Charles Palliser – Die schwarze Kathedrale

Palliser Kathedrale 2005 kleinIn einer englischen Kleinstadt lebt 1881 ein alter Skandal nach einem neuen Mord wieder auf. Geblieben ist das Bestreben des örtlichen Domkapitels, die Wahrheit um jeden Preis unter Verschluss zu halten, wogegen sich ein auswärtiger Historiker stemmt … – Mischung aus Historienroman und Thriller, wobei letzterer auch Treibriemen einer Handlung ist, die unter nie aufdringlicher Wahrung des zeitgenössischen Lebensalltags eine vergangene Welt aufleben lässt: großartig.

Das geschieht:

In der Vorweihnachtszeit des Jahres 1881 reist Edward Courtine, Historiker und Dozent der Universität in Cambridge, in das alte südenglische Städtchen Thurchester. Austin Fickling, Lehrer für Mathematik, hat ihn eingeladen, außerdem gibt es einen ‚dienstlichen‘ Grund, Thurchester einen Besuch abzustatten: In der Bibliothek des Domkapitels vermutet Courtine ein altes Dokument, das eine unter Historikern lange offene Frage entscheiden könnte.

Thurchesters riesige Kathedrale ist das Herz der Stadt. Die geistlichen Herren sind einander spinnefeind. Ohne es zu ahnen gerät Courtine in ein Spinnennetz alter Intrigen. Auch Fickling scheint in die Ereignisse verwickelt zu sein. Er macht kaum Anstalten, die alte Freundschaft zu beleben. Stattdessen scheint er voller Hoffen und Bangen ein kurz bevorstehendes Ereignis zu erwarten. Was geht in der abgesperrten Kathedrale vor sich? Wer ist der geheimnisvolle Mr. Steenix, der sein Haus wie eine Festung gesichert hat? Wieso lädt er, der niemals Besuch empfängt, Courtine und Fickling dorthin ein – und wer bringt ihn noch am selben Abend auf brutale Weise um?

Noch hat sich der Schrecken über die Bluttat nicht gelegt, als ein zweites Verbrechen offenbar wird: Arbeiter finden in der alten Kathedrale hinter einer steinernen Gedenktafel die Leiche eines Mannes; gefesselt, geknebelt und erstickt, nachdem man ihn vor mehr als zwei Jahrhunderten lebendigen Leibes dort eingemauert hat. Der grausige Fund rührt an einem uralten Geheimnis. Zu den ungelösten Rätseln der Stadtgeschichte gehört der Tod des Domschatzmeisters William Burgoyne im Jahre 1641. Der mächtige Kirchenmann hatte sich zahlreiche Feinde gemacht. Kurz nach seiner Ankündigung, ein unglaubliches Verbrechen in den Reihen der Domherren aufdecken zu wollen, begrub ihn in der Kathedrale ein Baugerüst. Nun stellt sich heraus, dass dieses Opfer gar nicht Burgoyne war, denn seine Leiche ist es, die in der Mauernische gefunden wurde.

Courtine erkennt die zahlreichen Ungereimtheiten im Mordfall Steenix, den das Domkapitel auffällig hastig ‚geklärt‘ wissen will und dabei auf Gerechtigkeit ganz sicher nicht versessen ist …

Garn mit Knoten und Seitenfäden

„Die schwarze Kathedrale“ stellt eine vorzügliche Mischung aus historischem Krimi und viktorianischem Schauerroman dar. Uralte Geheimnisse, Intrigen, Verschwörungen, finstere Machenschaften, zwielichtige Kirchenfürsten, Betrug, Verrat und Mord sind die Elemente, aus denen Charles Palliser seine Geschichte zusammensetzt. Dieses Rezept hat noch immer zuverlässig seine Wirkung getan und Langeweile an langen Leseabenden verscheucht. Auf die richtige Mischung kommt es dabei an, und Palliser ist ein guter Apotheker. Was wie eine klassische Geistergeschichte aus der Feder Henry (oder besser M. R.) James’ beginnt, mündet in eine spannende und vertrackte Krimihandlung, wie sie Charles Dickens ersonnen haben könnte.

Palliser weiß als Historiker sein Fachwissen geschickt in den Dienst eines abenteuerlichen Thriller-Puzzles zu stellen. Die düsteren Geheimnisse von Thurchester werden schlüssig in der ‚offiziellen‘ englischen Geschichte verankert. Freilich übertreibt es der Autor ein wenig: Er möchte nicht nur eine, sondern gleich drei Geschichten erzählen: vom Steenix-Mord 1881 (mit einer Coda 1919), vom Burgoyne-Rätsel 1641 und – wieder 1881 – von einer Intrige innerhalb der Historikerzunft. Nummer Eins ist fesselnd, wenn auch ein wenig zu verwickelt, um zu jedem Zeitpunkt einzuleuchten, Nummer Zwei spannungsreich und vorbildlich in der Entwicklung, Nummer Drei wahrscheinlich nur für den Fachmann wirklich von Interesse.

Insgesamt fügen sich diese drei Handlungsstränge niemals zu einem harmonischen Ganzen. Es bleibt allerdings zu fragen, ob dies überhaupt in Pallisers Absicht lag. Die Ereignisse von 1641 weisen auffällige Parallelen zum Geschehen von 1881 auf. Das bleibt den Beteiligten allerdings stets verborgen. Letztlich bleibt auch der Steenix-Mord ein historisches Rätsel, wenn es dieses Mal auch nicht zweieinhalb Jahrhundert dauert, bis es gelöst werden kann.

Historie: Wahrheit und Interpretation

Die menschliche Geschichte ist eine Abfolge von Entscheidungen und daraus resultierenden Ereignissen. Ihre Ordnung und Wertung bleibt den Historikern überlassen. Diese sind freilich selbst nur Menschen; sie können sich irren, und sie können die Wahrheit auch verbiegen. Je schmaler die Datenbasis ist, desto größer wird die Möglichkeit eines Missverständnisses – und desto leichter wird es zu betrügen. Palliser belegt beides mit einer Fülle von Beispielen aus dem frühen Mittelalter bis in die Gegenwart. Das ist auch für den Laien schlüssig und regt zum Nachdenken darüber an, was Geschichte und ihre Erforschung zu leisten vermag – und was sich mit ihrer Hilfe anrichten lässt, wenn man kundig und skrupellos genug ist.

Die Figuren der „Schwarzen Kathedrale“ sind gut gezeichnet – und sehr ‚menschlich‘: Niemand ist, wie er oder sie auf den ersten Blick erscheint, und alle haben etwas zu verbergen. Davon ist Edward Courtine, der ehrenhafte Wissenschaftler, keineswegs ausgenommen. Sein scheinbar erfülltes Leben erweist sich als trist und leer und darüber hinaus als Lüge, mit der er sich selbst zweieinhalb Jahrzehnte betrogen hat. Aber auch als Wissenschaftler ist er nicht so objektiv und unbestechlich, wie er sich selbst gern glauben machen möchte.

In der Wolfsgrube des Domkapitels von Thurchester bleibt er allerdings nur eine Maus, die ebenso zutraulich wie ahnungslos ihrem Ende entgegentrollt. Im Schatten der baufälligen Kathedrale findet ein Kampf ganz anderer Größenordnung statt. Courtine muss erleben, wie das Kartenhaus seines Lebens und seiner selbstgefälligen Überzeugungen Stück für Stück zusammenfällt. Dabei meint Courtine, anders als sein Ex-Freund Fickling mit beiden Beinen fest auf der Erde zu stehen. Das ausgehende 19. Jahrhundert ist eine Welt, in der die moderne Wissenschaft – davon ist Courtine, Kind der Aufklärung, fest überzeugt – schon bald alle Fragen erklären und alle Probleme lösen kann. Als Historiker müsste er es eigentlich besser wissen: Die Welt mag sich verändern, doch die Menschen bleiben dieselben, und die Konflikte der Vergangenheit lösen sich im Licht einer verheißungsvollen Gegenwart und strahlenden Zukunft nicht zwangsläufig in Wohlgefallen auf.

Formale Kraft und inhaltliche Spannung

Letztlich kann sich Courtine glücklich schätzen, dass man ihn ‚nur‘ betrügt, denn er kommt immerhin mit dem Leben davon und findet sogar die Kraft, seinem Leben endlich eine neue Richtung zu geben; wie wir aus dem fiktiven Nachwort zum „Courtine-Bericht“ erfahren, hat er nicht nur die begehrte Stellung bekommen, sondern noch einmal geheiratet: fast ein Happy-End; das einzige, das Palliser seinem Publikum gönnt.

„Die schwarze Kathedrale“ ist ein spannender, leicht sperriger Thriller, der die Vergangenheit nicht als bloße Schablone benutzt, sondern ihre Realitäten und Regeln mindestens achtet und logisch in die Handlung einbezieht. Die häufigen Abschweifungen, einige Längen und tote Gleise in der Handlungsführung lassen sich deshalb leicht verschmerzen. Charles Palliser ist als Schriftsteller gewachsen. Der Fortschritt zu „Quincunx“, seinem monumentalen aber kaum lesbaren Erstling, ist deutlich: Die ausladenden Stimmungsbilder und Milieustudien einer untergegangenen Epoche werden zugunsten des Bestrebens gezügelt, eine spannende Geschichte zu erzählen.

Autor

Charles Palliser, geboren am 11. Dezember 1947 in Boston, US-Staat Massachusetts, siedelte bereits 1950 mit seinen Eltern nach England über. Im Alter von 17 Jahren begann er an der University of Oxford Anglistik zu studieren. Nach seiner Dissertation 1975 verließ Palliser Oxford, nicht aber die Universität. Er lehrte Englisch an der University of Strathclyde in Glasgow (bis 1990). In diese Phase fallen erste schriftstellerische Aktivitäten. Palliser wurde 1979 erster Redakteur der neugegründeten Zeitschrift „The Literary Review“.

In den 1980er Jahren arbeitete Palliser an seinem umfangreichen Roman-Erstling „The Quincunx“. Der internationale Erfolg ermutigte ihn, die Universität zu verlassen und Schriftsteller zu werden. (Als Gastdozent ist er hin und wieder weiterhin tätig.) Auch spätere Romane fanden ein weltweites Publikum. Darüber hinaus verfasste Palliser Theaterstücke, Hörspiele und TV-Drehbücher.

Taschenbuch: 477 Seiten
Originaltitel: The Unburied (London : Phoenix House 1999)
Übersetzt von Sigrid Langhaeuser
http://www.droemer.de

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