment mit seiner kleinen Schwester Bett-Tennis spielen zu wollen.

Auch der amüsante Dialog zwischen Darren und Steve, wenn sie ihre Pläne schmieden, die Show zu besuchen, spiegelt durchaus wirksam die Gedankenwelt eines Jungen wieder, der gerade erst in die Pubertät gekommen ist. So unterhalten sie sich zwei Seiten lang so, als wären sie Soldaten, die sich gerade marschbereit machen, um in den Krieg zu ziehen.

Die Gedanken, die dem zum Vampir gewordenen Darren durch den Kopf gehen, als er sein Resümee zieht über seine – durch die neuen Vampirkräfte unterstützen – Erfolge beim Weitwurf, eignen sich hier hervorragend, um zitiert zu werden. |“Eines Tages maß ich meinen Wurf, schlug dann in einem Buch nach und stellte fest, dass ich einen neuen Weltrekord aufgestellt hatte! Zuerst war ich ganz aufgeregt, aber dann viel mir ein, dass ich es niemanden erzählen konnte“|. Diese Worte stellen recht eindrucksvoll die Naivität und Unumsichtigkeit unseres jungen Protagonisten dar. Der Enthusiasmus eines Jungen gepaart mit den vereinfachenden Ansichten eines Kindes.

_Logik und Stil_

Es muss allerdings auch gesagt werden, dass offenbar der Autor seine Rolle als kleiner Junge etwas zu ernst genommen hat. Einige Eigenarten des Buchs werden zwar durch das nicht näher genannte Alter des Helden entschärft und weniger auffällig, wirken aber bei näherer Betrachtung trotz allem noch fehl am Platz. So ist zum Beispiel die Wahl von Worten wie: „Wöaaaarch“, „cool“, „gepiekst“, … gerade noch im Bereich des Akzeptablen, immerhin reden wir hier von einem Buch für Kinder. Auch wenn man sich fragen sollte, ob man nicht zumindest im geschrieben Wort solch ein Vokabular auf die wörtliche Rede beschränken sollte, wenn man übliche Dialoge aus dem Alltagsleben beschreiben will. Der Autor nutzt sie hier hingegen auch als Stilelemente mitten im Text; es wäre interessant zu wissen, welcher Lehrer Derartiges in einem Aufsatz zulassen würde – ich jedenfalls nicht. Demnächst findet man noch Smileys innerhalb eines Romans vor, nur um witzige Stellen etwas mehr hervorzuheben. Gerade die Zielgruppe, für die die Darren Shans Romane bestimmt sind, sollte eigentlich solchen sprachlichen Fallgruben nicht gegenüberstehen müssen, befinden sich die Kinder doch noch in einer frühen Phase des Lernens und sollten entsprechend mit guten Beispielen versorgt werden. Vereinzelt mögen solche Lautmalereien und Kindervokabularien auch als Stilmittel gelten, doch darf man ganz einfach das Ganze nicht zu sehr ausreizen.

Auch eine übertragend gemeinte Beschreibung wie |“… jede Fußbreite des Weges war ihm bekannt wie die Schlinge eines Kreuzknotens“| wirkt irgendwie deplatziert. Hieran erkennt man einen noch jungen Autoren. Der ganze Vergleich wirkt ein wenig „gewollt“. Zwar wird dieser von einem Pfadfinderführer gezogen, der wohl mit Kreuzknoten vertraut sein sollte, aber ist die Anwendung dieses Stilmittels hier recht eigenwillig. Zum einen sind Knoten bekannt als Sinnbilder der Verwirrung und Orientierungslosigkeit und zum anderen sagt für einen Nicht-Pfadfinder dieser Vergleich kaum etwas aus. Glücklicherweise ist dies eine der wenigen Stellen, an denen solch ein sprachlicher Ausrutscher vorzufinden ist.

Viel schlimmer mutet aber hingegen die Erosion jeglicher Logik in einigen Passagen der Romane an. Werden in Harry Potter mystische Wesen eingeführt, deren Fähigkeiten und bloße Existenz unseren Erkenntnissen im Bereich der Physik und Biologie entgegenstehen, so kann man sich doch mit ihnen abfinden. Denn Magie ist hier die gängige Begründung und erklärt feuerspeiende Drachen und ähnliche Fähigkeiten. Auch magische Wesen und Mutanten in der Vielzahl von Werken der Trivialliteratur – und auch in einigen Fantasy- und Sci-Fi-Werken, die ich gerne eher zur Kategorie der Unterhaltungsliteratur zählen würde – sind durchwegs erklärbar, wenn man gewillt ist, sich auf den Roman einzulassen. Wir werden in unserer Rolle als Leser – und somit Beobachter des Geschehens – schlichtweg in andere Dimensionen oder Welten entführt. Handelt es sich nicht um andere Welten, so gibt es doch eine grundlegende, stets mit Interesse zu beobachtende Regel, die durchdringend alle Romane zeichnet, die – scheinbar – in unserer Welt spielen.

Betrachten wir nur die Vampir-Romane, denn um einen solchen handelt es sich hierbei ja schließlich. Alle diese Werke, wie zum Beispiel die von Anne Rice, aber auch der ewige Klassiker und Ursprungsroman „Dracula“ von Bram Stoker, beherbergen Logik und Anlehnung an die Gesetze der Physik. Das Wie und Warum eines Vampirs werden meistens grob erklärt, aber immer wird die Unlogik und scheinbare Unmöglichkeit eines solchen Wesens mit Magie, einem Gottesfluch oder anderen undefinierbaren Phänomenen umgangen.

Auf die Existenzfrage wird zumindest in den ersten beiden Darren-Shan-Romanen nicht eingegangen, was aber auch kein wirkliches Problem darstellt. Niemand stellt als begründendes Axiom für die Qualität eines Romans über Vampire die Regel auf, dass man die Existenz des vampirischen Daseins erklären muss. Aber man darf sich, ob mit oder ohne grundlegende Erklärungen, nicht in Scheinlogik verlieren, wenn man versucht, einen Roman zu verfassen. Es gibt nichts Schlimmeres als beim Leser den Anschein zu erwecken, dass man ihn „für dumm verkaufen“ will. Dabei ist es unerheblich, ob der Leser ein Kind ist oder ein Erwachsener.

Einer der Höhepunkte der Absurdität ist eine Spinne, die im Roman als solche bezeichnet wird, als solche angesehen wird und von allen umstehenden Menschen auch als solche ohne Widerspruch akzeptiert wird. Wir gehen also davon aus, dass es sich zumindest äußerlich um eine Spinne handelt und diese demnach die anatomischen Merkmale einer Spinne besitzt. Da diese Spinne sich auch auf der Schulter einer Person niederlassen kann, wird sie auch eine normale Größe besitzen, sie ist also nicht so groß wie ein Pferd oder dergleichen.

Fängt nun dieses Tier an, mit Messer und Gabel zu essen und Käse und Schinken zu verspeisen, dann fragt sich der mündige Leser, ob er plötzlich in einem Märchen gelandet ist. Anatomisch kann eine Spinne keine Messer und Gabel benutzen, sie ist anatomisch auch nicht in der Lage, Schinken und Käse zu essen und vor allem ist sie anatomisch dazu nicht in der Lage, Strecken auf nur zwei Beinen zu laufen oder sich vor jemandem zu verbeugen. Doch dies wird so im Laufe des ersten Buchs beschrieben.

Das Paradoxe an dem ganzen Sachverhalt ist, dass man normalerweise als Leser von Fantasy-Literatur dazu neigt, viele dieser Dinge normalerweise zu akzeptieren, z. B. wäre es ein Einfaches zu erklären, dass diese Spinne keine Spinne ist, ein Maul mit Zähnen besitzt und außerdem kleine, feine Hände, Klauen oder Ähnliches besitzt. Derartige Erklärungen werden uns aber nicht geliefert. Wir müssen in unserer Rolle als Leser,einfach kauen, runterschlucken und versuchen, das Verdaute nicht wieder hochzuwürgen. Lächerlich wirkt dazu noch, dass es allen Menschen, inklusive Darren Shan, ganz normal erscheint, wenn Leute telepathische Fähigkeiten haben, dies wird einfach mit einem Schulterzucken abgetan. Keine Reaktion zeigt sich, noch nicht einmal ein kindliches Staunen oder Anhimmeln von Leuten mit solchen Fähigkeiten, genau so wenig wie das Aufkommen von Furcht. Nichts davon scheint zu passieren, es scheint ganz normal zu sein, wie es auch die Spinne ist, über die sich nicht näher gewundert wird, die allerhöchstens bestaunt wird wie ein gut dressiertes Tier, als ob man jeder Spinne diese Tricks mit viel Geduld und Können beibringen könnte …

Versucht man das gerade Erlebte noch zu verdauen, so werden an anderer Stelle hingegen sogar Erklärungen abgeliefert. Doch führen diese eher zu der Überlegung, ob der Autor einen guten Witz machen will. In Kombination mit den kleineren, normalerweise für sich betrachtet verzeihlichen kleinen Logikfehlern, wirkt das Ganze aber nicht mehr sonderlich humorvoll. Denn dass ein Vampir von Sonnenlicht verbrannt wird, viel stärker als ein Mensch ist, verdichtete Knochen hat und bei Nacht sehen kann, erscheint im Kosmos eines Fantasyromans akzeptabel. Auch ist nachvollziehbar, dass manche Leute telepathische Fähigkeiten haben. Gerade durch die nicht vorhandenen Erklärungen ist dies nämlich alles kein Problem, man denkt sich einfach, es ist mal wieder Magie im Spiel und akzeptiert einfach das Gelesene. Ohne jegliches Murren oder jegliche Kritik.

Doch was geschieht? Die Frage nach der Verwandlung in eine Fledermaus, von Darren an seinen Meister gestellt, wird dann aber mit Lachen von diesem beantwortet: |“»Eine Fledermaus?«, gellte er. »Glaubst du wirklich an diese kindischen Geschichten? Wie um alles in der Welt könnte sich jemand von deiner oder meiner Größe in eine kleine, fliegende Ratte verwandeln?«“| Falls dies eine amüsante Szene sein sollte, so ist diese von mir nicht so empfunden worden. Wo bleibt Konsistenz und Logik in der Handlung? War die einfache Begründung, dass dies ein Mythos ist und ein Vampir zu einem solchen Trick nicht fähig ist, einfach zu viel des Guten? Alle oben aufgelisteten Fähigkeiten sind akzeptabel aber dies nicht oder was? Fängt der Autor nun plötzlich an, mit der Physik zu argumentieren?

Noch schöner wird es durch einen anderen, recht groben Patzer seitens des Autors. Kann man sich oben noch knapp herauswinden und behaupten, dass dies nur die verdrehte und halt schlichtweg unlogische Begründung eines alten Vampirs war, der sich in den letzten Jahrhunderten keine Gedanken über den oben allegierten Sachverhalt gemacht hat, so kommen wir zum alten „Spiegelbild-Problem“. Mit viel gutem Willen könnte man sogar wirklich noch erklären, wie man die Kräfte eines Vampirs begründen kann und dadurch die Aussage, dass die Verwandlung in eine Fledermaus nicht funktioniert, nach mehrfachem Überdenken auch auf sich beruhen lassen. Leider jedoch ist es mit der Fledermaus-Angelegenheit nicht getan.

Bei „Darren Shan“ haben die Vampire ein Spiegelbild. Dagegen ist nun nichts einzuwenden. Abstrus wird es allerdings, wenn versucht wird zu erklären, dass man Vampire nicht fotografieren und auch nicht auf Video aufzeichnen kann, darauf wären sie nicht zu erkennen. Wir wollen hier nun nicht auf physikalische Feinheiten eingehen, aber prinzipiell kann alles, was ein Spiegelbild hat, in irgendeiner Form auch fotografiert und vor allem auf Video aufgezeichnet werden.

_Fazit_: Darren Shan ist kindgerecht, was die Qualität der Romane angeht, aber mehr sollte man definitiv nicht erwarten, sonst wird man bitterböse enttäuscht. Schon ein reifer Zwölfjähriger wird wohl einige Stellen nur stirnrunzelnd über sich ergehen lassen. Über kleinere sprachliche Mängel mag man da hinwegsehen, wenn ich auch auf die eher unschönen Elemente, die in den Text verflochten sind, hoffentlich deutlich hingewiesen habe.

Henry Kolarz – Nachts um 4 wird nicht geklingelt

Im Jahre 1959 sitzen im Zuchthaus Ivy Bluff, gelegen im US-Staat North Carolina, 37 Kapitalverbrecher der unverbesserlichen Sorte ein. Hier sollen sie nicht rehabilitiert, sondern weggeschlossen und mit jenem Eifer bestraft werden, der für die gesetzestreuen und frommen Bewohner der Südstaaten typisch ist. Die Männer hinter Gittern müssen im Steinbruch schuften, werden mit einem Brei aus Schweineleber und Maismehl gefüttert, dürfen nicht lesen, rauchen oder entspannen, werden von abgestumpften, tückischen Wächtern misshandelt. Ihre berechtigten Proteste verhallen ungehört.

An einem kalten Dezembertag wagen 19 Männer den Ausbruch. Mörder, Vergewaltiger, Bankräuber, Psychopathen sind es, die Ivy Bluff den Rücken kehren. Wie Tiere hat man sie gehalten, sie haben nichts zu verlieren, sind zu allen entschlossen. Blitzschnell zerstreuen sie sich in alle Himmelsrichtungen, springen auf Güterzüge, stehlen Autos oder verkriechen sich in abgelegenen Schlupfwinkeln. Sie nehmen Geiseln, sie rauben und töten.

Angst greift unter den braven Bürgern Amerikas um sich. 19 tollwütige Teufel treiben ihr Unwesen! Starke Männer schlafen mit der Waffe in der Hand, Mütter, Hausfrauen und behütete Töchter weinen und trauen sich nicht mehr aus dem Haus. Glücklicherweise ist das Gesetz stark in Amerika. Gottes kriminalistische Zuchtrute auf Erden – FBI-Chef J. Edgar Hoover – setzt seine besten Männer auf den Fall an. Sie rasten und ruhen nicht, treiben die Strolche, denen die Knie zittern, wenn das Wort „FBI“ fällt, in die Enge. Aber der Teufel sorgt trotzdem für die Seinen: Obwohl Polizisten jeden Stein umdrehen und auch redliche Bürger ihre Nachbarn noch schärfer als üblich – es könnten ja Kommunisten sein – im Auge behalten, schlüpfen einige Schufte ihren Verfolgern durch die Maschen. Wochen und Monate vergehen, in denen das Lumpenpack für Angst & Schrecken sorgt, bis letztendlich das Gesetz obsiegt …

Henry Kolarz schrieb seinen „Roman nach Tatsachen“ im Jahre 1961. Dem Buch ging eine Reportageserie für die Illustrierte „Stern“ voraus, für die der Verfasser angeblich vor Ort recherchierte. Theoretisch muss er also über Fakten und Hintergründe informiert gewesen sein. Für den Roman beschloss Kolarz indes diese zugunsten der Spannung weitgehend zu ignorieren.

Jeder billige Trick ist ihm dabei recht. Der Ausbruch von Ivy Bluff ist in seinem historischen Ablauf recht gut belegt. Besagte Fakten sprechen eigentlich für sich. Kolarz sucht jedoch das menschliche Drama. Ihn interessiert das Verhalten von 19 verzweifelten, gefährlichen Männern auf der Flucht. Was treibt sie, was fühlen sie, wie gehen sie miteinander und mit den Menschen um, die sie immer wieder treffen? Das sind gute Fragen, die der Verfasser freilich nie gestellt zu haben scheint. Er nutzt das Ivy-Bluff-Geschehen stattdessen als Aufhänger für ein Thrillergarn, das als Vorlage für ein zeitgenössisches B-Movie dienen könnte.

Effekthascherei und moralinsaure Klischees bestimmen die Handlung. Kolarz’ Amerika ist die Kulisse, in der auch die „Jerry Cotton“-Filme der 1960er Jahre gedreht werden. Von einem echten Verständnis für Land und Leute kann nicht die Rede sein. Die Figuren denken und reden in Phrasen. Die Story orientiert sich nur lose an den tatsächlichen Ereignissen. Kolarz „interpretiert“ und interpoliert, erfindet ganze Handlungsstränge so, dass sie ins von ihm geschaffene Gesamtbild passen.

Dieses ist eindeutig der Sensationslust verpflichtet. Allen Ernstes versucht Kolarz seinen Leser weiszumachen, dass 19 Verbrecher ein Land von der Größe der Vereinigten Staaten terrorisieren könnten. Tatsächlich waren die Männer von Ivy Bluff der Justizmaschine, die ihr Ausbruch in Gang setzte, nie gewachsen. Die meisten Häftlinge wurden rasch gefasst. Dass andere länger frei blieben, lag eher an der Unfähigkeit ihrer Jäger und der Tücke des Objekts als an ihrem kriminellen Geschick.

Natürlich kann auch keine Rede von einer „Blutspur“ sein, welche die Ausbrecher durch das Land zogen. Auch Kolarz kann nicht leugnen, dass diese neue Verbrechen fast ausschließlich begingen, um ihre Flucht fortsetzen zu können. Er versucht das zu vertuschen, indem er die Flüchtlinge ständig streiten, fluchen und ihren Opfern mit „Umlegen“ drohen lässt – kindisches Gehabe, das wohl nur Filmgangster an den Tag legen. Dazu passt ein Stil, der dokumentarische Sachlichkeit mit der naiven Nachäffung dessen mischt, was der Autor für „hartboiled“ hält. War er tatsächlich vor Ort? Hat er mit Amerikanern gesprochen? Sich umgesehen? Das zu glauben fällt wie gesagt sehr schwer.

Schwarz-Weiß-Malerei betreibt Kolarz auch in der Figurenzeichnung – dies sogar buchstäblich: Mit unerfreulicher Geschmeidigkeit macht sich der Autor den Rassismus der US-Südstaaten zu Eigen. Oder liegt er womöglich auf ähnlicher Linie? Geradezu niederträchtig setzt Kolarz auf rassistische Klischees, um seinem Thriller Schwung zu verleihen. Dabei achtet er sorgfältig darauf, entsprechende Äußerungen stets seinen Ausbrecherfiguren in den Mund zu legen – es sind schließlich Schwerverbrecher, denen man jede Schlechtigkeit zutrauen darf.

Also ist es Gangster Anderson, der die „Neger“ (das durfte man 1961 problemlos schreiben) für die Leser folgendermaßen über den Kamm schert: „Stinken, fressen, und ‚rumhuren – das ist alles, was die können.“ (S. 36) Doch es ist Kolarz, der auf den folgenden Seiten alles daran setzt, diese bösen Unterstellungen mit Leben zu füllen. William Shaw, dessen Porträt (zusammen mit den Fotos seiner Komplizen) auf dem Cover der deutschen Erstauflage abgedruckt ist und alles andere als eine Galgenvogelphysiognomie aufweist, wird bei ihm zum hässlichen, blöden, brutalen, verfressenen und vor allem ewig geilen Unhold, der es auf „unschuldige“ weiße Frauen abgesehen hat, bei deren Anblick „seine Zunge feucht aus den dicken Lippen schoss“ (S. 67). Selbst seine Kumpane ekeln sich vor ihm und prügeln den „Nigger“ tüchtig, damit er sich „benimmt“.

Auch sonst bedient Kolarz gern alle einschlägigen Vorurteile. Wenn Ausbrecher Stewart einen schwarzen Eisenbahnarbeiter überfällt, um dessen Kleidung zu rauben, wird dies so eingeleitet: „Ein Neger richtete sich schlaftrunken im Bett auf und glotzte Stewart blöde an … ‚Ich hab’ nichts verbrochen, Massa!'“ (S. 39). Später gerät Stewart in New York unter die „Portoricaner“ – gemeint sind Zuwanderer von der Karibik-Insel Puerto Rico. Die schildert Kolarz als „Halbaffen“, welche „ihren“ Stadtteil fest im Griff haben und gegenüber den alteingesessenen (natürlich weißen) Bürgern unverschämt auftreten: „Jetzt haben sie sich auf der ganzen Westseite eingenistet … Zu Hause auf ihrer Insel hätten sie arbeiten müssen, aber hier gibt man ihnen fünfunddreißig Dollar in der Woche Unterstützung. Und die Behörden wagen es nicht, sie hart anzufassen. Ihre Stimmen können Wahlen entscheiden.“ (S. 157) Also: Vorsicht vor Fremdlingen, deutsche Leser, auf dass es uns nicht ebenso ergeht! (Ach ja: Und um 4 Uhr morgens liegen ordentliche Menschen im Bett – es muss also ein Strolch sein, wenn es um diese unchristliche Zeit an der Tür klingelt!)

Wohl unfreiwillig gelingt Kolarz das Kunststück, in seinem Roman nicht eine sympathische Figur auftreten zu lassen. Seine Ausbrecher sind selbstverständlich vertierte Rohlinge, die nichts als Raubmord & Vergewaltigung im Kopf haben. Wenn’s aber zur Sache geht, werden sie eigenartig zimperlich – Pech für Kolarz, dass die 19 Unholde nachweislich nur einen Mann umbrachten. So muss er sie über weitere Schreckenstaten eben fantasieren lassen.

Möglichst deutlich soll der Unterschied zwischen Abschaum und Vorschriftsbürger ausfallen. Der US-amerikanische Durchschnittsjoe würde sich nach Kolarz dem Terror nichtswürdiger Strolche normalerweise niemals beugen und diese unerschrocken Mores lehren. Leider steht ihm in der Regel eine schwache Frau im Weg, die beschützt werden muss und dabei heftig klammert. Kolarz-Frauen sind ängstlich, willenlos, abhängig von „ihrem“ Mann/Vater/Bruder. In der Krise zerfließen sie in Tränen, verfallen in blinde Panik und sind auch sonst die reinste Landplage.

Das Gesetz repräsentieren nach Kolarz ausschließlich aufrechte, unbestechliche Männer, die das Verbrechen mit Leib und Seele hassen. Ist ein Mensch kriminell geworden, so trägt er selbst die Schuld daran. Aufgabe der Polizei ist es, ihn zu verfolgen und zu fassen. Will er nicht aufgeben – umso besser: Gefangene werden ungern gemacht; man spart dem Staat gutes Geld, wenn man solches Pack umgehend austilgt.

Die Elite der Strafverfolger bildet „FBI“, von Kolarz penetrant ohne Artikel genannt. Stellvertretend für dessen Mitarbeiter stellt uns der Verfasser Mike Pastrato vor, „41 Jahre alt, Besitzer eines bis auf einen kleine Rest abbezahlten Hauses im Villenviertel und Vater von drei Kindern, die davon träumen, später auch einmal FBI-Agenten zu werden.“ (S. 45) Nach dem Mittagessen zieht Mike stets ein frisches Oberhemd an; ein halbes Dutzend Hemden hängt in seinem Aktenschrank. Ja, das sind die Menschen, die Amerika zu dem machen, was es geworden ist: manisch sauber, fleißig, angepasst & wie ein Zahnrad funktionierend.

So ließe es sich leicht viele Seiten weiter schimpfen und schaudern, doch es soll an dieser Stelle genug sein. „Nachts um 4 wird nicht geklingelt“ sollte heute, mehr als vier Jahrzehnte nach seiner Entstehung, ganz sicher nicht als Tatsachenbericht, sondern als (schlechter) Roman gelesen werden. Miserable Thriller gibt es allerdings auch in der Gegenwart mehr als genug. Wieso also Zeit an diesen alten Schinken verschwenden?

Weil „Nachts um 4 …“ inzwischen selbst zum Zeitdokument geworden ist. Anders ausgedrückt: Hier redet der Zeitgeist, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. 1961 ist noch nicht gar so lange her – und 1961 lag 1945 gerade 16 Jahre zurück. Da erstaunt die Offenheit, mit der „Neger“ und „Portorikaner“ unverhohlen dämonisiert und letztlich entmenschlicht werden, ohne dass sich jemand dadurch gestört gefühlt hätte. Insofern ist auch „Nachts um 4 …“ ein weiteres Indiz dafür, dass 1945 für das „deutsche Wesen“ keinen glatten Schnitt und Neuanfang bedeutete.

Interessant ist darüber hinaus die schlichte Schwarzweißsicht, die Kolarz einem ganzen Kontinent aufprägt, wobei er Amerika schreibt aber Europa bzw. Deutschland meint. Die Obrigkeit hat immer Recht, also gehorche ihr als Bürger und sei ihr dienstbar. Wer nicht mitspielt, macht sich als Außenseiter verdächtig und steht bereits mit einem Bein im Gefängnis. Ist man dort angelangt, hat man seine Menschenrechte verwirkt und ist eine Bestie, die am besten abgeknallt wird; in der Tat hat man den Ausbrecher Yank Hensley von Amts wegen zum Vogelfreien erklärt: Jeder brave Bürger durfte ihn ohne Warnung niederschießen. Es fällt schwer zu glauben, dass dies in einem zivilisierten Land unter „Rechtsprechung“ fiel.

Aber mit Recht & Gesetz ist das in den USA seit jeher eine besonders Sache … Ivy Bluff selbst ist ein gutes Beispiel dafür. Diese Einrichtung nimmt auf der Liste der historischen Justizirrwege, die in den USA begangen wurden, einen der oberen Plätze ein. 1956 wurde diese Strafanstalt speziell für verurteilte Verbrecher gegründet, die als „zu schwierig“ für „normale“ Gefängnisse eingeschätzt wurden, weil sie zur Gewalt gegenüber Wärtern und Mithäftlingen, Ausbrüchen oder sonstigem unkooperativen Verhalten neigten. In Ivy Bluff sollten sie zur Raison gebracht werden und nachdrücklich büßen, was sie der Gesellschaft angetan hatten. Dies betrieben die Betreiber mit einer Inbrunst, die 1959 gleich die Hälfte der Insassen zum Ausbruch aus der angeblichen Hochsicherheitseinrichtung trieb.

Sie wurden wieder gefangen, aber die Tage von Ivy Bluff als Gefangenenlager im mittelalterlichen Stil waren gezählt. Selbst gesetzestreue Bürger waren schockiert, als im Zuge der Ermittlungen herauskam, wie die Häftlinge hier gehalten und be- oder besser misshandelt wurden. (Hätten sie es nicht erfahren, wäre es ihnen sicher gleichgültig gewesen.) 1963 wurde aus Ivy Bluff „Blanch Prison“, eine Einrichtung für kranke Gefangene, die natürlich nicht mehr zur Zwangsarbeit antreten mussten. 1983 wandelte man Blanch eine Strafanstalt für Jugendliche um, die während ihrer Haftzeit in anderen Gefängnissen in Schwierigkeiten gerieten. 1999 wurde Blanch geschlossen.

Henry Kolarz, geboren 1927 in Berlin, schlug bereits in jungen Jahren die journalistische Laufbahn ein. Für diverse Illustrierten verfasste er mehrteilige Reportagen und spezialisierte sich dabei auf kriminalistische Themen. Storys wie „Nachts um 4 wird nicht geklingelt“, „Wenn Joseph nicht gesungen hätte“ oder „Der Tod der Schneevögel“ arbeitete Kolarz später in recht erfolgreiche „Tatsachenromane“ um. Den Durchbruch brachte ihm seine „Nacherzählung“ des berühmten englischen Postraubs von 1963, die unter dem Titel „Die Gentlemen bitten zur Kasse“ auch für das Fernsehen verfilmt und zu einem bekannten „Straßenfeger“ wurde.

In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre verlagerte Kolarz seine schriftstellerische Arbeit und verfasste mit „Kalahari“ einen ersten „echten“ Roman bzw. Politthriller, dem er 1981 „Die roten Elefanten“ (1986 als siebenteilige TV-Serie verfilmt) folgen ließ. Kolarz, der am 12. Oktober 2001 in Hamburg starb, schrieb darüber hinaus diverse Drehbücher für Fernsehdokumentationen und Krimis (u. a. für „Tatort“).

Denning, Troy – Hexenmeister, Der (Die Rückkehr der Erzmagier 3)

Band 1: [„Der Ruf“ 1945
Band 2: [„Die Belagerung“ 1979

In meinen vorherigen Rezensionen zu dieser Reihe hatte ich mich bereits ausführlich über den zwiespältigen Eindruck, den diese Trilogie bis dato hinterlassen hatte, geäußert. Und daran soll sich auch mit dem letzten Teil von „Die Rückkehr der Erzmagier“ nichts mehr ändern; Troy Dennings Geschichte um den Schattenmagier Melegaunt und den Elfen Galaeron hat auch im finalen dritten Teil weiterhin viele temporeiche Passagen, gleichermaßen aber auch wieder einige Hänger, die der Spannung zwischenzeitlich den Nährboden entziehen.

_Story_

Die Lage um die Stadt Immereska ist immer noch sehr brisant; weiterhin ist man der Bedrohung durch die dämonischen Phaerimm ausgesetzt, und auch die Bewohner der schwebenden Stadt Umbra rechnen sich noch Chancen auf den Sieg in dieser Dreifrontenschlacht aus. Der Schutzwall um die Stadt wird immer schwächer, und durch eine furchtbare Naturkatstrophe werden die umliegenden Ländereien samt ihrer Truppen dem Erdboden gleich gemacht. Doch auch die Umbravar sind infolge der heftige Gefchte in ihrer Zahl stark dezimiert worden und verfügen kaum noch über Reservetruppen.

Für die Elfen spitzt sich die Lage zu; die Rettung durch weitere Soldaten wartet außerhalb des magischen Ringes von Immereska, doch sollte man auf diese Unterstützung zurückgreifen, stärkt man gleichzeitig auch wieder die Macht der Phaerimm, die dann wieder ihre Sprüche wirken könnten. Um sich der Feinde dennoch zu entledigen, entwickeln die Elfen gemeinsam mit den verbündeten Vaasi einen Hinterhalt, mit Hilfe dessen sie die Phaerimm in geringen Mengen besiegen können. Ihre Anführerin Keya ist gleichzeitig Galaerons Schwester, und ihre Waffe ist das gefürchtete Schattenschwert, das sich als das nützlichste Mittel im Kampfe gegen die Feinde herausstellen soll.

Während Keya mit ihrer Truppe der kalten Hand die Phaerimm bekämpft, begibt sich Galeron in die schwebende Stadt, in der immer noch die Menschenfrau Vala gefangen gehalten wird. Auch der mysteriöse Malik, der aufgrund eines Eides dazu verdammt ist, stets die Wahrheit zu sprechen, hält sich hier als Berater des Anführeres der Umbravar auf. Auf Galeron ruhen jetzt die letzten Hoffnungen, denn er alleine ist es, der die Schlacht an den drei Fronten zugunsten der Allianz der freien Völker wenden und entscheiden und gemeinsam mit seinen mächtigen Verbündeten die Bedrohung von Faerun abwenden kann. Allerdings bleibt ihm nicht mehr viel Zeit, die Umbaravar zu besiegen, denn auch an anderer Stelle gelangt der Krieg in seine entscheidende Phase …

_Meine Meinung_

Ich habe gerade beim Verfassen der groben Inhaltsangabe bemerkt, wie hektisch diese geraten scheint, aber genau diese Hektik wird vom letzten Teil dieser Trilogie auch vermittelt. Das Buch ist im Vergleich zu seinen beiden Vorgängern zwar weitaus temporeicher, doch ist dies bei der Masse an unterschiedlichen Szenarien auch dringend erforderlich gewesen. Der Haken an der Sache ist jedoch die angesprochene Hektik, die sich durch die Fülle an entscheidenden Handlungsschwerpunkten ergibt. Wenn ich mich nun an den ersten Teil „Der Ruf“ zurückerinnere, wirkt das alles ziemlich paradox.

In diesem Band hatte Denning noch übermäßig lange damit zugebracht, die Handlung auf Trab zu bringen, weil ihm die ewig währende Einleitung wichtiger erschien. Und genau dieser dort verschenkte Raum fehlt ihm nun im letzten Teil. Der Autor ist gezwungen, die Dreifrontenschlacht, Galaerons heimliche Liebesgeschichte und dazu die Einführung von neuen Charakteren unter einen Hut zu bekommen, was ja eigentlich noch problemlos vonstatten gehen könnte. Doch gleichzeitig hat er auch noch die schwere Aufgabe zu erfüllen, sich neue Wendungen für den Krieg zwischen Umbravar, freien Völkern und Phaerimm auszudenken, damit diese Schlacht auch weiterhin spannend bleibt und sich die diesbezüglichen Handlungen nicht wiederholen.

Beim Zusammenfügen dieser elemantaren Einheiten gerät Troy Denning jedoch ins Wanken, und dadurch, dass er trotzdem immer noch versucht, der Geschichte neue Nuancen zu verleihen, ohne dass es ihm gelungen ist, andere Stränge auch mal abzuschließen, entwickelt sich irgendwann ein Wust an Details und ausstehenden Konflikten, den er anschließend in der verbliebenen Zeit gar nicht mehr zufrieden stellend auflösen kann.

Auf der anderen Seite muss man dem Autor aber auch einige Stärken attestieren. So gefallen vor allem die Beschreibungen der Kämpfe in diesem Buch – vielleicht auch, weil Denning hier aus Zeitgründen viel schneller auf den Punkt kommt und so die Geradlinigkeit des Krieges viel besser einfängt. Auch die größer angelegte Szene, in der es zur Versammlung des Rates der Allianzen kommt, ist sehr gut dargestellt und erfüllt wegen der spannungsgeladenen Stimmung auch tatsächlich die Rolle einer Schlüsselszene.

Leider aber mangelt es dem Buch an solchen Highlights, so dass manch anderer Knackpunkt eher unsinpiriert wirkt. Störend hierbei erweist sich schließlich noch, dass der Autor am Ende irgendwie noch versucht, seine Erzählung mit wichtigen Fantasy-Elementen zu füllen. Die Einbeziehung von Drachen hätte man sich beispielsweise sparen können, zumal ihr Auftritt auch irgendwie nicht zum gesamten Plot passen will.

Es gibt wirklich eine Reihe von vermeidbaren Unstimmigkeiten, die so eigentlich gar nicht nötig gewesen wären, hätte sich Denning in den entscheidenden Momenten (sprich vorrangig im ersten Band) nicht an Belanglosigkeiten aufgehalten und die Story von Anfang an in angemessenem Tempo vorangebracht. Doch seine einstige Unentschlossenheit wird spätestens hier zu einem selber herbeigeführten Dilemma, aus dem er sich auch nicht mehr befreien kann. Vielleicht wäre ein vierter Teil eine Lösung gewesen, um die Geschichte auch adäquat und eben nicht derart hektisch zu Ende zu bringen, doch dies ist letztendlich eh nur Spekulation. Es ist eben nur schade um das zweifellos vorhandene Potenzial der Geschichte, die in anderem Rahmen sicherlich weitaus heller glänzen würde. Abraten möchte ich interessierten Lesern von diesem Buch daher nicht, aber man sollte sich schon bewusst machen, dass es im Fantasy-Bereich genügend Alternativen gibt, bei denen nicht alles sinnlos verkompliziert wird. Mein Fazit daher: Gute Story, durchwachsene Umsetzung.

http://www.feder-und-schwert.com/

Lee Child – Zeit der Rache

Das geschieht:

In New York nimmt ein Einsatzkommando des FBI den ehemaligen Militärpolizisten Jack Reacher fest. Ihm wird Serienmord vorgeworfen. Man fand zwei Frauen tot in ihren Badewannen, die bis zum Rand mit Armee-Tarnfarbe gefüllt waren. Die Ermittler fanden keinerlei Spuren aber zwei Gemeinsamkeiten: Beide Opfer waren Ex-Soldatinnen und hatten vor Jahren Anklage wegen sexueller Belästigung gegen Vorgesetzte eingereicht, deren Karrieren dadurch zerstört wurden. Die Untersuchung leitete in beiden Fällen Reacher!

Seine Unschuld stellt sich heraus, als ein neuer Mord nach bekanntem Muster erfolgt aber Reachers Alibi wasserdicht ist. Trotzdem muss er dem FBI helfen, da die Armee es ablehnt, mit Zivilisten zusammenzuarbeiten, Direktor Black schreckt nicht davor zurück, Reacher offen zu erpressen. Wohl oder übel beugt sich Reacher, aber als er sogleich das aufwändige Täterprofil der FBI-Spezialisten verwirft und die Zahl der potenziellen Opfer im Widerspruch zu diesen erheblich eingrenzt, wird ihm kein Glauben geschenkt. Lee Child – Zeit der Rache weiterlesen

Radkowsky, Britta – Moderne Vampyre. Mythos als Ausdruck von Persönlichkeit

Der unbedarfte Leser wird bei Britta Radkowskys schmalem Bändchen zunächst über den Titel stolpern, sieht „Moderne Vampyre“ doch ganz nach einer antiquierten Schreibweise aus, die besonders ausgefallen und prätentiös sein will. Der Eingeweihte weiß jedoch: Vampir ist nicht gleich Vampyr, und genau diesen Unterschied will Britta Radkowsky, ehemals Redakteurin des Vampirmagazins sanktuarium.de, näher beleuchten.

Vampir und Vampyr wurden Anfang des 19. Jahrhunderts noch synonym verwendet. Beide Schreibweisen wechselten sich mit schöner Regelmäßigkeit ab, da der Begriff ursprünglich aus Osteuropa kam und sich die westlichen Autoren noch nicht ganz sicher waren, wie man den untoten Blutsauger denn nun zu schreiben habe. Heute ist das „y“ ein bewusst gesetztes Signal, unterscheidet es doch in der Regel den Vampir aus Literatur und Film von dem realen, lebenden Vampyr. Doch wie sich dieser Vampyr genau charakterisiert, das kann auch Britta Radkowsky nicht festmachen. Schließlich ist der Vampir eine geduldige Projektionsfläche für eine Vielzahl von Bedeutungen, sodass er letztlich eine grundlegend persönliche und subjektive Erfahrung ist.

Sie nähert sich dem Phänomen daher auf traditionelle Weise über den Volksglauben, die Literatur und den Film. Wer es (immer noch) nicht wusste, erfährt hier, dass der historische Dracula durchaus kein Vampir war, dass es aber eine ganze Reihe von wissenschaftlich belegten Fällen von Vampirismus aus Südosteuropa gibt. Welche Glaubwürdigkeit man diesen historischen Dokumenten allerdings zuschreibt, bleibt jedem selbst überlassen. Radkowsky jedenfalls vermeidet jegliche Propaganda und versucht keineswegs, den Leser von der Existenz von Vampiren zu überzeugen.

Im Abschnitt über Literatur und Film trifft man auf die üblichen Verdächtigen: Byron, Gaultier, Stoker, Rice bei der Belletristik und „Nosferatu“, „Dracula“, „The Hunger“ und „Near Dark“ bei den Filmen. Radkowsky enthält sich leider persönlicher Bewertungen (abgesehen von der Auswahl der besprochenen Bücher und Filme), bietet jedoch Zitate anderer Kritiker, sodass der Leser dennoch einen Überblick über die Qualität der vorgestellten Werke bekommt. Kurz und bündig kann sich so vor allem der Einsteiger einen Überblick darüber verschaffen, was man unbedingt lesen bzw. anschauen sollte, der Fan hingegen wird die meisten Titel bereits kennen.

Diese einleitenden Kapitel nehmen fast die Hälfte des Buches ein und so widmet sich Radkowsky erst relativ spät ihrem eigentlichen Thema, nämlich den lebenden Vampyren. Nun ist es nicht so, dass darunter wiederkehrende Tote zu verstehen sind, die das Blut der Lebenden saugen. Doch was ein Vampyr nun eigentlich ist, das kann auch Radkowsky nicht mit Bestimmtheit sagen. Sicher ist so viel: Es handelt sich um einen Lebensstil; eine Subkultur, die entweder mit dem Internet entstanden ist oder wenigstens dadurch eine Blüte erfahren hat. Vampyre entleihen Eigenschaften und Lebensweisen von Film- oder Romanvampiren und machen sie zu einem integralen Teil ihres eigenen Lebens. Besonders die sensiblen und chronisch schwermütigen Vampire von Anne Rice dienen dabei gern als Vorbild.

Britta Radkowsky bleibt auch hier an der Oberfläche und begnügt sich damit, an Beispielen von verschiedenen Vampir-Vereinigungen, wie dem offiziellen Anne-Rice-Fanclub und seinem legendären jährlichen Vampirball oder dem Sanguinarium mit seinem Regelwerk für Vampyre, das Phänomen zu illustrieren. Diese Beispiele zeigen zwar Aspekte der vampyrischen Subkultur, beleuchten jedoch weder ihre Ursprünge noch ihre Faszination. Viel interessanter dagegen sind die Interviews mit „Größen“ der Vampyrszene, die im Anhang zu finden sind. Webmaster einschlägiger Seiten beantworten hier Fragen zu ihrem ganz persönlichen Vampir- und Vampyrbegriff und erklären, wie, warum und ob sie Vampyr sind. Skeptiker werden feststellen, dass die Interviewten ihren Lebensstil durchaus reflektieren und umfassend belesen sind. Bloße Trittbrettfahrer finden sich im Interviewteil nicht. Allerdings zeigen die Interviews einmal mehr, dass eine Definition des Vampyrbegriffs ein unmögliches Unterfangen ist. Die Ansichten der Befragten können unter Umständen recht gegensätzlich sein, und doch schließen sie sich nicht aus. Wie der Einzelne den Vampirmythos empfindet und für sich interpretiert, ist eine persönliche und individuelle Angelegenheit. Und so ist auch jeder Vampyr individuell und anders. Einfache Formeln gibt es da nicht.

Abgerundet wird der schmale Band durch eine umfangreiche Literaturliste und eine einführende (wirklich nur einführend, da recht kurz) Filmographie für alle, die sich weiter mit dem Thema beschäftigen wollen. Insgesamt bleibt das Buch etwas zu allgemein – in allen angesprochenen Aspekten – eignet sich aber gerade dadurch vor allem für diejenigen, die einen Überblick über das Thema bekommen wollen. Radkowsky schneidet alle wichtigen Aspekte an, in einer flüssigen und gut lesbaren Sprache, ohne den Einsteiger mit tief gehenden Analysen zu verscheuchen.

Fazit: Ein Buch für diejenigen, die ihren inneren Vampyr erst noch entdecken wollen. Alle, die ihm bereits verfallen sind, werden hier nichts Neues mehr lernen.

Thomas Finn – Der Funke des Chronos

Handlung

1842 in Hamburg: Polizeiaktuar Kettenburg arbeitet daran, eine grauenerregende Mordserie zu lösen, die schon sieben Menschen das Leben gekostet hat. Das Perverse daran ist, dass den Opfern voher bei lebendigem Leibe der Schädel aufgesägt wurde. Die letzte Leiche wurde auf einem Leiterwagen gefunden. Der Mörder scheint wohl bei der Beseitigung der Leiche gestört worden zu sein …

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Rankin, Ian – Sünden der Väter, Die

In ihrem Bemühen, den lästigen Untergebenen endlich aus seinem Job zu ekeln, haben sich Detective Inspector John Rebus’ Vorgesetzte etwas Neues einfallen lassen. Sie beauftragen ihn, gegen den alten Gelehrten Joseph Lintz zu ermitteln. Der steht im Verdacht, in jungen Jahren als Mitglied von Hitlers SS in Frankreich aktiv an unerhörten Kriegsgräueln teilgenommen zu haben. Lintz streitet dies ab und erweist sich als Meister der ausweichenden Auskunft – oder als Unschuldiger.

Viel lieber würde Rebus bei den Ermittlungen gegen Tommy Telford mittun. Der junge, charismatische Gangsterboss plant, sich zum Führer der Edinburgher Unterwelt aufzuschwingen. Jede kriminelle Machenschaft ist ihm dabei Recht. Er legt sich sogar mit dem bisherigen Alleinherrscher „Big Ger“ Cafferty an, der zwar in die Jahre gekommen aber keineswegs willig ist, die Macht zu teilen. Ein Bandenkrieg droht; erste Opfer sind bereits zu beklagen.

Die Polizei steht dem mehr oder weniger hilflos gegenüber. Sowohl Cafferty als auch Telford haben ihre Truppen gut im Griff. „Gesungen“ wird nicht, Beschattungen fliegen regelmäßig auf. Rebus schleicht sich trotzdem gern zu den Beamten der Scottish Crime Squad, einer Sondereinheit, der auch Siobhan Clarke, Rebus’ Ex-Kollegin und gute Freundin, inzwischen angehört. Für ihn ist dieser Fall persönlich geworden: Ein Autofahrer hat Sammy, seine Tochter, angefahren und schwer verletzt. Rebus, der sich als Vater in der Vergangenheit viele Fehler geleistet hat, wird von seinem Gewissen und von Wut übermannt. Er will den Unglücksfahrer, er will Rache. Um sie zu bekommen, verbündet er sich sogar mit seinem Erzfeind Cafferty, der einwilligt, ihm den Schuldigen zu liefern. Dafür soll Rebus Telford hinter Gitter bringen.

Derweil findet sich Lintz’ Leiche. Man hat den alten Mann an einem Friedhofsbaum aufgeknüpft – offenbar ein Mord mit Hinrichtungscharakter. Wer ist es, der das Recht in die eigene Hand genommen hat? Notgedrungen bleibt Rebus am Ball und entdeckt Verbindungen zwischen Lintz und Telford. Der hat sich außerdem mit dem tschetschenischen Mafiaboss Jake Tarawicz eingelassen, welcher sich in Edinburgh als Menschenhändler und Dealer etablieren möchte. Schließlich werden sogar hochrangige Mitglieder der Yakuza gesichtet, die stets eine Möglichkeit suchen, außerhalb Japans scheinbar legale Unternehmen als Geldwaschanlagen zu erwerben.

Rebus will sie in seinem Zorn alle drankriegen. Dass er sich dabei übernommen hat, dämmert ihm spätestens, als er sich auf einen Stuhl gefesselt und mit einem Stromkabel malträtiert wiederfindet …

Wie üblich setzt Ian Rankin seinen Inspektor Rebus erneut einem Trommelfeuer aus kriminalistischen Herausforderungen und privaten Schicksalsschlägen aus. Insgesamt zerfällt „Die Sünden der Väter“ in zwei Handlungsstränge. Da haben wir einerseits Rebus’ Kampf gegen die Unterwelt von Edinburgh und andererseits seine Ermittlungen gegen einen möglichen Kriegsverbrecher. Beide Stränge werden verklammert durch Rebus’ Bangen um das Leben seiner im Koma liegenden Tochter bzw. sein Versagen als Familienvater: Der „Sünden der Väter“, auf die der deutsche Titel anspielt, haben sich sowohl Joseph Lintz als auch John Rebus jeder auf ihre Weise schuldig gemacht. Mehrfach blendet Rankin Episoden ein, in denen sich Rebus daran erinnert, wie er seine Familie enttäuscht hat.

„Die Sünden der Väter“ ist gleichzeitig ein neues Kapitel im spannenden Duell zwischen Rebus und „Big Ger“ Cafferty. Der Polizist und der Gangster sind Todfeinde und sich – Rebus’ Kollegen beobachten es mit Misstrauen – als solche näher als manche Freunde. Sie kennen sich seit Jahren, wissen um ihre Geheimnisse, nutzen einander aus und versuchen dem Gegenüber stets mindestens einen Schritt voraus zu sein. Rankin nutzt diesen Zweikampf als Aufhänger, um Edinburghs „Fortschritte“ auf dem Weg zur Verbrechermetropole des 21. Jahrhunderts zu beschreiben. Die kriminelle Szene ist zum Spiegelbild einer zunehmend globalisierten Welt geworden: Syndikate überspringen Meere und Kontinente, breiten sich aus, erobern neue Territorien, in denen sie zentral möglichst alle illegalen Aktivitäten kontrollieren und steuern. Der Kontakt zum politischen und wirtschaftlichen Establishment wird gesucht und gefunden, an die Gesetze hat sich nur der Steuerzahler als von oben und unten geschorenes Schaf zu halten.

Die Polizei ist entweder machtlos oder bereits Teil des Filzes. Im Vergleich zu ihren Gegnern sind die Beamten hoffnungslos unterbesetzt, schlecht ausgerüstet und entsprechend motivationsarm. Rebus hat es mit oft halblegalen Tricks, aus langer Berufslaufbahn erwachsener Erfahrung und kriminalistischem Dickkopf geschafft, Erfolge zu erzielen. Mit der Unterwelt in ihrer Gesamtheit legt er sich erst an, als er sich persönlich angegriffen fühlt. Die Handlung wird rau, während die Spannung steigt, denn selten hat sich Rebus so viele Feinde gemacht, derer er sich nun gleichzeitig erwehren muss. Das gelingt ihm mit dem üblichen Einfallsreichtum, aber er muss harte Schläge einstecken.

Dabei stellt sich – nicht zum ersten Mal – die Frage, ob es Rankin nicht ein wenig übertreibt. Zwei Gangsterbanden im Krieg: Das genügt ihm nicht. Er lässt auch noch die russische Mafia und die Yakuza mitmischen. Sicherlich ist das ein wenig zu viel des Schlechten. Allerdings muss man bewundern, wie Rankin seinen Rebus geschickt die verschiedenen Parteien gegeneinander ausspielen lässt. Am Ende siegt die Gerechtigkeit, aber Rankin wäre nicht Rankin, würde er den Triumph nicht sogleich wieder relativieren: Die Macht kennt kein Vakuum, so lässt er Rebus sehr richtig sinnieren; dort wo sie verschwindet, strömt sie sogleich von außen nach. Obwohl die meisten Gangster letztlich auf der Strecke bleiben, wird Edinburgh dasselbe kriminelle Pflaster wie bisher bleiben.

Eindeutig überflüssig wirkt mit dem Fortschreiten der Geschichte der Handlungsstrang um Joseph Lintz. Rankin legt hier eine falsche Fährte, die ihm viel Raum für moralische Exkurse zum Thema Schuld und Sühne bietet. Gleichzeitig geht es um die Schuld derjenigen Regierungen, die einst zum Kampf gegen den Nationalsozialismus und seine Vertreter angetreten sind, aber später die „nützlichen“ Nazis vor einer Bestrafung bewahrten, sie mit Geld und einer weißen Weste ausstatteten und beschützten – ein düsteres Kapitel, das noch heute sorgfältig unter den Teppich gekehrt bleibt. Dieses Thema böte Stoff für einen eigenen Roman. Hier wird es verheizt bzw. wirkt wie eine dieser peinlichen Gedenkaktionen, die sich bußfertige Gutmenschen gern ausdenken, ohne die eigentlich Betroffenen vorher zu fragen, ob ihnen dies Recht ist.

Rebus als Rächer: Mit „Die Sünden der Väter“ schlägt Verfasser Ian Rankin einen weiten Bogen zurück zum ersten Band der Serie. „Verschlüsselte Wahrheit“ zeigte einen Rebus, dessen Dienstzeit in einer militärischen Spezialeinheit ihn psychisch schwer gezeichnet hatte. Wir erfuhren, dass Rebus in „schmutzigen“ Guerillataktiken und zum Kampf gegen Terroristen ausgebildet wurde. Er versteht es also, seinen Gegnern eine ungemütliche Zeit zu bereiten. Zu viele Zigaretten und noch mehr Alkohol haben Rebus’ körperliche Fitness zwar untergraben. An seiner Entschlossenheit, selbst unter starkem Stress einen „Auftrag“ durchzuziehen, konnte dies jedoch nichts ändern.

Dieses Mal ist Rebus sogar doppelt motiviert: Seine Polizeiarbeit ist ihm heilig, auch wenn er sie auf seine Weise erledigt und sich wenig um die Dienstvorschriften schert. Ganz besonders hasst er das organisierte Verbrechen in „seiner“ Stadt. Mit „Big Ger“ Cafferty hat er schon lange mehr als eine Rechung offen; die beiden liefern sich ein Katz-und-Maus-Spiel, das Rebus nie gewinnen konnte. Tommy Telford ist ebenfalls ein gefährlicher Verbrecher, den Rebus gern ausgeschaltet sähe. In dieser Verfassung kommt es ihm dann nicht mehr darauf an, sich auch mit der russischen Mafia und der Yakuza anzulegen.

In die Wut flüchtet sich Rebus vor allem deshalb, weil sein schlechtes Gewissen ihm zu schaffen macht. Sammy ist das Kind einer unglücklichen Ehe. Rebus und seine Frau waren zerstritten, er war zweifellos ein nachlässiger Vater, dessen Gedanken meist um den aktuellen Fall und kaum um seine Familie kreisten. Erst in jüngster Zeit bemüht sich Rebus, seiner Tochter näher zu kommen. Jetzt droht sie zu sterben. Rebus projiziert das eigene Versagen auf Cafferty, Telford & Co. Außerdem sucht er sich eine „Ersatztochter“: Die junge bosnische Einwanderin Dunja wurde von Telford zur Prostitution gezwungen. Rebus nimmt sich ihrer an. Sie will er „retten“, was ihm bei Sammy misslungen ist. Selbstverständlich ist er hier auch nicht erfolgreicher.

Eher lästig ist Rebus dagegen die Beschäftigung mit dem Fall Joseph Lintz. Der Polizist repräsentiert hier die Mehrheit seiner Zeitgenossen, für die Ende des 20. Jahrhunderts die Nazis nur mehr Schauergestalten aus Geschichtsbüchern und Filmen sind. Rebus liest die Berichte über die Ermordung einer ganzen Dorfbevölkerung, an der Lintz sich beteiligt haben soll, aber das in Erfahrung Gebrachte berührt ihn zunächst nicht: Zu viel Zeit ist vergangen, Zeitzeugen gibt es kaum noch. Diese Haltung ist es, die für Lintz den besten Schutz bedeuteten: So lange er sich in seinem zweiten Leben nichts zuschulden kommen ließ, interessierte sich niemand für das erste. Darüber hinaus ist Lintz ein vornehmer, gebildeter Herr, der für sich einnimmt und mit dem Mörder von einst nichts mehr gemein hat.

Aber einige Opfer der Nazis haben eben doch überlebt. Sie vergessen und vergeben nicht, weil sie das allgemeine Vergessen fürchten. Deshalb fordern sie auch Jahrzehnte nach dem Ende des Nazi-Terrors Gerechtigkeit. Nur widerwillig laufen die Mühlen des Gesetzes an; es gibt mehr als genug aktuelle Verbrechen, um die es sich zu kümmern gilt. Auch Rebus muss erst lernen, dass diese Vergangenheit nicht tot ist, weil sich die Sünden der Väter auf die Nachkommen der Täter und Opfer vererben können. Ob Lintz ein Schlächter war oder nicht, bleibt im Grunde Nebensache. Rankin lässt diese Frage daher offen.

Für Rebus erweist sich vor allem Dunja als Bindeglied zwischen den alten und neuen Schrecken. Auch die junge Frau ist ein Kriegsopfer: Als bosnische Muslimin wurde sie während des Balkankriegs von „ethnischen Reinigungstruppen“ – Mordkommandos – verfolgt. Auch nach dem Ende des Kriegs wagt sie nicht heimzukehren. Die Mörder sind weiterhin unter ihren Landsleuten. So wie Dunja erging es im nazideutsch terrorisierten Europa unzähligen Menschen. Ihr Schicksal ist zeitlos. Es führt Rebus vor Augen, was die Lintzes dieser Welt tatsächlich verbrochen haben. Zumindest in diesem Punkt „funktioniert“ Rankins Lintz-Episode. Sie muss ihm wichtig gewesen sein, denn sie gab dem Buch seinen Originaltitel: „In a hanging garden / change the past / In a hanging garden / wearing furs and masks“, singen „The Cure“ auf ihrem Album „Pornography“ von 1982. Doch was geschehen ist, bleibt geschehen und wird Teil der Gegenwart. Gleichgültig wie gut es getarnt wird: Irgendwann kommt es unbewältigt und mit ungebrochener Wucht wieder zum Vorschein.

Ian Rankin wird 1960 in Cardenden, einer Arbeitersiedlung im Kohlerevier der schottischen Lowlands, geboren. In Edinburgh studiert er ab 1983 Englisch, zunächst mit dem Schwerpunkt Amerikanische, später Schottische Literatur. Schon früh beginnt er zu schreiben. Zunächst hoffnungsvoller Poet, wechselt er als Student zur Prosa. Nach zahlreichen Kurzgeschichten versucht er sich an einem Roman, findet aber keinen Verleger. Erst der Bildungsroman „The Flood“ erscheint 1986 in einem studentischen Kleinverlag.

Nachdem sein Stipendium ausgelaufen ist, verlässt Rankin 1986 die Universität und geht nach London, wo er u. a. als Redakteur für ein Musik-Magazin arbeitet. Nebenher veröffentlicht er den Kolportage-Thriller „Westwind“ (1988) sowie den Spionageroman „Watchman“ (1990). Unter dem Pseudonym „Jack Harvey“ verfasst Rankin in rascher Folge drei actionlastige Thriller. 1991 greift Rankin eine Figur auf, die er vier Jahre zuvor im Thriller „Knots & Crosses“ (1987; dt. „Verborgene Muster“) zum ersten Mal hat auftreten lassen: Detective Sergeant (später Inspector) John Rebus. „Knots & Crosses“ war 1987 weniger als Kriminalroman, sondern eher als intellektueller Spaß im Stil Umberto Ecos gedacht, den sich der literaturkundige Autor mit seinem Publikum machen wollte. Schon die Wahl des Namens, den Rankin seinem Helden gab, verrät das Spielerische: Um Bilderrätsel – Rebusse – dreht sich die Handlung.

Mit John Rebus gelingt Rankin eine Figur, die im Gedächtnis seiner Leser haftet. Als man ihn immer wieder auf das weitere Schicksal des Sergeanten anspricht, wird er sich dessen Potenzials bewusst. Die Rebus-Romane ab „Hide & Seek“ (1991; dt. „Das zweite Zeichen“) spiegeln das moderne Leben (in) der schottischen Hauptstadt Edinburgh wider. Rankin spürt seither den dunklen Seiten nach, die den Bürgern, vor allem aber den (zahlenden) Touristen von der traulich versippten Führungsspitze aus Politik, Wirtschaft, Medien und Kirche gern vorenthalten werden. Daneben lotet Rankin die Abgründe der menschlichen Psyche aus. Simple Schurken, deren möglichst malerisches, weil „gerechtes“ Ende bejubelt werden kann, gibt es bei ihm nicht.

Ian Rankins Rebus-Romane kommen nach 1990 in Großbritannien, aber auch in den USA stets auf die Bestsellerlisten. Die renommierte „Crime Writers‘ Association of Great Britain“ zeichnet ihn zweimal mit dem „Short Story Dagger“ (1994 und 1996) sowie 1997 mit dem „Macallan Gold Dagger Award“ aus. 1992 ehrt man ihn in den USA mit dem „Chandler-Fulbright Award“ als „Nachwuchsautoren des Jahres“. Rankin gewinnt im Jahre 2000 weiter an Popularität, als die britische BBC beginnt, die Rebus-Romane zu verfilmen.

Ian Rankins [Website]http://www.ianrankin.net ist höchst empfehlenswert; über die bloße Auflistung seiner Werke verwöhnt sie u. a. mit einem virtuellen Gang durch das Edinburgh des John Rebus.

Die John-Rebus-Romane …
… erscheinen in Deutschland im Wilhelm Goldmann Verlag (Stand: Januar 2006):

01. [Verborgene Muster 956 (1987, Knots & Crosses) – TB-Nr. 44607
02. [Das zweite Zeichen 1442 (1991, Hide & Seek) – TB-Nr. 44608
03. [Wolfsmale 1943 (1992, Wolfman/Tooth and Nail) – TB-Nr. 44609
04. [Ehrensache 1894 (1992, Strip Jack) – TB-Nr. 45014
05. Verschlüsselte Wahrheit (1993, The Black Book) – TB Nr. 45015
06. Blutschuld (1994, Mortal Causes) – TB Nr. 45016
07. [Ein eisiger Tod 575 (1995, Let it Bleed) – TB Nr. 45428
08. [Das Souvenir des Mörders 1526 (1997, Black & Blue)
09. Die Sünden der Väter (1998, The Hanging Garden) – TB Nr. 45429
10. Die Seelen der Toten (1999; Dead Souls) – TB Nr. Nr. 44610, erscheint im Mai 2006
11. Der kalte Hauch der Nacht (2000, Set in Darkness) – TB Nr. 45387
12. [Puppenspiel 2153 (2001, The Falls) – TB Nr. 45636
13. [Die Tore der Finsternis 1450 (2002, Resurrection Man)
14. Die Kinder des Todes (2003, A Question of Blood)
15. [So soll er sterben 1919 (2004, Fleshmarket Close)
16. Night Police [Arbeitstitel] (2006; noch kein dt. Titel)

Darüber hinaus gibt es zwei Sammlungen mit Rebus-Kurzgeschichten: „A Good Hanging & Other Stories“ sowie „Beggars Banquet“. Hinzu kommt „Rebus’s Scotland“, ein Fotoband mit Texten von Rankin, der hier jene Orte aufsucht, die ihn zu seinen Romanen inspirierten.