Hohlbein, Wolfgang – u.a. – Vermächtnis der Feuervögel, Das

Einen Hohlbein kann man eigentlich (fast) immer lesen, ohne enttäuscht zu werden; und einige Bücher sind richtig spannend („Drachenfeuer“ oder „Spiegelzeit“ z.B.). Nicht dass wir besonders raffinierte oder gar innovative Genre-Stückchen vor uns hätten, aber der „deutsche Stephen King“ kann routiniert und flüssig schreiben, so wie halt King oder Koontz auch. Seine schlechtesten Bücher sind nicht schlechter als deren schlechteste Bücher, seine besten können manchmal gar (fast) mithalten und toppen die Durchschnittsware der Amerikaner, auch die gehobene. Wenn ich für diesen Band dennoch keinen Tipp ausspreche, so hat das drei Gründe, der erste ist bereits genannt: Routine, Handwerk, vom Hocker reißt nichts wirklich, vieles ist vorhersehbar. Der zweite und dritte haben zu tun mit der Verlagspolitik (kaum vorstellbar allerdings, dass Hohlbein keinen Einfluss darauf hat, er ist immerhin Hohlbein).

Hier wird nämlich – zweiter Grund – Irreführung betrieben. Das beginnt beim Untertitel „Fantasy-Stories“; davon enthält der Band eigentlich nur eine waschechte. Der Rest entstammt SF, Horror und dem, was man mitunter „Phantastik“ nennt (weil es weder Horror noch SF usw. ist). Ausschließlich auf Fantasy fixierte Leser (die gibt es!) dürften hier also weitgehend enttäuscht werden. Doch die Täuschung geht noch weiter; man ist gut beraten, sich vor Kauf das Inhaltsverzeichnis anzusehen: Drei der Geschichten, ein knappes Drittel des Textes, stammen gar nicht von Hohlbein, er hat nur die Vorworte geschrieben – und dann ist es vermessen zu titeln „Wohlgang Hohlbein und andere“, „Wolfgang Hohlbein und Dieter Winkler“ etc.

Dritter Grund: Piper recycelt kräftig. Ja, Hohlbein soll künftig stärker in den Verlag eingebunden werden – mindestens mit einer neuen Staffel ENWOR-Romane, die ab 2004 erscheinen wird. Und es ist nur verständlich, dass man möglichst viele Bücher eines unbestrittenen Erfolgsautors herausbringen will. Doch der potenzielle Käufer sollte seine WH-Sammlung durchsehen – falls diese Hohlbeins Fantasy-Selections der Jahre 1999 bis 2001 enthält (erschienen bei Weitbrecht Verlag in K. Thienemanns Verlag), dann besitzt er knapp 180 der 270 Seiten schon. Und von den restlichen 90 Seiten stammen nur 25 von Hohlbein. Anders gesagt: Der Band enthält nur eine (!) bisher nicht veröffentlichte Geschichte des Meisters … und diese, „Das Relief“, ist eine zugegeben schnell und sicher erzählte Horrorstory, aber nichts wirklich Neues. Harvard-Studenten suchen sich für einen Schabernack einen Friedhof aus, aber am Ende sind nicht die anvisierten Kommilitonen die Leidtragenden. Durchschnitt – lieber wieder einmal „Pickman’s Modell“ von Lovecraft lesen (dessen Grundidee hier variiert wird, doch auf nicht unbedingt überzeugende Art und Weise).

Alles Wesentliche zum Band wäre hiermit eigentlich gesagt; für Neugierigere folgt nun die Besprechung der Einzeltexte im Schnelldurchlauf:

„Das Vermächtnis der Feuervögel“, die Titel- und längste Geschichte, bringt einen Drehbuchautor, dessen Agenten und ihre beiden Freundinnen in das übliche alte, fast ruinierte Herrenhaus, dessen letzter Besitzer ein Vogelnarr war. Er vermachte die Immobilie denn auch seinen gefiederten Freunden, und man darf weder das Haus renovieren, noch die Vögel vertreiben, noch die Zimmer bewohnen, in denen sie nisten. Durchschaubar spätestens ab Seite 28, Ende inklusive. Horror Kingscher Machart, Dutzende Male gelesen.

„In Namen der Menschlichkeit“ gehört in die Rubrik „SF“, Unterabteilung „Alternative Geschichte“, Regal „häufig gebrauchte Grundideen“: Das Römische Imperium ist 1500 n. Chr. eine Weltmacht, die im Kampf mit dem Toltekenreich liegt – weltkriegsartige Zustände, Millionen Tote usw. Die Römer schicken eine Zeitkapsel mit 4 Mann und 2 Bomben in die Vergangenheit, um das Problem zu lösen, bevor es entsteht. Die Tolteken torpedieren das Unternehmen (im wahrsten Wortsinn); die Legionäre stranden irgendwo, irgendwann. Auf der ersten Seite fällt der Familienname der Hauptfigur: Cyrene, was beim leidlich bibelfesten Leser einen Verdacht weckt; drei Seiten später verdichtet der volle Name Simon Cyrene diesen zur Gewissheit (na? wer hat die passende Bibelstelle parat oder wenigstens die entsprechende Szene aus „Leben des Brian“??). Zum Glück gibt es immer weniger bibelfeste Leser, der immer größere Rest wird daher etwas später (vielleicht) überrascht. – Nee, ich muss hier mal die Katze aus dem Sack lassen: Natürlich ist der Ort der Handlung Jerusalem, die Zeit kurz vor dem Passahfest 33 n. Chr., und gewiss haben wir hier wieder einmal eine Jesus-Geschichte zu lesen. Originell daran sind Hohlbeins Entwurf der Ideologie des Römischen Imperiums – die Symbole Christi: Schwert und Lasergewehr -, die Idee der Gegner – Tolteken unter dem Banner Quetzalcoatls – und sein alternativer Geschichtsverlauf: Das Volk widersetzt sich der Kreuzigung, rebelliert, metzelt Römer, das Imperium wandelt sich, die Apostel werden Kaiser und Könige … Klar kommt es am Ende zu unserer Geschichte, doch wie, ist wieder schwach: Cyrene überlegt sich, wie viele Kriege im Namen Christi geführt werden und wie viele Menschen sterben – und gibt Judas Ischarioth dreißig Silberlinge. Eine fragwürdige Entscheidung, denn Cyrene macht einen ganz intelligenten Eindruck und müsste sich auch fragen, ob es ohne den Namen Christi wirklich weniger Kriege und weniger Tote wären. Ich behaupte mal: Nein. Wir hätten auch ohne die Religion einen Grund gefunden, das fortschrittliche Arabien zu überfallen oder die Indianer niederzumetzeln. Außerdem: Warum sollten die Leute nicht auch gegen die Kreuzigung rebellieren? – Schade, aus der Geschichte hätte sich mehr machen lassen; so jedoch weckt sie die meisten Erwartungen und enttäuscht daher am meisten.

„Das zweite Gesicht“ ist SF, verbunden mit Horror-Elementen, soll vor dem Missbrauch der Medizin warnen und die Frage stellen, ob wir alles dürfen, was wir können. Aber abgesehen davon, dass die Geschichte am Ende eigentümlich unentschieden bleibt, was diese Frage betrifft – sie geht auch unentschieden aus, ist in Teilen vorhersehbar und hat kein überzeugendes Ende.

„Im Schatten der Sonne“ wurde im Internet als Fortsetzungsgeschichte von 14 AutorInnen geschrieben. Macht pro Frau/Mann gut 1 Seite. Das merkt man. Nicht einmal C. L. Moore, Abraham Merritt, Robert E. Howard, Frank Belknap Long und Howard Phillips Lovecraft bekamen 1935 unter dem Titel „The Challenge from Beyond“ eine mehr als nur durchschnittliche Story zusammen (wobei Howards Schluss mit seiner ironischen Howard-Parodie wenigstens ein echter Brüller ist). Doch dieser 14-Mensch-Eintopf hier bleibt fade, verdorben im Sinne des Sprichworts von den vielen Köchen und enthält alles Mögliche, nur nix Nahrhaftes.

„Malicia“ aus der Feder Dieter Winklers, die allererste und bisher nicht veröffentlichte ENWOR-Geschichte, ist dann endlich einmal richtige Fantasy, gewürzt mit Horror-Elementen. Sie kann Howards „Conan“-Geschichten durchaus das Wasser reichen. In den Augen mancher Leser mag das freilich kein Kompliment sein, doch ich habe eine leise Schwäche für den Cymmerier, sofern er von Howard selbst zum Leben erweckt wird, bekenne mich fröhlich dazu und zu dieser Geschichte und empfehle den Puristen, es doch besser zu machen, wenn es so einfach ist, „Trivialliteratur“ zu schreiben. Eine akzeptable, spannende Story, die beste des Bandes – nur eben nicht von Hohlbein.

Esmee Weisleders „Engel laufen nicht!“ beschließt das Buch und ist laut WH die Siegergeschichte eines Schreibwettbewerbs des Hohlbein-Internet-Fanclubs. „Die Anzahl der Storys … war überwältigend, und die Qualität übertraf meine kühnsten Erwartungen (in jeder Hinsicht)“ schreibt der Meister doppelbödig. Je nun. Die Geschichte ist nicht schlecht, dennoch: Wenn sie die beste war, überbietet die Qualität der anderen die Erwartungen nur in einer Hinsicht, nach unten nämlich. Immerhin: konsequent komponiert, straff erzählt, die Hauptfigur lebendig gezeichnet, der Schluss in seinen Grundzügen erahnbar, aber gut ausgestaltet – eine Story auf besserem Fanzine-Niveau. Nicht mehr, nicht weniger.

Fazit dieser langen Rezension? Ein Buch mit wenigen Höhen und etlichen Tiefen, das mehr verspricht, als es hält; für Hohlbein- und/oder ENWOR-Freaks ein Muss, für alle anderen Leser eher fraglich. Nicht allzu enttäuschend freilich, aber das nimmt nicht Wunder – man erwartete ja auch nicht allzu viel …

© 2004 by _Peter Schünemann_
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Bernard Cornwell – Die Galgenfrist

Im Jahre 1817 beauftragt der englische Innenminister einen ehemaligen Offizier, ein wegen Mordes verhängtes Todesurteil zu überprüfen. Zum Unwillen der Justiz entdeckt dieser, dass die Beweise gefälscht wurden und der angebliche Täter unschuldig ist … – Gelungener Historienkrimi, der sich geschickt der zeitgenössischen Rechtsprechung bedient. Das alte London und seine pittoresken Bewohner nehmen vor dem Leser Gestalt an, ohne um der Unterhaltung willen in historische Zerrbilder verwandelt zu werden: ein durchweg empfehlenswertes Lektürevergnügen.
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Gibson, William – Neuromancer

William Gibson ist einer der bedeutendsten Science-Fiction-Autoren der letzten zwanzig Jahre. Er hat, wie kein anderer SF-Autor, in kürzester Zeit Kultstatus erlangt. Sein Erstlingswerk „Neuromancer“ wurde mit dem |Nebula Award|, dem |Hugo Award|, dem |Locus Award| und dem |Philip K. Dick Memorial|-Preis ausgezeichnet.

William Gibson entführt seine Leser in eine Welt immanenter, teils futuristischer Technik, die sich aber von ihrem sozialen und politischen Gefüge her kaum von unserer wirklichen Welt unterscheidet – multinationale Megakonzerne beherrschen die Wirtschaft und die Politik; die Ballungsräume haben sich zu immer größeren, geschwürartigen Gebilden entwickelt, bis sie irgendwann zusammengewachsen sind; ein sehr großer Teil der Bevölkerung lebt in den Randgebieten des Sprawl – in den Slums – und kämpft ums Überleben. Einige von ihnen haben sich die Technik zu Nutze gemacht und verdienen ihr Geld mit Datendiebstahl und Industriespionage.

|“Cyberpunks nennen sich die Computerfreaks mit implantierter Elektronik im Schädel, allesamt verrückt und süchtig nach irren Abenteuern jenseits der Realität. Die Direktschaltung von Gehirn und Computer verheißt Allgegenwart und nie dagewesene Sensationen. Eine neue Welt tut sich auf, intensiv wie ein elektrischer Schock.“| (Bruce Sterling)

Case war ein solcher Cyberpunk. Mit 22 Jahren war er einer der besten Deckjockeys im Sprawl – ein |Cowboy|, wie er es nannte. Er war ein Dieb, der für die großen, reicheren Diebe arbeitete. Seine Auftraggeber beschafften ihm die Software, die er benötigte, um in die riesigen Industrie-Komplexe mit ihren geheimen Forschungslaboratorien einzubrechen und dort all jene Daten zu stehlen, an denen sie interessiert waren.
Dann machte er den klassischen Fehler. Case behielt etwas von dem zurück, was ihm nicht gehörte. Er wollte das große Geld machen – und zwar schnell. Sie kamen ihm auf die Schliche, fanden ihn und bestraften ihn auf eine Art, die für Case schlimmer war als der Tod. |“Sie schädigten sein Nervensystem mit einem russischen Mykotoxin aus Kriegszeiten. In einem Hotel von Memphis ans Bett gefesselt, halluzinierte er dreißig Stunden lang. Mikron für Mikron brannte sein Talent aus. Der Schaden war gering, unauffällig, aber äußerst wirksam.“ (S. 14/15)| Seit dieser Nacht war der Cyberspace nur noch eine Erinnerung, ein Traum. Die Ärzte in den schwarzen Kliniken hatten seine Verstümmelung bestaunt, doch sie konnten ihn nicht heilen.
Darauf folgte der soziale und gesellschaftliche Abstieg. Er begann Drogen zu nehmen, Speed und Alkohol, und steigerte sich in eine akute Suizidgefahr hinein. Case stand mit einem Mal am Rande der Gesellschaft und agierte hart an der Grenze zur Unterwelt. Er war nur ein kleiner Gauner unter vielen.
|Heute| ist Case 24 Jahre alt. Er ist ein Punk, der orientierungslos einen Leitfaden durch sein Leben sucht. Case versucht den Eindruck zu erwecken, er habe mit seinem |früheren| Leben abgeschlossen, doch Drogen und mehr oder weniger unmotivierter Sex vermögen ihm nicht zu geben, was er außerhalb des Cyberspace entbehren muss.. |“(…) Der Körper war nur Fleisch. Case wurde ein Gefangener des Fleisches.“ (S. 15)|
Er ist einer der unzähligen Straßendealer in Ninsei, den Slums von Chiba City. Er schläft in den billigsten Absteigen und schlägt sich mit illegalen Geschäften für das organisierte Verbrechen und manchmal auch mit Mord durchs Leben. Die neuen Yen, die ihm seine Deals einbringen, investiert er direkt in den nächsten Auftrag und in Drogen.
Eines Abends tritt Molly in sein Leben. Molly ist eine kybernetisch aufgewertete Straßenkämpferin mit implantierten Linsen und Nagelmessern. Ihr Job ist es, Case zu ihrem Auftraggeber Armitage zu bringen – nur um zu reden, wie sie ihm versichert. Armitage unterbreitet ihm einen interessanten Deal. Er will Case’s Nervenschäden in einer illegalen Klinik heilen lassen, wenn dieser dafür einen Auftrag im Cyberspace übernimmt. Anfänglich zögert Case, da er zu oft enttäuscht wurde. Sein altes Leben wieder zum Greifen nah, willigt er dann aber doch ein, da er der Verlockung, endlich wieder den Cyberspace betreten zu können, nicht widerstehen kann …

William Gibson wurde am 17. März 1948 in Convay, South Carolina (USA), geboren. Nachdem 1966 seine Mutter starb, verließ er im Alter von 19 Jahren die USA und zog, um sich der Einberufung in den Vietnamkrieg zu entziehen, nach Toronto (Kanada). Seit 1971 wohnt er in Vancouver, British Columbia (Kanada).
Auf der |University of British Columbia| begann William Gibson zu schreiben. 1977 verkaufte er, zu Beginn der Punkbewegung, seine Kurzgeschichte „Fragments of a Hologram Rose“ (später im Heyne-Verlag veröffentlicht in der Kurzgeschichtensammlung „Cyberspace“) an die wenig verbreitete Zeitschrift UnEarth.

Er begründete den Begriff |Cyberspace| und beschrieb die |Virtuelle Realität| (VR) und das |Internet|, bevor die meisten Menschen deren Existenz auch nur erahnten.

Der Cyberspace ähnelt im Großen und Ganzen unserem heutigen Internet. Während man, um das Internet zu benutzen, vor einem Bildschirm sitzt und seine Daten via Tastatur und Maus eingibt, |’steckt’| der User in Gibsons Vorstellung jedoch nur noch |’ein’|, worauf sein Geist in den Cyberspace eintaucht und dort agiert. Die Visualisierung basiert auf der Technologie der virtuellen Realität, die auf eine abstrakte Art und Weise an die reale Welt angelehnt ist.
Der Cyberspace wird z.B. genutzt, um Geschäftsprozesse von jedem Ort auf der Welt für die berechtigten Benutzer zugänglich zu machen. Aus den Mauern der realen Industriekomplexe und Banken werden im Cyberspace unsichtbare Mauern aus EIS (Elektronisches Invasionsabwehr-System). Auch hier gibt es, wie in der Realität, technische Möglichkeiten, diese Abwehrmechanismen zu umgehen. Genau wie in der realen Welt, treiben auch im Cyberspace Gauner, Diebe und Industriespione ihr Unwesen. Ihre Werkzeuge sind nur nicht mehr Dietrich und Schneidbrenner, sondern eigens zum Durchbrechen der Mauern aus EIS geschriebene Computerviren.
In Gibsons Vorstellung kann ein Deckjockey im Cyberspace auch sterben. Die Idee, welche dahintersteht, ist, dass, wenn der Geist im Cyberspace angegriffen und |getötet| wird, eine Rückkopplung erfolgt, die das Gehirn im wahrsten Sinne des Wortes grillt. Es besteht also ein gravierender Unterschied zwischen unseren heutigen Computerspielen, z.B. in Virtual-Reality-Cafés, und Gibsons Cyberspace. Wenn ein Deckjockey im Cyberspace einen schwerwiegenden Fehler begeht, dann wird kein virtuelles Leben abgezogen und es gibt auch keinen Schriftzug |Game Over|, der in roter Schrift im Blickfeld aufblinkt, der Deckjockey stirbt einfach – sowohl in der virtuellen als auch in der realen Welt.

Als Hommage an Gibsons „Neuromancer“ entstand das Pen&Paper-Rollenspiel „Cyberpunk“, welches in der düsteren Welt von „Neuromancer“ spielt.

William Gibson gilt auch als Begründer einer neuen literarischen Strömung in der Science-Fiction, dem |Cyberpunk| oder – in Anlehnung an „Neuromancer“ – der |Neuromantik|.

Der Titel „Neuromancer“ ist ein Wortspiel zu |Necromancer| (dt.: Nekromant), was soviel wie Geisterbeschwörer bedeutet, und |neuro|, also Nervensystem. Case, der Protagonist der Geschichte, ist ein zeitgenössischer, in naher Zukunft angesiedelter Zauberer. Seine Hexerei besteht darin, das menschliche Nervensystem mit dem elektronischen neuronalen Netzwerk der Computerwelt zu |interfacen| und diese zu manipulieren bzw. von ihr manipuliert zu werden. Dieser Gedanke folgt analog dem wechselwirkenden Eintritt eines Schamanen in traditionelle mystische Bereiche (die Geisterwelt) mittels Drogen und/oder Trance.

Das Genre ist geprägt vom Lebensgefühl der Punkkultur, die sich in einer modernen, von Elektronik geprägten Welt wiederfindet. Im Mittelpunkt steht ein Computernetzwerk ähnlich unserem Internet, der Cyberspace oder auch die Matrix, welches dem Menschen mittels Interfaces ein völlig neues Terrain eröffnet.

William Gibson verbindet in seinen Romanen zwei Strömungen der Science-Fiction, die |Hard SF| und die |New Wave| der siebziger Jahre. Seine wissenschaftlich-technische Extrapolation entstammt der Hard SF, während seine stilistische Ausführung New Wave pur ist, das heißt, er schreibt gesellschaftskritisch mit einem romantischen Impuls und er bedient sich des in der New Wave verwendeten Archetypus der Protagonisten.

Die Hard SF zeichnet sich durch einen logischen Positivismus, traditionelle moralische Werte und ein wissenschaftliches Weltbild aus. Streng wissenschaftlich orientiert, werden in simpler, transparenter Erzählkunst die Geschichten gestählter Könnertypen und gefühlloser Technikmenschen dem Leser nahe gebracht. Die Archetypen dieser Stilrichtung sind beispielsweise Computerhacker oder Weltraumkommandanten, die meist aus mittelständischen oder aristokratischen Gesellschaftsschichten stammen.
Aus der Sicht der Hard-SF-Autoren vertreten die Autoren des New Wave eine nihilistische, gegen Wirtschaft und Technik gerichtete Einstellung.

Die New Wave hingegen begründet sich auf ein |gesundes| Volksempfinden, welches sich in der Rebellion gegen Establishment und Krieg manifestiert. Sie steht für sexuelle Befreiung und einen kulturellen Pluralismus, aus dem sich ein charakterologischer Realismus ergibt, der sich auch in den Archetypen, wie z. B. Hippies oder Punks widerspiegelt. Stilistische Experimente, wie z. B. Slang oder mehrere Erzählstränge und ein starker romantischer Impuls, der sich in der Einbeziehung und Beschreibung des Banden- und Straßenmilieus offen zeigt, runden das Bild der New Wave ab.
Die New-Wave-Autoren werfen den Autoren der Hard SF vor, sie seien naiv, da sie zu glauben scheinen, ein Aufschwung in Wirtschaft und Technik müsse eo ipso zur Verbesserung der menschlichen Bedingungen beitragen.

Die Merkmale dieser beiden Strömungen galten lange Zeit als unvereinbar. Doch Gibsons Werke scheinen genau den Nerv der Zeit zu treffen. Er vereinigt in seinen Romanen eine komplexe Synthese der Popkultur mit High-Tech und einem fortgeschrittenen Schreibstil. Seine Werke beheimaten dichte und bizarre Storys, eine kantige und düstere Leidenschaft und intensive Detailfreude. Hervorzuheben sind dabei neben der Neuromancer-Trilogie, welche durch „Count Zero“ (Biochips) und „Mona Lisa Overdrive“ komplettiert wird, die |Sprawl-Serie|, zu der die Kurzgeschichten „Johnny Mnemonic“, „New Rose Hotel“ und das fabelhafte „Burning Chrome“ gehören. Die Charaktere sind ein Sammelsurium aus Verlierern, Gangstern, Abtrünnigen, Ausgestoßenen und Irren, mit denen man sich durchaus zu identifizieren vermag. Gibson schreibt von |normalen| Menschen, die sich in unserer technisierten Welt zurecht finden müssen und nicht von den unfehlbaren |Super|-Helden aus gehobenen gesellschaftlichen Schichten, wie es die Hard SF bevorzugt.

Im Vorwort von „Cyberspace“ schreibt Bruce Sterling über Gibsons Erzählungen:
|“(…) In seiner Welt ist die Wissenschaft kein Wunderbrunnen schrulliger Genies, sondern eine allgegenwärtige, alles durchdringende, greifbare Kraft.
Die Geschichten zeichnen ein Bild der modernen Misere, das ein jeder auf den ersten Blick erkennt. Gibsons Extrapolationen führen uns mit überspitzter Klarheit den verborgenen Teil eines Eisbergs sozialen Wandels vor. Dieser Eisberg treibt mit finsterer Majestät durchs späte zwanzigste Jahrhundert, aber seine Proportionen sind gewaltig und düster.“|

Gibsons Schreibstil, die kantige und düstere Leidenschaft seiner Geschichten, spiegelt sich in der Passage auf der ersten Seite des Buches wider. Er nutzt nicht nur in der wörtlichen Rede, sondern auch bei seinem Erzählstil eine Syntax, die dem Straßenslang sehr nahe kommt. Hier zeigt sich der Impuls des New Wave, der in Gibsons Geschichten eine große Rolle spielt.
|Case schloss die Augen.
Fand den geriffelten EIN-Schalter.
Und in der blutgeschwängerten Dunkelheit hinter den Augen wallten silberne Phosphene aus den Grenzen des Raumes auf, hypnagoge Bilder, die wie ein wahllos zusammengeschnittener Film ruckend vorüberzogen. Symbole, Ziffern, Gesichter, ein verschwommenes, fragmentarisches Mandala visueller Information.
Bitte, betete er, jetzt …
Eine graue Scheibe, Himmelsfarbe von Chiba.
Jetzt …
Die Scheibe begann zu rotieren, immer schneller, wurde zur hellgrauen Sphäre. Weitete sich.
Und floß, entfaltete sich für ihn. Wie ein Origami-Trick in flüssigem Neon entfaltete sich seine distanzlose Heimat, sein Land, ein transparentes Schachbrett in 3-D, unendlich ausgedehnt. Das innere Auge öffnete sich zur abgestuften, knallroten Pyramide der Eastern Seabord Fission Authority, die leuchtend hinter den grünen Würfeln der Mitsubishi Bank of America aufragte. Hoch oben und sehr weit entfernt sah er die Spiralarme militärischer Systeme, für immer unerreichbar für ihn.
Und irgendwo er, lachend, in einer weiß getünchten Dachkammer, die fernen Finger zärtlich auf dem Deck, das Gesicht mit Freudentränen überströmt.
in Liebe für Deb,
die es möglich gemacht hat|

Mir liegen noch ein paar Worte zur deutschen Übersetzung auf der Seele.

Zum Einen wirkt es ein wenig befremdlich, wenn man anstelle des weit verbreiteten Begriffes |Cyberspace| immer wieder |Kyberspace| lesen muss. Noch schlimmer kann man ein englisches Wort wohl kaum verunstalten – das erste Teilwort auf Deutsch und das zweite weiterhin auf Englisch. Nun gut, diese Übersetzung ist in der Mitte der achtziger Jahre entstanden und so mag man es dem guten Reinhard Heinz nachsehen, aber ehrlich gesagt, habe ich mich da im gesamten Buch nicht dran gewöhnen können.
Dieser Hirnverdreher ist zwar in der neuen Auflage behoben, dafür ist aber der gesamte Sprachstil |geglättet| worden. Meiner Meinung nach verliert der Roman dadurch viel an Atmosphäre. Da „Count Zero“ (Biochips) und „Mona Lisa Overdrive“ nicht mehr einzeln erhältlich sind, wird sich der geneigte Leser ein Bild davon machen können, wenn er die neue Fassung mit der alten vergleicht. Ich empfehle wirklich, den ersten Roman in der älteren Übersetzung zu lesen.
Leider tritt das gleiche Phänomen auch bei der Kurzgeschichtensammlung „Cyberspace“ auf und auch hier verlieren die Geschichten an Atmosphäre.

Alles in allem ist dieses Buch in jedem Falle ein Leckerbissen für alle „Cyberpunk“- und „Shadowrun“-Rollenspieler, aber auch alle Nicht-Rollenspieler, die sich an diesem Genre erfreuen, werden ihre helle Freude daran haben.

|Siehe ergänzend dazu Michael Matzers [Rezension]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id_book=521 zum Hörspiel.|

Stephen Baxter – Evolution

Über mehr als eine halbe Milliarde Jahre spannt sich der Bogen dieses Romans, der den langen Weg der Menschwerdung beschreibt, um schließlich mit dem Ende der Menschheit und sogar allen Lebens zu schließen; in seinen ersten beiden Dritteln ein Quasi-Sachbuch mit erzählerischen Elementen, das mit dem Sprung in die nahe und besonders in die ferne Zukunft den Charakter einer Vision gewinnt. Ob 1000 Seiten erforderlich sind, eine im Grunde aus Episoden montierte Geschichte zu erzählen, ist ein diskussionswürdiger Punkt. Zwar nicht „das große Meisterwerk der Science Fiction“ (Klappentext), aber definitiv ein lesenswertes Buch! Stephen Baxter – Evolution weiterlesen

Bionda, Alisha (Hg.) / Borlik, Michael (Hg.) – Wellensang

Mit der Anthologie „Wellensang“ haben Alisha Bionda und Michael Borlik eine Sammlung von Kurzgeschichten zusammengetragen, die „nicht im Einheitsbrei der Masse untergehen sollte“.

Die Anthologie umfasst achtzehn Geschichten mit einem breit gefächerten Spektrum in der Thematik, es reicht von alten Kulturen über Märchen und Futuristisches bis zu typischen Fantasy-Motiven wie Zwergen und Drachen.
So erzählt „Das Lied der Krähe“ von einer geraubten und zur Ehe gezwungenen keltischen Fürstentochter, die grausame Rache an ihrem Entführer nimmt, die „Welt zwischen den Zeilen“ von einem Mädchen, das einen Weg aus seiner kalten und technisierten Welt sucht, „Wenn die Eiswölfe singen“ vom Kampf einer unvollständig ausgebildeten Hexe gegen die Eroberer ihrer Heimat, und „Dämonenbrut“ von einem Drachen, dessen Brut sich vom Angstschweiß der Menschen ernährt.
Einige Geschichten verknüpfen unsere alltägliche Welt mit einer Fantasiewelt, wie zum Beispiel „Mohnblumenkönigin“, andere spielen ganz in unserer, wie „Haus ohne Schlüssel“, oder ganz in einer Fantasy-Welt, wie „Heimkehr nach Kalipay“. Manche lassen uns schmunzeln, wie „La Belle et la Bête“, oder gruseln, wie „Zwischen 9 und 9“.

Zu den Schmunzel-Geschichten gehört „Die Tränen des blauen Gottes“. Zwei Gauner versuchen den Coup ihres Lebens: Sie wollen den Tempel des blauen Gottes berauben. Gläubige bringen dem Gott kostbare Opfer dar, Gold und Silberschmuck, mit Perlen und Juwelen verziert, um dafür mit seinen Tränen beschenkt zu werden, faustgroßen blauen Edelsteinen. Der kleinere der beiden Gauner hat ausgekundschaftet, dass diese Edelsteine keine echten Tränen sind, sondern von den Priestern durch die löchrigen Augenhöhlen der Götterstatue hindurchgereicht werden. Tatsächlich gelingt es den beiden, sich Edelsteine aus dem Tempel zu beschaffen….
Die Geschichte ist leicht und amüsant erzählt, trotz der Erzählkürze sind die beiden Gauner gut getroffen, auch wenn das Duo „klein und schlau“ gemeinsam mit „groß und eher langsam“ nicht ganz neu ist. Leider geht die eigentliche Ironie der Erzählung etwas verloren, weil das Ende zu früh absehbar ist, deshalb gehört diese Geschichte auch nicht zu den besten des Buches.

„Zolineks Geschichte“ ist eigentlich Erikas Geschichte, aber Zolinek ist derjenige, der sie erzählt. Zolinek ist ein Zwerg, der mit seiner Frau, einer Koboldin, als Kräuterverkäufer durchs Land zieht. Die beiden fanden Erika im Wald und päppelten das arme Wesen wieder auf. Erika fängt an, ihnen zu vertrauen, und erzählt ihnen, dass der für seine Grausamkeit berüchtigte Graf Sulak ihre ganze Familie ermorden ließ. Jetzt ist er hinter Erika her. Erika aber will nicht davonlaufen, sondern sich rächen, und macht sich auf die Suche nach jemandem, der ihr den Weg zu einem besonderen Berg zeigen kann. Dort wohnt ein Geist, den sie um Hilfe bitten will. Doch die Suche zieht sich in die Länge, und die Häscher kommen näher….
Was diese Erzählung auszeichnet, ist weniger die Handlung an sich als die liebevolle Erzählweise, in der die Geschichte vorgetragen wird. Zolinek erzählt mal drollig, mal ernst, und man kann beinahe die Kummerfalten auf seiner Stirn sehen, wenn er zum Ende kommt. Der Zwerg wird durch seine Worte richtig lebendig, was unter anderem daran liegt, dass er ebenso viel von sich und seiner Frau wie von Erika erzählt. Dieser Teil der Geschichte ist der interessantere, denn im Gegensatz zu der Handlung um Erika, die im Grunde nicht viel hergibt, sind die Beschreibungen des kuriosen Paares und seines Planwagens samt Mitbewohner einfallsreich und gelungen.

Zu meinen eindeutigen Favoriten gehört „Das Orakel“. Die junge Priesterin der Pinks, vogelähnlicher Wesen, sucht in jeder Vollmondnacht die Höhle ihres Gottes auf. In diesen Nächten öffnet sich die Tür zum Orakel, das vorhersagt, was in dieser Nacht geschehen wird. Denn in den Vollmondnächten passieren seit mehreren Mondzyklen jedes Mal irgendwelche Katastrophen…
Edgar Halverfeld wird seit mehreren Monaten von Albträumen geplagt, immer in den Vollmondnächten, und die ganze Nacht hindurch immer wieder. Alle Versuche wachzubleiben, sind gescheitert, schlag Zwölf schläft er ein und träumt jedesmal von entsetzlichen Katastrophen….
Hier lebt die ganze Geschichte voll von den beiden parallelen Handlungen, wobei der Teil um Edgar der kleinere ist. Die fremde Welt der Pinks ist nur knapp skizziert, gerade ausreichend, damit der Leser versteht, worum es geht, und doch fließen hier und da ein paar im Grunde völlig nebensächliche Details ein, mit der frappierenden Wirkung, dass man plötzlich das Gefühl hat, es ganz genau zu wissen. Tatsächliche Antworten erhält man aber kaum. Nur eine kurze Erklärung wird geliefert, warum die Welt der Pinks und die Edgars auf einmal durch eine Tür miteinander verbunden sind. Andere Fragen wie die nach dem Grund für Edgars Albträume und Ahnliches bleiben unbeantwortet. Die Geschichte erhält dadurch etwas Rätselhaftes. Gute Idee gut umgesetzt.

„Von Zähnen, Sternen und Feen“ hat zunächst überhaupt nichts Fantastisches an sich. Jeff verschluckt sich beim Frühstück an einem ausgebissenen Zahn. Sein letzter Milchzahn. Aber die Bemerkung seines Vaters über die Zahnfee bringt ein Fass zum überlaufen und es gibt Zoff. Was das Fass gefüllt hat, erfährt man allmählich, während Jeff die Schule schwänzt. Als er endlich abends im Bett liegt, erlebt er eine Überraschung.
Jeff hat offenbar nicht unbedingt das beste Zuhause, aber im Großen und Ganzen klingt das alles eigentlich ziemlich banal und alltäglich. Wenn da nicht das seltsame Verhalten von Jeffs Mutter wäre. Jeff grübelt darüber nach, ob sie wirklich trinkt, wie ein Klassenkamerad behauptet hat. Richtig gruselig wird es erst, als die Zahnfee auftaucht, und der Leser grübelt hinterher über etwas ganz Anderes nach: „War sie’s oder war sie’s nicht?“

Auch die Hauptfigur in „Die gläserne Stadt“ ist ein amerikanischer Durchschnittsjunge, und er läuft vor etwas davon, stürzt aber im Nebel und landet an einem unbekannten Ort. Er befindet sich an einem stillen, dunklen Fluss, und jenseits schimmert Licht. Dann taucht eine Gestalt auf, die eine Maske trägt. Sie ist gekommen, um Martin etwas zu zeigen, etwas jenseits des Flusses…
Die Geschichte hat große Ähnlichkeit mit einer Traumsequenz, ist aber nicht wirr und auch nicht beängstigend. Sie spiegelt eine Art Suche wieder, ein Verarbeiten von Verlust, eine Auseinandersetzung mit dem Tod. Auch hier bleiben Fragen offen, zum Beispiel, um wen es sich bei dem geheimnisvollen Maskierten handelt, aber die Botschaft ist eindeutig tröstlich.

Eine wirklich traurige Geschichte dagegen ist ein weiterer meiner Favoriten: „Heimkehr nach Kalipay“. Kalipay ist ein wunderbarer Ort, fast ein Paradies. Doch die Jungen werden mit zwölf Jahren aus Kalipay fortgeschickt, um in einer wüsten Ödnis nach seltenen Steinen zu graben. Für die Steine erhalten sie Punkte, und nur mit genügend Punkten dürfen sie nach Hause zurückkehren. Siebenundzwanzig Jahre schuftet Gashiah schon, und ist trotzdem noch unendlich weit vom Ziel entfernt. Nur weil er bereit ist, sich in tödliche Gefahr zu begeben, kann er schließlich seine Heimat wieder betreten. Doch das Paradies währt nur kurz…
Das Erstaunlichste an der Geschichte ist, dass Gashiah am Ende zufrieden ist so wie es ist, und das trotz all der Jahre des Schuftens und der Sehnsucht. Dieses Akzeptieren ohne jede Bitterkeit verleiht der Geschichte einen Hauch wehmütiger Melancholie und ihrem Helden innere Größe.

Auch wenn die angesprochenen Erzählungen nur ein Drittel des Buches ausmachen, dürfte die Vielfalt und Besonderheit der Sammlung deutlich geworden sein, und man darf den Herausgebern bescheinigen, dass sich diese Anthologie in der Tat von der Masse abhebt: Keine Abenteuerfahrten, kein Held, der als einziger die Welt retten kann, keine Schlachten, keine großen Zauberer. Alle Geschichten zeichnen sich durch ein begrenztes Umfeld aus, das sich mehr oder weniger stark auf die Hauptperson konzentriert. Es sind kleine Welten, die hier dargestellt sind, und kleine Geschehnisse, auch wenn sie große Folgen nach sich ziehen.
Der Grund dafür liegt sicher auch in der Erzählform der Kurzgeschichte. Im Vordergrund steht das Geschehen an sich, Landschaftsbeschreibungen oder detaillierte Charakterdarstellungen fehlen. Für epische Breite ist kein Platz. Kurzgeschichten sind Momentaufnahmen, sie neigen zur Unvollständigkeit, fangen mittendrin an und hören auch mehr oder weniger mittendrin auf. Im Gegensatz zum Roman, wo man ungeklärte Fragen als Manko empfindet, gehört dies hier durchaus dazu. Eine Kurzgeschichte macht sich nicht die Mühe zu erklären, sondern verlangt, dass der Leser selbst nach einer Erklärung sucht, Lücken ausfüllt, sich vielleicht ein eigenes Ende oder eine eigene Vorgeschichte ersinnt.
Das unterscheidet diese Anthologie auch von anderen wie zum Beispiel der Diebeswelt, die Robert Asprin ins Leben rief. Dort wurde eine gemeinsame Welt erschaffen, in der die Geschichten aller Autoren spielen, und die Geschichten wurden mehrfach fortgesetzt, wodurch die Diebeswelt schon wieder epische Ausmaße annimmt. In „Wellensang“ steht jede Geschichte und jede Welt für sich allein, und es gibt auch zu keiner eine Fortsetzung, sodass der Charakter der Kurzgeschichte erhalten geblieben ist. Dadurch kann man das Buch nicht einfach von vorne nach hinten durchlesen. Es empfiehlt sich, zwischen den einzelnen Geschichten Pausen einzulegen und das Gelesene nachwirken zu lassen.

Ich fand die Sammlung äußerst bemerkenswert. Im Allgemeinen liegen mir Kurzgeschichten nicht so sehr, ich ziehe Geschichten, die sich über längere Zeit entwickeln, den Anthologien vor. Diese war jedoch eine angenehme Abwechslung, sowohl in sich selbst als auch im Vergleich zu anderen Werken. Auch wenn ich vereinzelt Assoziationen zu bekannten Werken hatte, wie in „Das Lied der Krähe“ und „Zwischen 9 und 9“, ist der Großteil der Geschichten erfrischend unverbraucht und außergewöhnlich.
Bemerkenswert finde ich aber nicht nur die Geschichten, sondern auch die Illustrationen jeweils am Beginn der einzelnen Geschichten. Mal romantisch, mal als Karrikatur, geben sie wesentliche Teile der Geschichte wieder und fügen sich harmonisch ins Gesamtbild der Anthologie ein. Sehr gelungen.
Ebenfalls lobend erwähnen möchte ich das ausgezeichnete Lektorat des Buches, was leider immer weniger selbstverständlich wird.

„Wellensang“ trägt den Untertitel „Fantasy-Welten“.
Zu meiner Schulzeit unterschied man noch zwischen Fantastischer Literatur und Fantasy, wobei Fantasy als trivial galt und deshalb das Schmuddelkind war, das man bestenfalls nachsichtig belächelte. Literatur dagegen war, grob vereinfacht gesagt, interpretierbar.
„Wellensang“ zeigt, dass diese strenge Grenze offenbar durchlässig geworden ist. Viele der darin enthaltenen Geschichten zeigen deutliche Spuren fantastischer Literatur. Im Gegenzug hat der Begriff „Fantasy“ seinen abwertenden Beigeschmack verloren.
Stephanie Bense hat sich im letzten Kapitel des Buches die Mühe gemacht und versucht, den Bergen von Genres und Subgenres ein gewisses Maß an Ordnung und Erklärung zu geben. Es ist ihr gut gelungen, ich gestehe aber, dass es für mich persönlich nicht so wichtig ist, zu welchem Genre oder Subgenre eine Geschichte gehört. Wichtig ist, dass das Thema mich anspricht und die Geschichte gut erzählt ist. Von „Wellensang“ kann ich das fast ausnahmslos behaupten. Die Erzählungen kommen aus vielen verschiedenen Ecken, sodass für jede Vorliebe etwas Passendes dabei sein dürfte, und sie sind flüssig und gut erzählt. Was man jedoch vergeblich sucht, ist Action. Auch wer es gern monumental mag, wird hier nicht auf seine Kosten kommen.

Sowohl Alisha Bionda als auch Michael Borlik haben bereits mehrere Kurzgeschichten veröffentlicht und auch bei diversen Anthologien mitgewirkt. Von Alisha Bionda ist der Fantasyroman „Regenbogen-Welt“ in Vorbereitung. Michael Borlik schreibt außerdem an seinem zweiten Roman. Zu beiden sowie auch zu den Autoren der einzelnen Geschichten und dem Illustrator findet man im Anhang des Buches eine Art Ministeckbrief.

http://www.alisha-bionda.de
http://www.borlik.de

Romain Sardou – Das dreizehnte Dorf

Ein Dorf in Südfrankreich, die Hauptstadt Paris und die Papstmetropole Rom sind Schauplätze dieser Geschichte, die drei Gruppen ahnungsloser Zeitgenossen auf die Spur eines uralten, europaweiten Komplotts führt … – Ein weiteres der beliebten „Verschwörung-im-Vatikan“-Garne, dieses Mal im Mittelalter angesiedelt; mächtig verwickelt, doch nur bis zur enttäuschenden Auflösung wirkungsvoll. Zuvor spielt der Verfasser geschickt mit den Klischees des „finsteren Mittelalters“, wobei er sacht Elemente des Mystery- bzw. Horrorthrillers einfließen lässt. Das Ergebnis kann mit den Ambitionen des Verfassers nicht mithalten, weiß aber zu unterhalten. Romain Sardou – Das dreizehnte Dorf weiterlesen

Barth, Claudia – Über alles in der Welt – Esoterik und Leitkultur

Wir kennen solche kritischen Bücher, wo alles Esoterische als tendenziell faschistisch diffamiert wird, und winken meist müde bis stark verärgert ab. Dieses Buch bildet keine Ausnahme und dennoch ist es anders als die einschlägig bekannten diffamierenden Texte.

Die junge Autorin greift in keinem Satz aggressiv unter der Gürtellinie an, sondern rezipiert im Detail, was man vorfindet, wenn man gut recherchiert. Und sie hat hervorragend recherchiert. {Der Lektor wackelt mit dem Koppe ein Naja, sacht aber nüschte.} Natürlich muss ihrer Grundannahme widersprochen werden, dass Esoterik grundsätzlich entpolitisiere und deswegen kein soziales Engagement mehr beinhalten könne, und natürlich auch, dass alles was an monotheistischer Religionskritik geäußert wird – vor allem jüdisch-christlicher Prägung – deswegen schon faschistisch infiziert sei. Sicher gibt es solche Bezüge – die man aber nicht so überzogen thematisieren und gleichsetzen muss mit menschenverachtenden Ideologien -, die jeder Esoteriker kennen und nicht einfach die Augen verschließen sollte. Claudia Barth liefert dafür die historischen Fakten und Zusammenhänge auf eine durchaus neue und interessante Art, die lesenswert erscheint. Sie steht in der Tradition der antifaschistischen Linken und untersucht Esoterik deswegen auf spezifisch deutsche Ausprägungen. Die Fakten aus der Zeit vor und während des 3. Reiches sollte man einfach kennen und im zweiten Teil vergleicht sie die damaligen Strömungen mit denen unserer heutigen Zeit.

Sie unterliegt dabei auch sehr merkwürdigen Annahmen, indem sie angesehene Wissenschaftler wie Fritjof Capra oder Rupert Sheldrake zu Sozialdarwinisten macht oder sogar einmal mehr das „Zentrum einer experimentellen Gesellschaftsgestaltung“ (ZEGG) bei Berlin zu einer „braun“ gefärbten Sekte abstempelt. Letztere Befürchtungen wären ganz einfach auszuräumen, wenn man diese sogenannte Sekte einfach mal besuchen würde und sich anschaut, was da real passiert, anstatt nur in Anschuldigungen nachzulesen.

Einige Kritiken erscheinen zutreffend: Zum Beispiel die Kritik an der hierarchischen Form und dem Geschichtsbild der „systemischen Familientherapie“, wie sie Bert Hellinger betreibt. Auch die Entmystifizierung von Tibet und seinem Buddhismus erscheint notwendig. Nicht, um den tibetischen Buddhismus zu diskreditieren, aber der Mythos eines friedlichen Volkes ist geschichtlich gesehen einfach unrichtig. Solche Fakten sollte man kennen, wenn man ernsthaft mitreden möchte.

Obwohl die Autorin also zu den Gegnern von Esoterik zählt und überall Faschismus wittert, bleibt das Buch spannend, informativ und kann empfohlen werden, da es sich nicht auf dem gewohnt platten Feindbild-Niveau des „Wir vernichten euch und schlagen euch die Fresse ein“ bewegt. {Nachtrag des Lektors: Ja, an die Sorte AntiFas kann ich mich noch vom letzten WGT erinnern, auf dem ich war. Die hatten sich ihre Meinung geBILDet und radikal wie gehabt „nachgeschlagen“, allerdings nicht in Büchern.}

|Ursprünglich erschienen im Magazin [AHA]http://www.aha-zeitschrift.de
Ausgabe 02/2004|

Webb, Don – Uncle Setnakt`s Essential Guide To The Left Hand Path

Der profanen Öffentlichkeit ist der in Austin/Texas lebende Don Webb primär als Science-Fiction-Autor bekannt. Um einen kleinen Überblick seines schriftstellerischen Schaffens zu geben, seien hier exemplarisch „Spell for the Fullfillment of Desire“ (1996), „The Double. An Investigation“ (1998), „Essential Saltes. An Experiment“ (1999) und „Endless Honeymoon“ (2001) genannt. In deutscher Sprache ist von Don Webb bislang nur das seit geraumer Zeit vergriffene „Märchenland ist abgebrannt. Profane Mythen aus Milwaukee“ erschienen.
Weniger bekannt ist sein Status in der okkulten Welt als Vordenker des Setianismus – er bekleidete lange Zeit das Amt des High Priest im „Temple of Set“, bis er am 9.9.2002 von Zeena Schreck abgelöst wurde (inzwischen hat ToS-Gründer Michael Aquino das Amt wieder übernommen).

Setianismus ist eine religiöse Strömung des „Pfades zur Linken Hand“ bzw. „Left Hand Path“ (LHP) und versteht sich somit als strikte Abgrenzung zu den sog. „Weltreligionen“, welche eine Unterordnung oder sogar Auslöschung des menschlichen Individuums zugunsten eines metaphysischen Prinzips (Gott, Nirwana usw.) fordern. Die begriffliche Unterscheidung von linkshändigen und rechtshändigen Pfaden stammt ursprünglich aus dem Hindu-Tantra. Die linke Seite wird in Indien sowohl mit gesellschaftlichen Tabus als auch der dynamischen Energie des Shakti assoziiert. LHP steht im Gegensatz zum stärker verbreiteten „Right Hand Path“ (RHP) für die Bejahung der weltlichen Existenz und der Vergöttlichung des individuellen Ichs. Da die linke Hand ein interkulturell verständliches Symbol sein kann, ist der LHP gut als Universalbegriff geeignet, um westliche Strömungen wie etwa Saturngnosis oder eben Setianismus unter einer gemeinsamen Kategorie einzuordnen.

Im Zentrum des setianischen Interesses stehen persönliche Autonomie und willentliche Selbsterschaffung. Das mythologische Ideal dieses Prinzips ist der ägyptische Wüstengott Seth, welcher seine Geburt selbst einleitete und gegen kulturelle („städtische“) Normen opponiert, aber auch diejenigen Menschen, welche durch die Wüste reisen, beschützt. Seine Hauptkontrahenten sind die Dämonenschlange Apophis (das ungebändigte Chaos) und Osiris, der „sterbende Gott“ (mythologische Parallelen zwischen Osiris und Jesus Christus sind unverkennbar), welcher die Stasis repräsentiert. Ob Seth dabei als tatsächliche Entität oder als archetypisches Prinzip interpretiert wird, ist aus setianischer Sicht nebensächlich. Seth, der auch als „Fürst der Finsternis“ oder „Feind der Götter“ bezeichnet wird, sucht nicht nach Anbetung, sondern nach Individuen, die von „seiner Art“ sind. Der Logos Aionos von Seth ist „Xeper“, ein altägyptisches Verb, welches übersetzt in etwa „ich bin geworden“ bedeutet und rückwirkend die persönlichen Fortschritte eines Setianers bezeichnet. Dies nur als Erläuterung zu dem religiösen Umfeld, aus welchem Don Webb stammt (wer sich für diese Thematik interessiert, kann sich unter http://www.xeper.org näher informieren).

„Uncle Setnakt`s Essential Guide To The Left Hand Path“ ist jedoch mitnichten ein rein setianisches Buch. Don Webb gibt in dieser Abhandlung vielmehr – wie der Titel schon andeutet – einen Einblick in die allgemeine Praxis des (westlichen) Pfades zur Linken Hand. „Praxis“ ist hier der maßgebliche Begriff – das Buch soll weder umfassend über die kulturellen Hintergründe des LHP informieren, noch den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben. Diesen beiden Kriterien hat bereits Don Webbs Kollege Stephen Flowers in seiner theoretischen Abhandlung „Lords of the Left Hand Path“ erfüllt. Der „Essential Guide“ hingegen hat für den geneigten Leser nur dann einen echten Wert, wenn er nach der Lektüre die Ärmel hochkrempelt und die vorgestellten Praktiken konsequent realisiert. LHP ist keine Religion für die „schlecht weggekommenen“, sondern ein Pfad für Individualisten, die bereit sind, für ihr persönliches Glück hart zu arbeiten – dies macht Don Webb unmissverständlich klar.

Dennoch kommt auch der Humor nicht zu kurz, denn LHP soll in erster Linie Lebensfreude bereiten. „Uncle Setnakt“ ist ein Pseudonym, unter welchem Don Webb einst eine humoristische Kolumne namens „Uncle Setnakt says“ schrieb, da er es leid war, die Prinzipien des LHP ausschließlich in wissenschaftlicher (und somit häufig auch ziemlich trockener) Manier zu verdeutlichen. Im „Essential Guide“ setzt „Onkel“ Webb diese Tradition fort.

Das Buch gliedert sich in vier Hauptteile. Der erste Teil, „The Nature and Goals of the Left Hand Path“, liefert die theoretische Basis für die nachfolgenden Kapitel. Don Webb erläutert hier, was Initiation im Sinne des LHP ist und wie sie funktioniert. Er diskutiert u.a. das Prinzip individueller Souveränität, die Position des Ichs im Kosmos, die Psychologie der Initiation sowie ihre „Tugenden“ und „Laster“, das Wesen der Magie und eine inhaltliche Abgrenzung zum Pfad zur Rechten Hand (RHP).
Der zweite Teil, „Practise“, vermittelt einen Katalog von LHP-konformen Aktivitäten und persönlichen Charaktereigenschaften, welche die Initiation eines LHP-Adepten begünstigen oder sogar erst ermöglichen. Wer bereits auf diesem Pfade unterwegs ist, wird garantiert erkennen, dass er bereits einige der genannten Dinge in sein Leben integriert hat.

Der dritte Teil, „The Grand Initiation“, nimmt rund 40 Seiten ein. Es handelt sich dabei um eine Art Einweihungsritus, welchen Don Webb persönlich entwickelt hat. Er ist nicht obligatorisch, aber wer eine größere Herausforderung sucht, und Gefallen an Webbs Ritualen gefunden hat, wird hier sicherlich etwas für sich herausziehen können. Zusätzlich kann der Leser hier etwas über das Konzept von Xeper erfahren. Die „Grand Initiation“ richtet sich allerdings an Fortgeschrittene, weshalb es mir etwas unklar ist, weshalb Don Webb sie nicht als letztes Kapitel oder Anhang verwendet hat.
Der vierte und letzte Teil, „Resources“, vermittelt dem Leser ein paar nützliche Werkzeuge für seine persönliche Initiation.

„Onkel Setnakts Handorakel“ ist dabei noch eher als Gimmick zu sehen, denn der Initiand kann hiermit Lösungsansätze für seine Probleme erwürfeln. Wer dem mit einem ironischen Augenzwinkern begegnen kann, wird jedoch durchaus mit ein paar konstruktiven Ideen beglückt werden. Ferner vermittelt Don Webb ein paar wirklich gute Lesetipps und erklärt exemplarisch anhand einer kurzen Geschichte, wie der Weg einer oder eines Initiierten verlaufen kann. Ein paar FAQ zum LHP können Neuligen dabei helfen, ihre eigene Position präziser zu bestimmen. Fortgeschrittene werden schließlich in der Lage sein, eine für sie selbst passendere Literatur- oder FAQ-Liste zu erstellen – und somit die Komplexität des LHP erweitern.

Abschließend gibt Don Webb einen kurzen Einblick in die Lehren des Temple of Set. Er will damit jedoch keinesfalls missionieren, sondern ein gutes Beispiel für eine renommierte LHP-Institution geben. Man kann den LHP nur für sich selbst beschreiten, aber ab einem gewissen Punkt benötigt jeder Initiand eine professionelle Schulung durch andere, wenn er oder sie nicht stagnieren will.

Es scheint mir evident zu sein, dass ein solches Buch polarisieren muss – jeder muss selbst herausfinden, ob er oder sie dem LHP etwas abgewinnen kann. Don Webbs „Uncle Setnakt`s Essential Guide To The Left Hand Path“ ist neben Frank Lerchs „Nightworks“ jedenfalls definitiv das beste praxisorientierte Buch über den Pfad zur Linken Hand, welches mir bislang untergekommen ist. Wie Stephen Flowers treffend in seiner Einleitung bemerkt:

„[Don Webb] reiht nicht einfach nur Wörter aneinander, um seinen Lesern Vergnügen zu bereiten und sie zu unterhalten – obgleich er dieses auch tut – er bietet dir mit diesem Führer das größte Abenteuer an, welches das Leben zu bieten hat.“

Das Buch kommt als Paperback, kostet 16 $ und kann bestellt werden unter:

http://www.runegild.org/runaraven1.html

Colin Forbes – Das Double

Das geschieht:

Im März 1943 gelingt es deutschen Widerstandskämpfern, Adolf Hitler, Diktator des „Dritten Reiches“, zu töten, als dieser von der russischen Kriegsfront in sein geheimes Hauptquartier, die „Wolfsschanze“, fliegt. Reichsleiter Martin Bormann, skrupelloser Drahtzieher im Schatten seines „Führers“, kann das Attentat, das dem Nazi-Regime ein Ende bereiten würde, geheim halten. Vor Jahren hat er bereits ein Hitler-Double ausgebildet. Der ehemalige Schauspieler Heinz Kuby beherrscht die Rolle seines Lebens perfekt. Nun soll er den Krieg als Marionette Bormanns fortsetzen. Aber Kuby hat nicht nur Hitlers Aussehen und Auftreten, sondern auch seinen Größenwahn übernommen. Bormann steckt in der Klemme, denn er kann auf Kuby nicht verzichten.

Die Alliierten planen einen gewagten Agenteneinsatz gegen das Reich. Ein sorgfältig präparierter ‚Überläufer‘ wird in die „Wolfsschanze“ eingeschleust: Ian Lindsay ist ein Neffe des Herzogs von Dunkeith. Hitler hat ihn vor dem Krieg persönlich kennen und schätzen gelernt. Lindsay soll dem „Führer“ ein geheimes Friedensangebot unterbreiten. Hitler, dem wegen der deutschen Schwierigkeiten an der Ostfront eine Ruhepause im Westen sehr gelegen käme, müsste eigentlich anbeißen, doch Hitler ist nun Kuby, der Lindsay nie getroffen hat … Colin Forbes – Das Double weiterlesen

Brown, Dan – Sakrileg

Robert Langdon is back – drei Jahre lang hat Autor Dan Brown nach seinem Bestseller „Illuminati“ nun herumgeeiert, um der mit den Füßen scharrenden Leserschaft so etwas wie einen zweiten Teil aufs Auge zu schrauben und zu schreiben. Die deutsche Leserschar musste sogar bis zum 19. Februar 2004 warten, bis die Übersetzung erschien – womit wir wieder einmal bei einem leidigen Thema wären: Warum werden für die deutschen Ausgaben immer solch vollkommen birnige Titel verhunzt, anstatt den aussagekräftigen Originaltitel korrekt mit „Der Da-Vinci-Code“ zu übersetzen? Aber nööö, offenbar haben nichts sagende Buchtitel, die mit dem Inhalt nicht im Zusammenhang stehen, grade Hochkonjunktur. Der 600 Seiten starke Hardcover-Wälzer ist also recht druckfrisch auf dem Markt und sucht seine Käufer, die bereit sind 19,90 Euronen dafür hinzublättern und ich bin sicher, die wird er auch ganz bestimmt finden, denn die Fangemeinde Browns ist nicht gerade klein – zu Recht. Doch schauen wir mal, was der Nachleger zu bieten hat, die stehen ja meist im Schatten ihres Prequels.

_Auf der Flucht – Zur Story_
Nach dem Showdown im Vatikan (siehe „Illuminati“) ist nun ein knappes Jahr vergangen und Harvard-Symbolologe Robert Langdon ist ein wenig zur Ruhe gekommen. Derzeit gibt er in Paris einige Vorlesungen über religiöse Symbolik, wobei er auf einem Weg auch gleich mit einer Koryphäe zum Essen verabredet ist, mit dem er über das Manuskript seines geplanten Buches schwatzen will. Das neue Buch enthält einige Thesen, die kirchlichen Zündstoff bedeuten, daher möchte er die Meinung von Jacques Saunière – seines Zeichens Leiter der berühmten Pariser Kunstgalerie im Louvre und Experte auf diesem Gebiet – auf dessen Einladung hin einholen. Doch Saunière erscheint nicht – kann er auch nicht, denn er liegt (bereits im Prolog) erschossen im besagten Louvre. Dafür klingelt die französische Mordkommission ihn unsanft aus seinem Hotelbett. Diese hält ihm ein Polaroid der gefundenen Leiche vor die Augen und bittet ihn, sich den Tatort anzuschauen, denn die Verrenkungen, sprich: die Auffindesituation des Körpers ist nicht nur seltsam, sondern wurde vom Opfer auch offensichtlich selbst herbeigeführt und ist nicht dem Täter zuzuschreiben. Die Spuren und Hinweise, die der Sterbende mit letzter Kraft geliefert hat, sind überaus rätselhaft…

…was Langdon jedoch nicht ahnt, ist, dass er insgeheim beim leitenden Beamten als Haupttatverdächtiger gilt, denn der ermordete, umtriebige Kustus des Louvre war nicht nur ein Experte auf dem Gebiet der freimaurerischen Symbolik, sondern auch der Großmeister einer freimaurerischen Loge: Der berühmten „Prieuré de Sion“. Die Hüter des Geheimnisses über die wahre Natur und das derzeitige Versteck des heiligen Grals. Dumm für Langdon, dass der Sterbende, bevor er das Zeitliche segnete, eine ausgeklügelte Spur in die Vergangenheit gelegt hat, die nur Langdon in Zusammenarbeit mit der Enkelin (Sophie – ihres Zeichens ebenfalls Polizistin und zudem passionierte Kryptologin/Codeknackerin) des Opfers lösen kann, der Saunière auf perfide Weise auch eine verschlüsselte Botschaft hat zukommen lassen. Leider missinterpretiert die Pariser Polizei die Fingerzeige, da sie von der verwendeten und stark verschachtelten Symbolik nicht den blassesten Schimmer hat. So kommt es denn, dass die beiden – nach überhasteter Flucht vom Tatort – auf der Schnitzeljagd nach dem heiligen Gral nicht nur den wahren Killer, sondern auch die französische Polizei im Genick sitzen haben…

_Verschwörungstheorie – Kritik_
Das überaus bewährte Strickmuster Browns geht in die Zweite (wenn man „Meteor“ hinzurechnet, sogar in die dritte) Runde. Jedoch ist dies der zweite Roman mit Robert Langdon als Protagonisten, daher muss er sich als Nachleger direkt mit dem ersten Werk messen lassen… und die Messlatte liegt hoch. Wieder ist es das „alte Europa“, wieder ist es ein alter Geheimbund, um den sich alles dreht. Für Browns Geschichten halten stets reale Orte und ebenso reale Begleitumstände her, allerdings liegt es in der dichterischen Freiheit eines Belletristikers, Realität und Fiktion miteinander zu vermengen, im Idealfall springt dabei ein spannender Plot heraus. Das ist ihm hier auch ganz gut gelungen, obschon dem gut informierten Verschwörungstheoretiker vieles sehr bekannt, anderes allerdings hanebüchen und etwas verfälscht vorkommt.

Wie schon bei Illuminati, stehen die Kontrahenten bereits auf den ersten Seiten augenscheinlich fest, da hätten wir in der roten Ecke die Loge der „Prieuré de Sion“, die sich als Hüter und rechtmäßige Erben des heiligen Grals und Nachkommen des biblischen Stammes David sehen. In der blauen Ecke hockt – ob dieser Gotteslästerung hoch motiviert – der Hardliner-Flügel des Katholizismus, „Opus Dei“, die den klerikalen Status Quo liebend gern mit Zähnen und Klauen verteidigen wollen. Doch kann man bei Brown darauf vertrauen, dass die Loyalitäten und Absichten seiner Figuren im Laufe der Handlung nicht in Stein gemeißelt sind.

Wie gewohnt verquickt er Mystizismus und Symbolik in einem Kriminalroman, der wieder einmal in einem wilden Wettlauf gegen die Mächte der (weltlichen und kirchlichen) Finsternis gipfeln, diesmal jedoch ist sein Protagonist der Gejagte, dabei ist es nicht nur die französische Polizei, vor der sich Langdon in Acht nehmen muss, da er unter akutem Mordverdacht steht. Ein ganzer Tross mehr oder weniger zwielichtiger Gestalten mischt auch noch mit, und deren Motivationen sind bis zuletzt nicht ganz klar. Die intelligent – und in Teilen real nachvollziehbare – gemachte Schnitzeljagd erhält durch den Ständig-auf-der-Flucht-Faktor eine etwas andere Komponente, erscheint jedoch an mancher Stelle etwas durchschaubar, was den groben Handlungsverlauf angeht – richtig interessant sind aber die Lösungswege, die Brown wieder mal gekonnt inszeniert und herleitet.

Doch auch da waren mir einige Sachen ZU offensichtlich, als Beispiel sei hier die ominöse Fibonacci-Folge als Code für ein Bankschließfach genannt, da möchte man den Figuren eine schallende Ohrfeige verpassen, weil sie scheinbar zu blöd sind, solche Zusammenhänge zu erkennen und sich unnötigerweise Seiten schindend die Köpfe heiß rätseln, während der Leser von einem akuten Gähnanfall in den anderen fällt. Glücklicherweise sind solche Hänger in der Geschichte die Ausnahme und auch den Vorwurf des Eigenplagiats wegen einiger Parallelen zu „Illuminati“ muss sich Brown nicht vorwerfen lassen – Die Geschichte ist trotz mancher Ähnlichkeit eigenständig genug, um sich vom Erstlingswerk abzusetzen.

Die Thematik des heiligen Grals und die Zusammenhänge mit der Hochgradfreimaurerei sind alles andere als unumstritten und gerade die Prieuré de Sion ist für manchen Sachbuchautor heutiger Tage alles andere als ein harmloser, sektiererischer Haufen idealistischer Gutmenschen (allenfalls etwas spleenig, was ihre Rituale angeht), sondern immer noch einer der mächtigsten, freimaurerischen – und mithin gefährlichsten, sofern man daran glaubt – existenten Geheimbünde unserer Zeit. Ein verklärt-romantischer Eindruck entsteht jedoch beim Lesen von „Sakrileg“, und das fügt der Mythen- und Legendenbildung ein weiteres (fragwürdiges) Steinchen hinzu.

Dennoch steckt in dem verarbeiteten Material so manches Korn mehr Wahrheit und (anti-)klerikale Weltanschauung der Loge bzw. der erzkatholischen Falken-Sekte von Opus Dei, als dem unbelasteten Leser, der meint ’nur‘ einen Thriller zu konsumieren, bewusst sein dürfte. Auch Opus Dei ist als real existierende Vatikan-Splittergruppe kein unbeschriebenes Ruhmesblatt der Kirchengeschichte und einen aufmerksamen Blick in diverse Publikationen wert. Es lohnt sich also auf jeden Fall, vor oder nach der Lektüre Sekundärliteratur zum Thema Geheimbünde und Vatikan griffbereit zu haben, ohne Vorwissen macht der Roman nämlich nur halb so viel Spaß. Browns unfreiwillige (ist sie das wirklich?) Interpretation des Stoffes ist bärig interessant und nett verpackt.

Dem Kenner der Materie huscht des Öfteren ein wissendes Grinsen übers Gesicht, wenn beispielsweise vom „göttlichen Weiblichen“, sexual-okkulten Riten oder den „Merowingern“ die Rede ist, die Anspielungen selbst bis ins kleinste Detail (auch der Name des Mordopfers Saunière ist tatsächlich historisch und freimaurerisch vorbelastet) sind für gestandene Verschwörungstheoretiker ein gefundenes Fressen. Bleibt die Frage, ob Brown solch freimaurerisches Gedankengut absichtlich – hübsch verpackt – über das Transportmedium Thriller unters Volk bringen will, weil er der Bruderschaft bzw. ihrer Ideologie nahe steht (Ohne ihm hier etwas unterstellen zu wollen, aber das wäre eine Erklärung, warum die Prieuré de Sion hier relativ gut wegkommt, während die klerikale Seite – schon wieder mal – regelrecht abgewatscht wird) oder ob Sakrileg einfach nur das ist, was es vorgibt zu sein: Ein flotter Roman, der Fakten und Fiktion spannend miteinander verknüpft. Das ist bei Brown ja stets der Clou: Man kann auch vor Ort in der Realität tatsächlich vieles nachprüfen.

_Dr. Kimball-Langdon und der heilige Gral – Fazit_
Das Warten hat sich durchaus gelohnt, mit „Sakrileg“ hält man ein Buch in den Händen, das man so schnell nicht beiseite legt; wenn die rasante Geschichte erst einmal ins Rollen gekommen ist, möchte man trotz kleiner Unpässlichkeiten in der Originalität dann doch wissen, wie es weitergeht und in Erfahrung bringen, welcher Natur der heilige Gral denn nun eigentlich ist und wo er versteckt wird. Gerade Liebhaber von grenzwissenschaftlicher Enthüllungsliteratur finden im Plot eine Menge interessanter freimaurerischer und sakraler Symbolik wieder.

So an den Haaren herbeigezogen ist die Sache nämlich nicht, wie Otto-Normal-Leser vielleicht annehmen mag, der sich mit solchen oft in der Öffentlichkeit als Spinnerei geschmähten Theorien zur alternativen Menschheits- und Kirchengeschichte noch nie beschäftigt hat. Im Roman ist jedenfalls viel mehr zu finden als das profane Auge („Profane“ nennt man in Freimaurerkreisen uns nicht-eingeweihte Normalsterbliche) des unbedarften Lesers sieht. Zumindest beweist die mehr oder weniger versteckte Präsentation von in den Öffentlichkeit wenig bekannten (oder ignorierten) Informationen über die Geheimbündelei und die Gralslegende, dass Brown seine Hausaufgaben ordentlich gemacht hat. Ganz kommt „Sakrileg“ nach meinem Dafürhalten nicht an „Illuminati“ ran, aber ein guter Thriller ist es allemal.

Robert Harris – Pompeji

Im Jahre 79 n. Chr. steht der Vulkan Vesuv kurz vor einem Ausbruch. Warnungen werden ignoriert, Gegenmaßnahmen kommen zu spät; die antike Welt geht zumindest am Golf von Neapel unter … – Mischung aus Historien- und Katastrophenroman, in beiden Bereichen sorgfältig recherchiert, angenehm sachlich und doch stimmungsvoll geschrieben: keineswegs das von der Werbung behauptete Literaturereignis aber eine spannende, lesenswerte Geschichte.
Robert Harris – Pompeji weiterlesen

Michael Hesemann – Geheimakte John F. Kennedy

_Quo Vadis – Ein Überblick zum Fall Kennedy_
John Fitzgerald Kennedy dürfte den Meisten wegen seines berühmten Spruches an der Berliner Mauer „Ick bin ain Berlina“ bekannt sein – und natürlich wegen seines gewaltsamen Ablebens, das damals am denkwürdigen 22. November im Jahre 1963 weltweit für Furore sorgte. Der amerikanische Präsident war allseits beliebt – zumindest beim Volk, aber wohl doch nicht in allen Kreisen, bis hoch in die Ämter seiner eigenen Regierung. Das Attentat in Dallas/Texas gilt heute als DER Startschuss für den Vietnam-Krieg, den Kennedy seinerzeit unter keinen Umständen billigen wollte. Seine Liberalität war sein Todesurteil. Michael Hesemann greift die losen Fäden der Geschichte und des Mythos Kennedy noch einmal auf und fügt sie in diesem Buch zusammen.

Nein, Präsident Kennedy hatte wahrlich nicht nur Freunde, sondern auch überaus zahlreiche und mächtige Feinde: Waffenlobby, CIA, Mafia, Exil-Kubaner – um nur die Wichtigsten zu nennen. Vor allem die CIA hatte allen Grund zur Freude über seinen Tod, hatte er doch kurz zuvor ihre Zerschlagung angedroht, was gleichzusetzen mit einer Quasiauflösung des Dienstes gewesen wäre, sprich: erheblichem Machtverlust. Sie waren nicht die Einzigen, die davon profitierten, dass nach den tödlichen Schüssen beinahe im Vorbeigehen und noch am gleichen Tag des Attentats sein Vize Lyndon B. Johnson buchstäblich on-the-fly vereidigt wurde und Kennedys bereits eingeleitete Reformen sofort stoppte. Doch schon die Vorbereitung des Präsidentenbesuchs in Dallas bringt bei genauerer Betrachtung Erstaunliches zu Tage:

Kurz vorher wurde beispielsweise – vollkommen ungewöhnlich – die Fahrtroute der Kolonne gravierend geändert, sodass der offene Wagen des Präsidenten zwangsläufig an der Stelle der tödlichen Schüsse sehr langsam fahren musste. Ein Unding. Die ursprünglich geplante Route hätte ihn erst gar nicht auf den Präsentierteller des Dealey Plaza geführt, doch sein Sicherheitsschef – der dies nach eigenen Angaben niemals zugelassen hätte – wurde kurzerhand an einen anderen Einsatzort abberufen. Der ganze Einsatz des Sicherheitspersonals beim Präsidentenbesuch ist scheinbar ziemlich schief und stümperhaft gelaufen und weist einige Unstimmigkeiten auf, die man nur mit vorsätzlicher Absicht erklären kann. Offiziell fielen bei diesem Hinterhalt drei Schuss und diese allesamt aus den 5. Stock eines Schulbuchlagers hinter der Wagenkolonne des Präsidenten. Zeugen behaupten etwas anderes – sowohl was die Anzahl der Schüsse, als auch die Position der mutmaßlichen Schützen angeht – und auch ein von einem anwesenden Zuschauer aufgenommener Amateurfilm zeigt, dass der tödliche Kopftreffer von vorn kam und nicht von hinten.

Die Geschichte von der „magischen Kugel“, die Kennedy letztendlich getötet haben soll, gehört zu den lächerlichsten Chimären in der Geschichte der Neuzeit – und fast alle haben sie geglaubt. Denn um die vielfältigen Einschüsse und dieser 3-Schuss-Theorie widersprechenden Verletzungen Kennedys und seiner Mitfahrer zu erklären, dichtete man dem Projektil Fähigkeiten an, die der Physik und der Logik Hohn sprechen. Die Autopsie wurde hastig, mehr als mangelhaft durchgeführt und dokumentiert, Teile des Berichts darüber verschwanden oder wurden offensichtlich manipuliert, doch die mit der Klärung beauftragte Kommission nahm offensichtlich keinen Anstoß an solchen ‚Kleinigkeiten‘ wie Plausibilität und Physik. Die Warren-Kommission tat im Gegenteil augenfällig ihr Bestes, sich möglichst schnell auf einen Attentäter zu einigen: Lee Harvey Oswald – der konnte als Leiche ja auch schlecht widersprechen. Bekannterweise wurde Oswald kurz nach dem Attentat von einem angeblichen, irren Fanatiker liquidiert, welcher später unter ebenfalls äußerst mysteriösen Umständen verstarb. Solcherlei ‚ungeklärtes, plötzliches Ableben‘ (böse Zungen mögen es auch ‚Mord‘ nennen) potenzieller Petzen war kein Einzelfall, sondern eher die Regel.

Auch massenhaft der offiziellen Darstellung widersprechende, aber sehr glaubwürdige, unabhängige Zeugenaussagen, welche mehrere Schüsse aus einer ganz anderen Richtung als dem fraglichen Schulbuchlager wahrgenommen haben, wurden ignoriert, oder die betreffenden Zeugen unter Druck gesetzt, diffamiert oder gar peu à peu aus dem Weg geräumt. Summa summarum beläuft sich der Bodycount in diesem Zusammenhang auf 42 am Fall mehr oder weniger beteiligter Menschen (hauptsächlich Augenzeugen), die unter teils kuriosen Arten ihr Leben aushauchten. Zeugen zu beeinflussen oder zu beseitigen, Tatsachen zu verdrehen, Akten verschwinden zu lassen und die gesamte Sache möglichst in Nebel zu hüllen, zieht sich wie ein roter Faden durch den Fall Kennedy. Im Laufe der Zeit wankten die offiziellen Darstellungsversuche vom „alleinigen Einzeltäter“ Lee Harvey Oswald immer mehr und es kamen berechtigte Zweifel auf, dass Oswald überhaupt abgedrückt hatte – seine Verstrickung in diese tief verschachtelte Geschichte ist hinlänglich erwiesen, doch ist er auch der Täter gewesen?

Die Begleitumstände lassen das fragwürdig erscheinen und legen eher den Schluss nahe, dass er ein simples Bauernopfer war. Das Gewehr, dass er zur Tat angeblich verwendet hat, war ein Uralt-Prügel und alles andere als ein Präzisionsgewehr, doch soll er in knapp sieben Sekunden auf dreihundert Meter drei Schuss treffsicher abgefeuert haben. So ein Kunststück bringen selbst Scharfschützen mit besseren Gewehren kaum fertig. Zudem war das Zielfernrohr nachweislich defekt und er als mieser Schütze bekannt. Selbst wenn er es fertig gebracht haben sollte, so bleibt immer noch der bildliche Beweis des Amateurfilmers, dass der tödliche Treffer von vorne in Kennedys Schädel eindrang. Das spricht für noch mindestens einen weiteren Heckenschützen, der die Kolonne von vorn unter Feuer nahm. Wahrscheinlicher ist, dass es sogar eher drei Gunmen waren. Wieder belegen Zeugenaussagen, dass dem tatsächlich so war. Doch all das wurde geflissentlich übersehen.

Der Staatsanwalt von New Orleans – Jim Garrison – war Jahre später der Einzige, der sich getraute, den Fall noch einmal weitreichend und minutiös aufzurollen, weil es himmelschreiende Ungereimtheiten und Anzeichen für eine Verschwörung im großen Stil im Abschlussbericht der Kommission gab. Sein hartnäckiges Engagement war offensichtlich zu weitreichend für einige Gestalten. Er hatte geradewegs in ein Wespennest gestochen. Trotzdem man ihn versuchte, öffentlich zu diffamieren und sogar offen zu bedrohen, brachte er es bis zum Prozess und auf zwei Bücher zum Thema. Mehr als die Öffentlichkeit aufzurütteln, konnte er aber nicht bewirken, der Prozess gegen einige der mutmaßlichen Verschwörer endete aufgrund einer formaljuristischen Spitzfindigkeit mit einem – recht zweifelhaften – Freispruch. Auf diesem Stoff basierend, schuf Oliver Stone 1992 den Film „JFK – Tatort Dallas“ mit Kevin Costner in der Hauptrolle, der kurioserweise schon im Vorfeld durch eine Hetzkampagne niedergemacht wurde, jedoch das Interesse am Mordfall Kennedy in der Öffentlichkeit wieder entfachte.

Garrisons geradezu inquisitorischem Ermittlungseifer damals und auch dem ambitionierten Film Oliver Stones ist es jedoch zu verdanken, dass die amerikanische Regierung heutzutage immerhin – gezwungenermaßen zwar – „die Möglichkeit eines Komplotts“ offiziell einräumt, jedoch weiterhin stur an Oswald als Täter festhält – allen gegenteiligen Indizien, die in all den Jahren auftauchten und zusammengetragen wurden, zum Trotz. Der Mord und die weitreichende Vertuschung der Vorgänge sind längst Legende und alle Sachverhalte bei weitem nicht zufrieden stellend geklärt, nicht zuletzt deswegen, weil aufschlussreiche Akten weiterhin unter fadenscheinigen Vorwänden von offizieller Seite unter Verschluss gehalten werden. Das Mauern geht also auch jetzt, vierzig Jahre nach dem Attentat, munter weiter.

_Qui Bono – Kritik_
Die Konsequenzen des Anschlags ziehen bis zur Jetztzeit ihre Kreise und selbst einige der heute im Amt Sitzenden waren damals schon offensichtlich mehr oder weniger involviert. George Herbert W. Bush Senior beispielsweise. Das jedenfalls recherchiert Hesemann aus Akten aus der aktiven CIA-Zeit des Ex-Präsidenten und Daddys des aktuellen Chefs des Weißen Hauses. Obwohl es mittlerweile ja en vogue ist, auf den Bush-Clan einzuprügeln, nimmt dieses Kapitel nicht viel Platz ein. Bush Senior war wohl nur ein kleines Rad im Getriebe der damaligen Vorgänge – eins von vielen. Als treibende Kraft hinter allem macht Hesemann hauptsächlich die CIA und auch andere Gruppierungen aus, die sich zusammenschlossen, um den bei ihnen so verhassten liberalen Präsidenten über die Klinge springen zu lassen. Genüsslich zerpflückt er die Einzeltäter-Theorie und nimmt CIA, Mafia, Waffenlobby und die Exilkubaner aufs Korn– ja selbst die Freimaurer kriegen ihr Fett weg. Letzteres ist ein recht neuer Aspekt und gar nicht mal so abwegig, muss aber heikle Spekulation bleiben. Dennoch interessant hergeleitet.

Den anderen Aspiranten auf die Täterschaft kann man mit belegbaren Facts schon eher zu Leibe rücken, viel Neues hat Hesemann aber nicht zu bieten – die meisten Erkenntnisse stützen sich auf die Ermittlungsarbeit von Jim Garrison und rekapitulieren sie nur noch einmal zusammenfassend. Zeugenaussagen, Protokolle und der berühmte „Zapruder“-Film (benannt nach Abraham Zapruder, der das Attentat mit seiner Super8-Kamera filmte, dessen Bilder später um die Welt gingen) sind unlängst bekannt, wenn auch vielleicht nicht in unseren Landen. Vieles von dem, was er schreibt, kommt in dieser oder abgewandelter Form auch im oben erwähnten Film von Oliver Stone vor, den Hesemann auch mehr als einmal lobt – da gebe ich ihm Recht, der Film ist um einiges verdaulicher als die Literatur. Nicht dass der Schreibstil etwa langweilig wäre, nein, es ist nur verdammt schwer, die ganzen Namen der Beteiligten keinem Gesicht zuordnen zu können. Es gibt eine Menge Namen und Ämter zu verdauen, quasi ein Who-is-Who aus Wirtschaft, Politik und Geheimdienst dieser Zeit. Oftmals verwirrend für jemanden, der sich noch nie zuvor damit auseinander gesetzt hat und somit, denke ich, recht schwere Kost.

Hesemann verknüpft aber auch die derzeitige Großwetterlage Amerikas mit den damaligen Ereignissen, sind doch viele der Handelnden ehedem zu Amt und Würden gelangt und haben den Lauf der Geschichte in der Folge maßgeblich beeinflusst. Ein vordergründig ziemlich wackeliges Argument, denn jede geschichtliche Begebenheit zieht unweigerlich einen Rattenschwanz an Kausalitäten hinter sich her, inwiefern das steuerbar ist, sei dahingestellt. Erstaunlich jedoch, abgesehen vom Wie, dass die alten Seilschaften (oder deren Zöglinge) zum Teil immer noch an den Fäden ziehen bzw. in Machtpositionen sitzen; Kennedys Beseitigung hat diese Entwicklung auf jeden Fall begünstigt und beschleunigt – wenn nicht gar erst ermöglicht -, insofern muss man ihm beipflichten. Unstrittig ist auch die These des Komplotts, denn eine solche Vertuschungsaktion entspricht nicht der Handschrift eines verblendeten Einzeltäters, sondern erfordert eine Menge Leute und setzt eine komplizierte Planung, Logistik und hohe Machtposition voraus, etwas in diesem groß angelegten Stil durchzuziehen. Die Indizien, die gegen Oswald als Todesschützen sprechen, waren und sind erdrückend. Das dokumentiert Hesemann auch mit zahlreichen Quelltexten, Fotos und Schaubildern, die trotz ihrer Brisanz bemerkenswerterweise frei zugänglich sind und zum Nachdenken anregen.

_Status Quo – Fazit_
Durch die Gnade der späteren Veröffentlichung im Jahre 2003 ist das Buch natürlich um einige Erkenntnisse reicher als ältere Publikationen und illustriert, wie Verschleierungstaktik seit jeher zur amerikanischen Politik gehörte und gehört. Notfalls geht man dabei auch über die Leiche des eigenen Präsidenten. Diese Einsicht ist nicht gerade neu und wird zähneknischend nun auch von offizieller Seite bestätigt – halbwegs jedenfalls. Publikationen wie diese geraten schnell unter Beschuss und der Grat zwischen Phantasterei und wirklicher Enthüllung ist denkbar schmal. Hesemann geht den sicheren Weg und resümiert hauptsächlich den Tathergang und Hintergründe, wie sie allgemein hin schon als erwiesen angesehen werden – basierend auf der Vorarbeit von Jim Garrison – und reichert die ohnehin dichte Indizienkette gegen die Verschwörer mit einigen eigenen Theorien an. Die leitet er gut her, sie entbehren nicht einer gewissen Logik. Letztendliche Gewissheit aber kann man wohl nur erlangen, wenn die derzeit noch unter Verschluss gehaltenen Akten tatsächlich irgendwann der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Wenn. So sicher ist das nämlich nicht. Unterm Strich bleiben eine sehr detaillierte Zusammenfassung zum aktuellen Stand der Dinge im Mordfall Kennedy und eine prima Ergänzung/Nachschlagewerk zum Film Oliver Stones.

Wolfram Fleischhauer – Das Buch, in dem die Welt verschwand

1780 gerät der Arzt Nicolai Röschlaub in eine mysteriöse Verschwörung. Diverse Geheimbünde kämpfen miteinander und gegen die kaiserliche Regierung. Es ist auch ein Ringen zwischen Reaktion und Aufklärung. Dabei werden keine Gefangenen gemacht. Um sein Leben zu retten, will Röschlaub die Hintermänner entlarven, doch je tiefer er gräbt, desto mehr löst sich das Komplott in ein Gewirr unverständlicher Einzelintrigen auf … – Ein Roman aus Deutschland, der Anspruch mit hohem Unterhaltungswert kombiniert. Sehr elegant spinnt Autor Wolfram Fleischhauer vordergründig ein Garn aus Historie, Krimi und Mystery, das geschickt und überraschend, aber sehr philosophisch aufgelöst wird, wobei der Autor die Kraft zu verdeutlichen versucht, die einer Idee innewohnen kann. Wolfram Fleischhauer – Das Buch, in dem die Welt verschwand weiterlesen

Rudolf Kreis – Wer schrieb das Nibelungenlied? Ein Täterprofil

Die gegenwärtige Weltlage lädt förmlich dazu ein, das Nibelungenlied als Beispiel zu nehmen, um aufzuzeigen, welches Ende blutrünstige Rachefeldzüge nehmen können. Die Situation vor 800 Jahren war der heutigen recht ähnlich, es war die Zeit der Kreuzzüge der Christen gegen den Islam und die Juden. Diese Parallele nimmt der Autor Rudolf Kreis zum Anlass, den unbekannten Dichter des Nibelungenliedes zu entchristianisieren und in ihm einen Juden bzw. dem Judentum Nahestehenden zu vermuten. In Worms verfügte die jüdische Bevölkerung damals über die gleichen Rechte wie die eigentlichen Bürger auch. Die rabbinische Gelehrsamkeit strahlte stark auf die christliche Theologie ab. Für das europäische aschkenasische Judentum war Worms das „Jerusalem“ des Westens. Seit dem 9.Jahrhundert kontrollierten die jüdischen Kaufleute von Worms den Fernhandel mit dem Orient bis Indien und China. Neben der Synagoge existierte eine Talmudschule von überregionalem Rang, der den der bis dahin führenden Hochschule von Babylon übertraf.

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Pringle, Heather – Mumien-Kongress, Der. Reise in die Welt des ewigen Todes

„Der Kongress“ ist es, der die Wissenschaftsjounalistin Heather Pringle anfänglich in den Bann zieht. Genauer gesagt ist es der „3. Weltkongress der Mumienforschung“, an dem sie auf der Suche nach Berichtenswertem im fernen chilenischen Arica als Zuhörerin teilnimmt. Aus der ganzen Welt sind kluge Männer und Frauen zusammengekommen, um über künstlich oder zufällig konservierte Leichen und deren Aussagewert für die Wissenschaft zu diskutieren.

Pringle erwartet, an einen unheimlichen Ort voller Sonderlinge zu geraten. Dies bestätigt sich voll und ganz, aber nach kurzer Zeit ist sie den Mumien trotzdem gänzlich verfallen: Ihrer morbiden Faszination kann offenbar niemand widerstehen. Die Mumienforscher entpuppen sich zudem bei aller Verschrobenheit als liebenswürdige, kontaktfreudige Menschen, die gern über ihre Arbeit Auskunft geben.

So beschließt Pringle, sich nach dem Besuch in Arica nicht sogleich anderen Themen zu widmen, sondern sich echten Eintritt in die Welt der Mumien zu verschaffen. Sie beschließt dort damit zu beginnen, wo aus Laiensicht alles begann: im alten Ägypten. „Das Messer des Pathologen“ beschreibt zum einen die Grundlagen der Mumifizierung. Es ist gar nicht so leicht Menschenfleisch wirklich haltbar zu machen. Längst sind die diesbezüglichen Geheimnisse nicht alle gelöst. Eine Gruppe von Forscher studiert den Prozess und sein Objekt am Ergebnis selbst, d. h. an der Mumie. Die wird zu diesem Zweck wie eine x-beliebige Fundleiche auf den Untersuchungstisch gehievt, um anschließend nach allen Regel ärztlicher Kunst auseinandergenommen zu werden. Die Einzelteile werden anschließend à la „CSI“ mit moderner Labortechnik untersucht.

Erstaunliches kommt dabei ans Licht. Mit ein gutes Argument gegen jene, die sich gegen die Störung der Totenruhe aussprechen – Mumien waren schließlich einst Menschen, die viel Zeit & Geld in ihre körperliche Unsterblichkeit investierten -, ist nicht die reine wissenschaftliche Neugier, sondern der „allgemeine Nutzen“. So ist auch das moderne Ägypten ein von fiesen Wasserparasiten geplagtes Land. Deren Lebenskreislauf ist unerhört kompliziert. Eines steht fest: Eine fest eingeplante Station ist der Mensch. Die unglücklichen „Wirte“ verenden an grausigen Krankheiten, die sich nach wie vor nicht heilen lassen. Es gilt mehr über diese uralten Geißeln der Menschheit zu erfahren – und uralt sind sie wirklich, denn sie lassen sich in Mumien nachweisen und so besser erforschen.

„Drogenbarone“ überschreibt Pringle provokativ das nächste Kapitel. Mumienforscher sind keineswegs ein einig‘ Volk gemeinsam studierender Brüder & Schwestern. Eifersüchtig hüten sie ihre „Claims“, verteidigen ihre Theorien, befehden einander. Einen Aspekt dieses an sich gesunden, die Diskussion in Gang haltenden Verfahrens greift Pringle auf, als sie das Rätsel auffälliger Kokain- und Tabaknachweise in Mumiengewebe beschreibt. Gab es etwa urzeitliche Verbindungen zwischen Altägypten und Südamerika?

Mumien sind das ideale Objekt für „Kriminalgeschichten“. Sie konservieren oft unabsichtlich die Geschichte eines gewaltsamen Todes. Überall auf der Welt werden mumifizierte Männer und Frauen gefunden, die man erdrosselt, denen man den Hals durchgeschnitten oder die man sonstwie zu Tode gebracht hat. Dies übrigens auch im kalten und feuchten, dem Mumienbau ansonsten eher abträglichen Mitteleuropa, wo es die berühmten Moorleichen sind, die das Interesse späterer Generationen finden. Mord oder Menschenopfer, das ist hier die Frage, die sich zwar schwierig, aber doch häufiger als gedacht beantworten lässt.

Das Sprichwort vom Kehren (unangenehmer) Beweise unter den Tisch lässt sich auch auf die doch scheinbar harmlosen, weil von Äonen in einer völlig fremden Urwelt entstandenen Mumien anwenden. Sie können urplötzlich wieder sehr präsent werden, wenn moderne Politik und Religion ins Spiel kommen. Die Volksrepublik China ist ein großes und mächtiges, aber auch empfindliches Land. Kommunistisches Unrecht beim Aufbau einer „neuen, besseren Welt“ haben nicht die Zustimmung des Auslands gefunden. Deshalb achten die Machthaber sehr auf die Wahrung ihrer Ansprüche. Die Realität wird dem nicht selten angepasst. Das gilt auch für die Vergangenheit. So ist man im „offiziellen“ China sehr stolz darauf, deutlich früher und aus eigener Kraft als die viel gerühmten europäischen Länder zur Kulturnation aufgestiegen zu sein. Da ist es peinlich, dass unlängst sehr gut erhaltene Mumien entdeckt wurden, die eine andere Sprache sprechen. Bisher unbekannte „Eindringlinge aus dem Westen“ sind vor vielen tausend Jahren aus Europa nach Asien gekommen und haben dort viele der großen Erfindungen, derer man sich dort heute rühmt, erst eingeführt – ein prekäre Situation, die den Mumienforschern sehr zu schaffen macht, da sie mit Unterstützung unter diesen Umständen kaum zu rechnen haben.

Vor gar nicht so langer Zeit war dies allerdings auch im „freien“ Westen der Welt kaum anders. Pringle erzählt traurige Geschichten von „Wissenschaftlern“, die mit Hilfe der Mumien die geradezu biblische Überlegenheit der weißen „Herrenrasse“ belegen wollten. Wie üblich setzen die Nazis den traurigen Höhe- und Schlusspunkt dieser breiten Sackgasse.

Sie möchten im Wohnzimmer ihren Freunden eine getrocknete Königstochter präsentieren? Vielleicht reicht auch ein Kaminaufsatz aus geschmackvoll arrangierten Kinderköpfen? Oder wie wäre es gegen Unwohlsein und Alterswehwehchen mit einem Tee aus Mumienpulver? Damit lassen sich übrigens auch tolle Bilder malen! Vor kaum einem Jahrhundert war die Erfüllung solcher Wünsche kein Problem; der kultivierte Europäer, der nicht ins schmutzige und heiße Ägypten reisen wollte, konnte sich Mumien sogar bestellen. „Mumienhändler“ traten in vielen Gestalten auf – und sie tun es sogar noch heute, obwohl das Gewerbe gefährlich geworden ist.

So mancher Zeitgenosse schafft es erst nach dem Tod, in den erlauchten Kreis der „Berühmtheiten“ aufgenommen zu werden. „Ötzi“ aus Tirol beweist, dass sogar potthässliche Mumien zu echten Kultstars aufsteigen können. Das gilt noch viel mehr für die berühmten Inkakinder-Mumien aus Südamerika. Eine Laune der Natur ließ sie sich manchmal erschreckend gut erhalten – erschreckend deshalb, weil prompt konkurrierende Gruppen um die Toten zu raufen beginnen. Pringle schildert das (Zwerchfell) erschütternde Gezerre zwischen Entdeckern, Mäzenen, Regierungen, Medien und Moralaposteln im Fall „Juanita“, der vielleicht prominentesten Inkamumie.

Mumien in Europa? Die Moorleichen haben wir schon kennengelernt. Aber es gibt auch echte Mumien – und sogar einen eigenen Begriff für sie: „Die Unvergänglichen“ sind Männer und Frauen, auf die ihre Zeitgenossen auch im Tode einfach nicht verzichten wollten. Also wurden sie konserviert und in ihrer Mitte platziert. Die Katholische Kirche hat sogar einen regelrechten Kult um ihre „Heiligen“ betrieben, die im Leben so fromm waren, dass sie im Tod kein Wurm anzubohren wagte. Pringle weist nach, dass hierbei recht oft kräftig und wenig ehrerbietig nachgeholfen wurde.

Aber das Mittelalter ist vorüber, die Menschen sind über solchen Reliquienkult hinaus? Pringle besucht in Moskau die kleine Gruppe hochqualifizierter Spezialisten, die nach wie vor die berühmteste Mumie der Jetztzeit in Schuss halten. Der Sowjetdiktator Lenin gehört zu den zahlreichen kommunistischen „Despoten“, die quasi als Heiligenersatz im 20. Jahrhundert mit ungeheuerlichem Aufwand konserviert wurden. Josef Stalin, Ho Chi Minh, Kim Il Sung – sie alle erfuhren diese Behandlung, doch nur Lenin hat sie „überlebt“.

Wie kam der Mensch vor Äonen auf den Gedanken, seine Verstorbenen vor dem Verfall zu bewahren? Die ältesten bekannten Mumien der Welt scheinen einen sehr verständlichen Grund zu offenbaren: Schon zweieinhalb Jahrtausende vor den Ägyptern schufen die chilenischen Chinchorro Mumien – sie präparierten so ihre „Kinder“ für die Ewigkeit. So begann womöglich die Mumifizierung: als Versuch untröstlicher Eltern, ihre Lieben auch im Tod bei sich zu behalten.

Und es geht weiter. Mumien sind längst nicht ausgestorben. Sie scheinen an Zahl sogar zuzunehmen. „Selbstkonservierung“ nennt Pringle ihr letztes Kapitel. Sie beschreibt darin die bizarre Praxis überfrommer japanischer Mönche, sich buchstäblich selbst bei lebendigem Leibe zu mumifizieren. Wer die Ewigkeit nicht als Wurmfutter, aber etwas bequemer betreten will, findet heute (bei ausreichend dicker Geldbörse) zahlreiche Alternativen. Pringle besucht bizarre Kühlhäuser, in denen sorgfältig tiefgefrorene Leichen auf eine mögliche Wiederauferstehung in ferner Zukunft warten. Wer es wünscht, kann sich aber auch auf altägyptische Weise, d. h. ganz klassisch mumifizieren und in Leinenbinden einwickeln lassen, womit sich der Kreis wohl geschlossen hätte.

Der Mensch und der Kult um seine Toten … ein unerschöpfliches Thema, das gleichzeitig fasziniert, erschreckt und abstößt. Dafür gibt es kaum ein besseres Symbol als die Mumie. Sie repräsentiert, was nach Auffassung zumindest der Bewohner der westlichen Erdhemisphäre lieber sorgfältig außer Sicht gehalten werden sollte. Aber so denken eben längst nicht alle Menschen, und selbst in Europa oder Nordamerika, wo der Tod heute vom Leben separiert wird, war es vor gar nicht langer Zeit ganz anders.

Leichen gehören zum Alltagsleben. Das kann groteske Formen annehmen, aber auch rührend wirken. Heather Pringle versucht das gesamte Spektrum des Mumienphänomens nachzuzeichnen. Sie hat dabei buchstäblich eine Weltreise unternommen und erstaunliche, erschreckende und – man vergesse nie, dass Leiden & Lachen Verwandte sind – erheiternde Fakten zusammengetragen.

Pringle nähert sich dem komplexen und schwierigen Thema nicht unvoreingenommen. Sie bekennt schon früh, dass sie Probleme mit Bereichen der Forschung hat. Mumien sollten ihrer Meinung nach erhalten werden – nicht als historische „Objekte“, sondern als Hüllen einst lebendiger Menschen, denen es wichtig war, gut konserviert in die Ewigkeit einzugehen. Nun landen sie auf dem Labortisch und werden zum Wohl der Wissenschaft in kleine Stückchen zerhackt.

Dieser Riss klafft sogar zwischen den Mumienforschern selbst. Es gibt heute schonende Untersuchungsmethoden, aber Praktiker schwören weiterhin auf das Pathologenmesser. Sie könnten Recht haben. Darf man sie aufgrund moralischer Vorbehalte stoppen? Oder sind Mumien doch nichts als wissenschaftlich hochinteressantes Aas? Eine schwierige Frage mit vielen Antworten, die längst nicht beantwortet ist.

Nur einmal verliert Pringle ihre Objektivität. „Kinder“, die Geschichte der Chinchorro-Mumien, gerinnt ihr zur rührseligen Gute-Nacht-Geschichte, für die sie vor ihrem geistigen Auge schluchzende Mütter materialisieren lässt, die eine Möglichkeit gefunden haben, ihre Kinder bis über den Tod hinaus lieben. Dass es dafür erforderlich wurde, die lieben Kleinen u. a. zu häuten, scheint Pringle in ihrem urzeit-paradiesischen Traueridyll nicht weiter zu irritieren. Auch fragt sich, was die Chinchorro den lieben langen Tag eigentlich sonst noch getrieben haben außer ihre aufwändigen Mumien zu basteln und auszubessern. Die zeitliche Distanz zur aufgeklärten Jetztzeit schützt Chinchorro offenbar vor solcher Kritik.

Den Pringleschen Schutz verlieren die mumifizierwütigen Mitmenschen, je weiter wir uns der Gegenwart nähern. Die Verfasserin setzt möglicherweise voraus, dass der Mensch mit den Jahren „klüger“ wird und folglich auch den Drang zur unbeschädigten Jenseitsfahrt überwunden haben sollte. Wieso eigentlich? Wir sollten froh darüber sein, dass dies tatsächlich so ist, und die wenigen Abweichler mit Nachsicht betrachten.

In einem hat Pringle freilich absolut Recht: Den Hightech-Mumien von heute wird es in der Zukunft nicht anders ergehen als ihren Vorgängern. Eines Tages wird man sie finden, beileibe nicht neu beleben, sondern wiederum neugierig untersuchen, ausstellen (ausrauben wird nicht mehr lohnen, da keine Beigaben im Kühlsarg liegen) und sich viele Gedanken um sie machen. Aber das ist seit jeher das kalkulierte Risiko bei der Sache gewesen.

„Der Mumienkongress“ ist hier und da zwar ein wenig parteiisch, aber stets sachlich, gut recherchiert und sehr unterhaltsam geschrieben. Nicht das Thema muss den Leser fesseln, die Verfasserin schafft es selbst. Für den Gruselfreund gibt es eine Strecke mit gar zu detailscharfen Fotos. Sie belegen vor allem eines, was dem Laien vielleicht gar nicht deutlich ist: Unsere Vorfahren waren Realisten. Sie wussten, dass ihnen eine 1:1- Präparierung nicht möglich war. Die Mumifizierung war die beste Alternative. Sie erhielt den Körper, der als Gefäß für den Tag der Wiederauferstehung bereit stand. Dass er dann nicht mehr ansehnlich war, wussten sie und nahmen es in Kauf. Das sollte man im Hinterkopf behalten, wenn man die Mumienporträts mustert: Sie zeigen eben keine in ewigem Schlaf erstarrte Menschen, sondern grässliche Fratzen. Wieder eine der unzähligen nützlichen Infos, die wir Heather Pringle verdanken.

Robert R. McCammon – Tauchstation

McCammon Tauchstation Cover kleinDas geschieht:

Seit er vor sieben Jahren seine Familie bei einem tragischen Unfall verlor, lebt der ehemalige Bank-Hai David Moore zurückgezogen auf der kleinen Karibik-Insel Coquino, wo er ein Hotel – das „Indigo Inn“ führt. In seiner reichlichen Freizeit unternimmt Moore Tauchfahrten in die Gewässer um die Insel, die reich an Schiffswracks aus vielen turbulenten Jahrhunderten sind.

Ein paar Andenken aus einem im II. Weltkrieg versenkten Frachter möchte Moore bergen, als er aus dem Grund des Meeres etwas Überraschendes entdeckt: Im Sand steckt das nazideutsche U-Boot Nr. 198 – und eine Wasserbombe, deren verspätete Detonation Moore beinahe ins Jenseits und das Tauchgefährt an die Oberfläche befördert. Dort treibt es die Strömung genau in den Hafen von Coquina. Robert R. McCammon – Tauchstation weiterlesen

McCoy, Alfred W. – CIA und das Heroin, Die. Weltpolitik durch Drogenhandel

Was haben Drogen und internationale Politik miteinander zu tun? Wie ist der weltweite Anstieg des Drogenkonsums zu erklären? Das sind nur zwei der vielen Fragen, die in diesem über 800 Seiten starken Buch beantwortet werden.

Die Allianz zwischen Drogenwirtschaft und CIA baut auf einer langen Geschichte internationalen Drogenhandels auf. Sie beginnt mit dem Schlafmohn und dem Opium, dem „Ahnherr aller illegalen Drogen“ in der Antike. Damals wurde Opium lokal gehandelt, seit dem 17. Jahrhundert wurde es eine Welthandelsware, seit dem 20. Jahrhundert ist es als illegales Heroin gewinnbringender denn je.

Mit einer einmaligen Fülle an Fakten (Quellen- und Stichwortverzeichnis umfassen 150 Seiten) wird eine auf den ersten Blick befremdliche These belegt: Die rigide Antidrogenpolitik reagiert nicht auf weltweite Kriminalität – sondern im Gegenteil: sie schürt diese. In nie gekanntem Maße werden Verbrechen durch immer härteren Kampf gegen Kriminalität erzeugt. Zum Beispiel: „Nachdem die Häftlingsrate in den USA über ein halbes Jahrhundert lang stetig bei 100 Gefängnisinsassen auf 100.000 Einwohnern gelegen hatte, stieg sie, in die Höhe getrieben von immer höheren gesetzlichen Mindeststrafen für Drogenvergehen, von 138 Inhaftierten 1980 auf 702 im Jahr 2002 an…“ (S. 66). Außerdem senken Antidrogengesetze nicht den Konsum, sondern erschweren nur Anbau- und Handelskonditionen. In vielen Gebieten der Erde ist Drogenanbau die einzige Basis zum Überleben, und solange der Westen diese Armut erzwingt, sind alle Bemühungen gegen die Drogeninflation in der 1. Welt reine Sisyphusarbeit.

Aus irgendeinem bescheuerten Grund wird die US-Außenpolitik gern „pragmatisch“ genannt. Aber nichts liegt ferner, als dem Machtkampf der CIA Scharfblick und das Bedenken der langfristigen Folgen des eigenen Tuns zu unterstellen. Diese ach so ‚pragmatische‘ Machtpolitik verbraucht Bündnisse schneller, als neue geschlossen werden. Die CIA findet ‚Freunde‘, die für sich selbst und die CIA um lokale Macht kämpfen. Dafür brauchen sie mehr Ressourcen. Der Schlüssel sind Drogenanbau und -handel, in den Andenländern Südamerikas genauso wie in Zentralasien und Südostasien. Die CIA, internationaler Hauptarm der US-Politik, kann nicht alle strategischen Bündnisse weltweit selbst finanzieren, und das Kräftegleichgewicht kippt immer wieder, wenn ihre Partner eigene Interessen verfolgen – was sie früher oder später tun. Ein Beispiel unter vielen sind die Taliban in Afghanistan.

Umfangreich schildert McCoy die Entwicklung des Drogenhandels seit der Kolonialzeit. Eine neue Phase begann mit dem Kalten Krieg. Denn ab jetzt ging es nicht mehr nur um Profit, sondern der Kampf um ideologische Vorherrschaft in den Regionen kam hinzu und machte das Abhängigkeitsgefüge noch komplexer. Wirtschaft konnte Konkurrenz vertragen, der American Way of Life nie, und so eskalierten die aus politischen Gründen geführten Territorialkämpfe. Heute sind 50 (fünfzig!) US-Regierungsbehörden in den Handel mit Drogen involviert, in Anbau, Herstellung und Transport – auch ins eigene Land.
Die CIA macht mit Heroin Politik, indem sie ihren Einfluss auf den internationalen Drogenhandel zur Durchsetzung amerikanischer Interessen in aller Welt einsetzt: Drogenpolitik ist das Mittel, um Macht zu sichern. Destabilisierung von Regionen und Ländern und Kriege sind Begleiterscheinungen. McCoy, Professor an der Universität Wisconsin, zeigt die Dimensionen und Mechanismen. Es ist keine Verschwörung, kein unter Druck entwickelter finsterer Plan, der da verfolgt wird. Es ist ein Einblick in die Mechanismen einer Weltmacht.

Beispiele:
Der US-Geheimdienst kooperierte im 2. Weltkrieg mit der Mafia in Italien, in den Nachkriegsjahren mit korsischen Verbrechersyndikaten in Marseille, um dort die Macht der gewählten Kommunisten zu brechen. Mit Erfolg. Mit Bedacht legte die CIA das Fundament für die über zwanzigjährige Dominanz der Korsen-Connection im expandierenden US-Heroingeschäft.
Den Krieg in Nicaragua finanzierten CIA und Contras durch Drogenschmuggel. Das wurde in den USA zum Skandal, als sich Bürger aus L.A. über die Crack-Schwemme beschwerten, die mit CIA-Hilfe in den Markt gepumpt wurde. Die Polizei hatte Beweise, doch nichts passierte – zu viele Freunde in Regierungsnähe.
Seit dem Sieg der USA über die afghanischen Taliban blüht dort der Mohnanbau wie nie zuvor: Das Land gilt heute als die erste Opium-Monokultur der Welt mit historischen Rekordernten.

Versuche der CIA, das Buch zu verhindern, scheiterten.

_Knut Gierdahl_
für das Magazin [AHA]http://www.aha-zeitschrift.de

Irwin, Valerie M. – Legende von Atlantis, Die

Der beliebteste Stoff für Fantasy neben der Artussage dürfte eine Erzählung sein, die bis in die Zeit der ersten Geschichtsschreibung überhaupt zurückreicht. Solon soll die Geschichte in einem ägyptischen Tempel auf einer Steinsäule entdeckt und abgeschrieben haben. Jahrhunderte später nahm Platon sich der Geschichte an. Sein „Kritias“ machte die Geschichte zum sagenhaften Mythos, um dessen Wahrheitsgehalt sich bis heute die Gelehrten streiten: Atlantis.
Neben vielen anderen Autoren, darunter Marion Zimmer-Bradley, hat sich auch Valerie M. Irwin des Themas angenommen. Ihre Version von Atlantis unterscheidet sich jedoch grundlegend von den meisten anderen. Sie wirkt wie ein Historienroman.

Ashinn ist ein junger Mann Mitte Zwanzig, der als Koch bei einem reichen Schiffbauer arbeitet. Er lebt ein ziemlich sorgenfreies Leben, genießt gutes Essen und Pferderennen, besucht gelegentlich seine Eltern und Freunde und liebt seinen Beruf. Doch eines Tages fällt ein Schatten auf diese zufriedene Welt: Das Gerücht kommt auf, dass der Meeresspiegel steigt, und bald ist es mehr als ein Gerücht. Ashinn, dessen Ziehvater Mitglied im Hohen Rat ist, gerät dadurch unversehens mitten in den Brennpunkt des Geschehens, denn Atlan soll an einem anderen Ort neu errichtet und die gesamte Bevölkerung umgesiedelt werden. Ein Mammutprojekt! Und Ashinn wird in den Rat des Neuen Atlan berufen, der dieses Projekt durchführen soll.
Allerdings hat das Projekt viele Gegner: eine Sekte, die sich „Die Diener“ nennt, hält die steigenden Fluten für eine Strafe des Sonnengottes En und die Umsiedlung von Atlan für Gotteslästerung. Ihr Einfluss wächst und macht die Arbeit für den Rat des Neuen Atlan zu einem Wettlauf nicht nur gegen die Zeit, sondern auch gegen sein eigenes Volk.

Valerie M. Irwin hat sich in vielem dicht an Platon gehalten, so in ihren Beschreibungen der Stadt und der Insel insgesamt, der Wasserversorgung u.a. Was allerdings bei Platon hauptsächlicher, ja alleiniger Grund für den Untergang Atlantis‘ war, nämlich der Zorn des obersten Gottes über die Gottlosigkeit der Atlanter, ist hier nur eine von zwei sich unversönlich gegenüberstehenden Überzeugungen, verkörpert vor allem in dem hohen Priester Diarr. Die Gegenposition wird vertreten von Narr, Ashinns Ziehvater, der nicht an Götter, sondern an die Vernunft glaubt. Der Streit zwischen diesen beiden gegensätzlichen Weltanschauungen wird zum größten Hemmnis bei dem Versuch der Atlanter, sich und ihre Kultur zu retten.
Den entscheidenden Ausschlag für das Misslingen des Versuchs jedoch gab schlicht menschliches Versagen.
Die Religion ist hier also nicht zum reinen Buhmann und alleinigen Bösen verkommen, wie es in vielen Romanen allzu oft der Fall ist. Zustimmung und Ablehnung ziehen sich durch alle Bevölkerungsschichten und Hierarchiestufen, sodass ein Schwarz-Weiß-Effekt vermieden wird.
In diese religiösen, politischen und ideologischen Konflikte ist die Geschichte von Ashinns Familie eingebunden und ergänzt sie durch die gesellschaftlichen Aspekte der atlantischen Kultur:
Sklaverei, Tafelrunden, die an mittelalterliche Gilden und Zünfte erinnern, Ehe und Konkubinat, gesellschaftliche Ereignisse wie Pferderennen und Festessen geben zusammen mit Ashinns persönlichen Erlebnissen dem Gesamtbild Leben und Farbe. In Ashinns Familie spielen sich ähnliche Konflikte ab wie im Hohen Rat: Diener gegen Vertreter der Wissenschaft, Religion gegen Vernunft, nur dass es hierbei nicht so sehr um Macht als um Gefühle geht, um Liebe, Eifersucht und verletzten Stolz.
Allein der Teil der Geschichte, in der sich herausstellt, dass Ashinn und Oriole verwandt sind, wirkt, wenn auch nicht wirklich unrealistisch, so doch zumindest leicht konstruiert.

Abgesehen vom Verlauf der Handlung sind auch die statischen Elemente gut gelungen. Der Entwurf der religiösen Weltsicht und die dazugehörigen Riten sind stimmig und außerdem in die allerdings nur knapp umrissene Vergangenheit eingepasst. Ähnlichkeiten mit dem, was wir von den alten Hochkulturen im Zweistromland und Mittelmeerraum kennen, sind gewollt.
Ashinns Arbeit und seine gelegentlichen Ausflüge in verschiedene Viertel Atlans, sowie aufs Land und zur Nachbarinsel Xetlan, wo er Oriole abholt, beleuchten alle Gesellschaftsschichten, sodass man ein lebhaftes Bild von der Stadt und ihren Bewohnern erhält.
Die Charaktere sind ebenfalls überzeugend gezeichnet. Gekonnt hat die Autorin Aktion und Reaktion ineinander verzahnt und dadurch ein glaubwürdiges Geflecht von Beziehungen geschaffen, so zum Beispiel zwischen König Rastinn, der nichts mehr fürchtet als einen Putschversuch seines Halbbruders, und Prinz Ivorr, der daran überhaupt nicht denkt, sondern einfach nur Atlans Bevölkerung retten will; zwischen Ashinns Ziehvater Narr, dem Atheisten und Forscher, der gerade einen Dampfwagen erfunden hat, und seiner Frau Ocean, die früher zur Dienersekte gehörte und sich für so gut wie nichts interessiert, am allerwenigsten für Technik; zwischen Oriole und ihren Eltern, von denen sie sich rigoros abgrenzt, weil sie sich von beiden ständig in entgegengesetzte Richtungen gedrängt fühlt; und Diarr, der Hohepriester, der zwar fast außerhalb aller Beziehungen zu stehen scheint, aber dessen eindimensionale Denkweise, Dogmatik und Gnadenlosigkeit trotzdem klar herausgearbeitet sind.

So hat die Autorin es verstanden, ein Szenario zu entwerfen, das nicht nur realistisch, sondern in manchen Dingen, wie z. B. Elendsviertel und Überbevölkerung, geradezu modern wirkt. Und wenn, wie ein Teil der Wissenschaft glaubt, Platon sein Kritias nicht als Historienbericht sondern als Utopie, als Belehrung, geschrieben hat, dann ist Valerie Irwins Atlantis ein Exempel dafür, wie eine äußere Gefahr zur Krise und zum Untergang einer ganzen Kultur führen kann, wenn die Verantwortlichen nicht die Kraft und innere Größe haben, die Dinge sachlich und frei von persönlichen Gefühlen und Ideologien zu betrachten, sondern sich statt dessen in kleinlichen Rivalitäten und Machtkämpfen verzetteln.

Die gesamte Geschichte ist eingebettet in einen wissenschaftlichen Bericht über die Entdeckung von beschriebenen Tontafeln in Cornwall, und läßt den Verfasser dieser Tafeln, Ashinn, seine Geschichte selbst aus seinen Erinnerungen erzählen. Anfangs holpert der Erzählfluss ein wenig, da Ashinn sich immer wieder selbst unterbricht, um allgemeine Erklärungen und Beschreibungen über das Leben in seiner Stadt einfließen zu lassen, die für das Verständnis der Ereignisse wichtig sind, doch diese Unterbrechungen hören irgendwann auf, und Ashinn entwickelt sich zu einem guten Erzähler. Alle Erzählstränge sind gekonnt miteinander und ineinander verwoben und ergeben das detailliert ausgearbeitete Bild einer Natur- und menschlichen Katastrophe, eine Geschichte von religiösem Fanatismus, von Machtmissbrauch und politischem und menschlichem Versagen.

Alles in Allem kann man das Buch getrost als gelungen bezeichnen. Das Holpern am Anfang und die konstruierte Verwandtschaft zwischen Oriole und Ashinn stören nur wenig, und der realistische Entwurf, der ohne übliche Fantasy-Elemente wie Magie und mythische Wesen auskommt, hebt es aus der Masse heraus und macht es zu einer interessanten Abwechslung. Die Autorin schreibt flüssig und eher schlicht, aber durchaus lebendig, und auch wenn der Spannungsbogen sich nur allmählich aufbaut, wird es nie zäh oder flach. Durchaus empfehlenswert.

Valerie M. Irwin ist ein Pseudonym und „Die Legende von Atlantis“ scheint das einzige Buch zu sein, das sie unter diesem Pseudonym veröffentlicht hat. Informationen über die Autorin, wie eine Homepage o.ä., waren nicht zu finden.

http://home.pages.at/yoman/atlantis/platon.htm

Patrick Dunne – Die Keltennadel [Jane Wayde 1]

Pfarrer Lavelle aus Irland findet in seiner Kirche eine ‚geopferte‘ Frau. Als Spezialist für moderne Kulte (und Tatverdächtiger) beginnt er in eigener Sache zu ermitteln, wobei ihm ein freundlicher Polizist und eine Kunstexpertin helfen. Man kommt einer pseudoreligiösen Verschwörung auf die Spur, die einen neuen Kreuzzug plant, um diese sündige Welt zu ‚reinigen‘ … – Debütautor Dunne schert sich wenig um Handlungslogik oder Figurentiefe, sondern serviert, was das Genre seit Dan Brown dominiert: Kirchen-Geheimnisse und saftige Morde: Munkel-Thriller von der Stange. Patrick Dunne – Die Keltennadel [Jane Wayde 1] weiterlesen

Gablé, Rebecca – Siedler von Catan, Die

„Die Siedler von Catan“ ist Rebecca Gablés Roman zum gleichnamigen Spiel des Jahres 1995 von Klaus Teuber. Dieser war von Rebecca Gablés Bestseller „Das Lächeln der Fortuna“ begeistert, sie selbst spielte gerne sein Spiel. Eine glückliche Verbindung – der Roman „Die Siedler von Catan“ war geboren. Auch wer das sehr empfehlenswerte Gesellschaftsspiel nicht kennt, wird mit einem hervorragenden historischen Roman belohnt:

Elasund ist ein kärgliches Land, das kaum genügend Nahrung hervorbringt, um seine wenigen Bewohner zu ernähren. Durch Überfälle der räuberischen Turonländer wird das Los der Einheimischen zusätzlich erschwert. Der reiche, von seinen Nachbarn beneidete und unbeliebte Olaf fasst einen verwegenen Plan: Er hat im Westen eine große Insel entdeckt, ein reiches und fruchtbares Land, das nur darauf wartet, erobert zu werden.

Hunger und Not treiben die Elasunder dazu, ihm aufs Meer zu folgen. Nach langer Irrfahrt glaubt man sich schon verloren, als ein Sturm die Flotte an ein fremdes Gestade spült, das jedoch nicht Olaf’s Insel zu sein scheint: Man entdeckt weiße Raben, und die alte Brigitta verkündet den Heimatlosen, man sei in Catan gelandet, der von Odin geschaffenen und der Welt entrückten Insel der Legende.

Die Insel ist unbewohnt, einzig ein großer Vulkan ist eine Bedrohung in dem ansonsten vermeintlichen Paradies. Doch wie in der Legende ist es der Mensch selbst, der Zwist und Hader säht – alte Machtansprüche, schlichter menschlicher Neid und Hass sowie das Aufkommen des christlichen Glaubens spalten die Elasunder in mehrere Fraktionen. – Wird die unerschütterliche Freundschaft von Candamir und Osmund überdauern, wenn auch noch missgünstige Frauen ihre Fehden auf den Rücken ihrer Männer austragen?

Rebecca Gablés historische Romane zeichneten sich vor allem durch exakte Recherche und ihre überzeugenden Charaktere aus. „Die Siedler von Catan“ macht da keine Ausnahme, das Buch ist zwar kein astreiner historischer Roman, kann jedoch ohne Zweifel als solcher gelten: Das Entdeckervolk der Wikinger war das Vorbild für die Siedler aus Elasund.

Zahlreiche bekannte Wikinger-Thematiken wurden übernommen: Ihre herzhaft rauhe Art, ihre Lebens- und Ackerbauweise sowie ihre Sitten und Gebräuche. Besonders dem Konflikt zwischen dem aufkommenden christlichen Glauben, den ein sächsischer Knecht nach Catan mitgebracht hat, und den Glauben an die nordischen Asen widmet sich Gablé. Besonders lustig sind die Kuhhändel, mit denen der ehemalige Mönch Austin versucht, die Wikinger zum wahren Glauben zu bringen – oft haarsträubend, aber nahe an der Historie. Einzig die blutigen Raubzüge fehlen, auf der Insel sind nur die Siedler, die sich allerdings bald gegenseitig bekriegen werden. Hier bindet die Autorin geschickt Elemente aus dem Spiel ein: Handel ist wichtig, auf Catan gibt es zwar viele Rinder, aber Schafe sind ein seltenes und gefragtes Gut. Ebenso wichtig ist die Suche nach Eisen – ohne Eisen keine Schmiede, ohne Schmiede ist der Bau von Werkzeugen nicht möglich.

Diese Konflikte spielten sich auch in der realen Weltgeschichte ab, hier kann man die Entstehung einer Kolonie im Zeitraffer erleben. Bis hin zum unvermeidlichen Machtkampf: Wer soll König von Catan werden?

Besonders schön fand ich, dass die Wikinger ausnahmsweise nicht wie so oft als rauhe Dumpfbacken mit urigem Humor daherkommen, sondern differenzierter dargestellt werden. Die Freunde Candamir und Osmund, gewissermaßen die Hauptfiguren des Romans, haben ihre individuellen Schwächen, aber auch ihre Stärken: Candamir verhätschelt seinen kleinen Bruder viel zu sehr, was diesen demütigt, da er ihn einfach nicht als Mann anerkennt. Seiner Magd Gunda gegenüber ist er aus diversen Gründen im Handlungsverlauf sehr nachtragend. Er ist aber auch ein sehr liberaler Mann und glaubt nicht ganz so fest an die Götter und alte Traditionen wie sein Freund Osmund. Dieser gehört zwar zur Sippe des unbeliebten Olaf, hält aber trotz des bald aufkommenden Streits zwischen den beiden fest zu Candamir, obwohl er die laxe Haltung seines Freundes hinsichtlich seiner mangelnden Verehrung der Götter nicht gutheißt. Selbst die schöne Siglind kann keinen Keil in die Freundschaft der beiden Männer treiben, hier habe ich sofort auf böses Blut getippt. Lasst euch überraschen, ob die beiden Freunde bleiben oder sich verfeinden werden.

Auch die offensichtlichen Bösewichte, wie der aufgrund seines Reichtums aber auch seiner Arroganz unbeliebte Olaf, werden nicht völlig eindimensional dargestellt: Ohne dessen Beharrlichkeit und Führungsqualitäten hätten die Siedler wohl nur den Meeresgrund und nicht Catan erreicht.

Verglichen mit Gablés früheren Romanen weisen die „Siedler von Catan“ die selben Stärken auf: Lebendige und interessante Charaktere, wobei Candamir und Osmund besonders sympathisch sind. Die historische Recherche ist hervorragend und sehr gut im Roman umgesetzt, man fühlt sich in die Zeit der Wikinger versetzt, die Eroberung einer unbewohnten Insel ist ebenfalls sehr reizvoll. Sogar Elemente aus dem Spiel wurden unauffällig und nicht im Geringsten störend in die Handlung eingebunden.

Als „Roman zum Spiel“ ist das Buch erstklassig, im direkten Vergleich gibt es jedoch bessere. Die Insellage beschränkt alle Interaktion des Buches auf die Siedler selbst, historische Zusammenhänge wie in „Das zweite Königreich“ oder dem „Lächeln der Fortuna“ kann man hier nicht erwarten. Es gibt nur Catan, der Rest der Welt fehlt. Der enge Fokus und ein unbefriedigend offenes Ende sind die größten Probleme des Romans. Auch wenn gelegentlich überraschende Wendungen gelingen, allzu oft kann man schon im Vorneherein Konflikte kommen sehen. Die Storyelemente sind wie gesagt durch das Szenario limitiert – Gablé macht jedoch wirklich das Beste daraus.

Die Umschlaggestaltung ist an das Spiel angelehnt, die gebundene Fassung besitzt ein Lesebändchen, zusätzlich fiel mir Werbung für Catan in Form eines damit recht überflüssigen gewordenen Lesezeichens entgegen.

Man muss das Spiel nicht kennen oder lieben, „Die Siedler von Catan“ bieten gute Unterhaltung für Freunde historischer Romane. Gablé-Fans werden vielleicht ein bisschen enttäuscht sein, ihre bisherigen Bestseller konnte sie mit diesem Buch leider nicht toppen.

Homepage zum Buch:
http://www.catan-roman.de/

Homepage der Autorin:
http://www.gable.de/