Patrícia Melo – Leichendieb

Verbrecherkarriere unter sengender Sonne

Ein Päckchen Kokain liegt neben der Leiche eines jungen Mannes. Der Finder beschließt, es zu verkaufen, und verstrickt sich damit in eine Welt aus Betrug und Erpressung. Um zu überleben, muss er bald schon eine Menge Geld auftreiben. Mit einem perfiden Plan macht er sich an die schwerreichen Eltern der Leiche heran. (Verlagsinfo)

Dieses Buch erhielt den 1. Platz bei der Wahl zum Deutschen Krimi Preis 2014.

Die Autorin

Patrícia Melo geboren 1962 in São Paulo. Die Autorin und Dramaturgin schreibt Romane, Hörspiele und Drehbücher. Die »Times« kürte Patrícia Melo zur »führenden Schriftstellerin des Millenniums« in Lateinamerika. Außerdem wurde ihr der »Prix Deux Océans« verliehen. Patrícia Melo lebt in der Schweiz. (Verlagsinfo)

Melo veröffentlichte 1994 ihren ersten Kriminalroman. 2001 wurde sie für ihren vierten Roman „Inferno“ mit dem bedeutendsten brasilianischen Literaturpreis, dem Prêmio Jabuti de Literatura, ausgezeichnet, 1998 mit dem Deutschen Krimipreis für „O Matador“. Seit 1998 schreibt sie auch Drehbücher für Film und Fernsehen. Ihre Romane sind sozialkritische Geschichten über Kriminalität und Gewalt im großstädtischen Brasilien. Seit 2012 ist Patrícia Melo mit dem Dirigenten John Neschling verheiratet. (Quelle: Wikipedia)

Weitere übersetzte Bücher von ihr:

1) Ich töte, du stirbst (Originalausgabe 1994)
2) Wer lügt, gewinnt (1995)
3) O Matador! (1998) (verfilmt 2003 als „O Homem do Ano“)
4) Inferno (2000)
5) Schwarzer Walzer (2003)
6) 2006: Mundo Perdido (unübersetzt)
7) 2008: Jonas, o Copromanta (unübersetzt)
8) Leichendieb (2010)
9) 2011: Escrevendo no escuro (ünübersetzt)

Handlung

Er, der Ich-Erzähler, war mal ein halbwegs erfolgreicher Manager in einem Callcenter in Sao Paulo. Bis er eines Tages bei einer neu eingestellten Mitarbeiterin die Nerven verlor und sie anbrüllte, was sie hier zu suchen habe. Sie ging nach Hause und brachte sich um. Seitdem war er persona non grata und kündigte. Er zog zu seinem Cousin Carlao und dessen Frau Rita.

Nun lebt er in dem Provinzkaff Corumbà im südlichen Mato Grosso, am Rande des Pantanal, nahe der Grenze zu Bolivien. Hier gibt es sogar noch Indios und Urwald, man sehe und staune. Das Land aber gehört den Großgrundbesitzern, zu denen er (noch) keinen Zugang gefunden hat. Das soll sich bald ändern.

Um seinen Speiseplan aufzubessern, ist er leidenschaftlicher Angler geworden. Die fettesten Fische gibt es an einer abgelegenen Stelle im Urwald, direkt am Rio Paraguay. Auch dieser Tag ist mit Erfolg gekrönt. Als er gerade nach Hause gehen will, fliegt ein Kleinflugzeug sehr niedrig über den Wald. Es stürzt mitten in den Fluss. Als er nachsieht, ob noch jemand lebt, entdeckte er den toten Piloten, einen jungen Mann, der in den letzten Zügen liegt – und einen Rucksack mit eineinhalb Kilo bestem Kokain. Welche Gelegenheit könnte günstiger sein? Die goldene Rolex des Jungen nimmt er ebenso an sich wie den Rucksack. Er ahnt nicht, dass sich darin ein Handy befindet …

Die Rolex ist schnell für gutes Geld versetzt, doch als er im Fernsehen die Familie des verschwunden geglaubten Jungen jammern sieht, bekommt er Gewissensbisse. Sie glaubt, der Junge lebe noch irgendwo. Um sie über die Wahrheit aufzuklären, fährt er einfach mal zu ihrer Villa: Es sind Großgrundbesitzer. Mit dem Rauschgiftschmuggel verdiente sich dort wohl Junior ein Zubrot. Oder weiß auch sein Vater davon?

Der Pförtner hält ihn für den neuen Chauffeur und bittet ihn ins Haus. So erfährt er die Lebensgeschichte von Junior, dem Sohn des Fazendeiros, und lernt Dona Lu, die Dame des Hauses, kennen. Dona Lu jammert um ihren Sohn und verändert sich in eine Hypochonderin. Aber sie hält große Stücke auf ihren neuen Chauffeur. Da seine Freudin Sulamita erst Polizistin ist, dann das rechtsmedizinische Leichenschauhaus leitet, bekommt er mit, was in der Ermittlung läuft. Bislang gibt’s keine Erkenntnisse.

Karriereschub

Das von Junior geklaute Kokain reicht nicht lange. Mit dem Erlös kauft er sich bei Ramirez ein, einem bolovianischen Dealer, ein: immerhin zehn Kilo Koks. Zusammen mit seinem Nachbar Moacir will er es verhökern. Doch nun geht alles schief. Weil sich Moacir ständig mit seiner Frau Eliana, die mit dem Schlachter angeblich was hat, zofft, kommt schließlich die Polizei – und findet den Stoff. Moacir landet im Knast. Dort bringt er sich um. Hat da jemand nachgeholfen? Unser Mann kriegt es mit der Angst.

Ramirez kennt keine Gnade: Er will nicht bloß das Geld für das Koks, sondern auch noch eine Strafgebühr. Macht zusammen 50.000, zahlbar in vier Wochen. Doch unser Schlaumeier hat das Geld bereits mit Sulamita und deren Familie auf den Kopf gehauen. Er ist blank. Da kommt ihm die verfluchteste Idee von allen: Er will Dona Lu um 200.000 Piepen erpressen. Alles, was er dazu braucht, ist eine Leiche. Und die kann ihm am besten Sulamita verschaffen. Leider ahnt die Gute noch gar nicht, was ihr Verlobter so alles treibt …

Mein Eindruck

Es ist heiß in Corumbà, und die sengende Hitze muss wohl der Grund sein, dass die Menschen auf die hirnverbranntesten Ideen kommen. Anders ist kaum zu erklären, auf welche groteske Weise sie reagieren, allen voran unser Schlaumeier, dessen Namen wir nie erfahren. Er ist ein Nobody, ein Jedermann, doch der Mann von Dona Lu nennt ihn einen „Wurm“. Gemeint ist wahrscheinlich eine Made, die sich von Leichen ernährt. Ein sehr niederes Lebewesen also, das sich in moralischer Hinsicht weit unterhalb des Niveaus eines Don krümmt und windet.

Dabei ist der Don selbst ein Lump: Er besticht die Bullen, damit sie ihre Ermittlung einstellen. So kommt es, dass Sulamita, die Komplizin mit den glorreichen Einfällen, einen Bonus erhält, zusätzlich zum erpressten Lösegeld für die Leiche. Auch das gehört zu der makabren Ironie dieser Krimigroteske. Der Nebeneffekt: Für Arm und Reich gelten in Brasilien unterschiedliche Gesetze. Was diese Gesetze sind, gilt es herauszuarbeiten.

Leichengeld

Der Leser fragt sich allerdings, wieso irgendjemand so blöd sein sollte, Lösegeld für eine Leiche zu verlangen, geschweige denn, es auch noch zu bezahlen. (Die Leiche Juniors wurde offenbar von wilden Tieren und dem Fluss entsorgt.) An dieser Stelle teilt uns die engagierte und routinierte Autorin einige Einsichten über den sonderbaren Totenkult der Brasilianer mit. Denn im Vergleich etwa zu seinem ungeborenen Kind, das Rita von ihm empfangen hat, empfindet unser Schlaumeier viel mehr Hochachtung für die Toten.

Er ist ein echter Philosoph des Alltags, unser Held. Die Toten, so erfahren wir, ernähren sich quasi von den Lebenden. Dona Lu ist ein schlagendes Beispiel: Seitdem sie ihren Junior nicht mehr hat, wird sie psychisch labil und magert sichtlich ab. Erst wenn sie seine Leiche bekommt, um sie zu bestatten, kann sie von diesem Toten Abschied nehmen und wieder nach vorne blicken.

Diese Trauerarbeit droht sie umzubringen, und darin sieht unser „Held“ seine Chance. Wenn er ihr helfen kann, indem er ihr Juniors „Leiche“ verkauft, so soll’s ihm recht sein. Dann hätten ja alle was davon, die Dona, die Frieden findet, ihr Mann, den sie endlich in Ruhe lässt, und natürlich Sulamita, ihre Familie und ihr Mann, der Ich-Erzähler.

Karriere

War der Held zunächst nur ein Leichenfledderer und Gelegenheitsdieb, so sinkt er im Laufe seiner „Verbrecherkarriere“ zu einem Muli herab, das in seinem Körper Rauschgift schmuggelt (siehe auch den Spielfilm „Maria voll der Gnaden“), bis er schließlich zu einem ghoulischen Leichenverkäufer mutiert. Sulamita kooperiert munter mit und sogar anhand ihrer Polizistenkenntnisse dafür, dass nichts schiefgeht, wenn die Leiche und das Lösegeld übergeben werden. Auf diese Weise wird der Bock zum Gärtner gemacht: Die Polizistin soll am Ende gegen sich selbst ermitteln. Der Don vereitelt dies und schafft somit die Gefahr selbst aus der Welt.

Gefährliches Wissen

Der Don ist fast zu 100 Prozent sicher, dass sein Chauffeur und dessen Verlobte, die Polizistin, hinter der Erpressung stehen. Aber Wissen und Handeln sind zwei paar Schuh. Dazwischen klafft eine gigantische Kluft.

Vieles will bedacht sein, bevor man einen Erpresser verpfeift. Der Schuss könnte nach hinten losgehen. Der Erpresser könnte aussagen, dass der Sohn des Dons ein Drogenschmuggler war und den Don so selbst gefährden. Der Erpresser könnte die Leiche zurückhalten und damit dafür sorgen, dass die unglückliche Dona Lu niemals wieder von ihrer Depression erlöst wird. Das würde für den Don einen Gesichtsverlust ohnegleichen bedeuten. Er könnte sich weder in der Kirchengemeinde noch bei der Familie der Dona je wieder blicken lassen.

Auch Sulamitas Kollegen ahnen etwas und einer macht zweideutige Anspielungen. Noch kommt es nicht zu einer Forderung oder gar einer Anzeige. O nein, die Moral sieht vielmehr Beteiligung an irgendetwas vor. Der Korruption muss Genüge getan werden. Moral ist unter den Bedürftigen in Corumbá eher ein Luxus als eine Notwendigkeit. Das Gesetz der Kumpanei, des Schweigens und der stillen Teilhabe, die „omertà“, gilt mehr als das von der Regierung verkündete Gesetz. Not kennt kein Gebot außer den Regeln der Loyalität: gegenüber Familie, Freunden, aber nicht gegenüber abgelegten Geliebten.

Die Übersetzung

Die Übersetzung ist im gleichen nüchternen Stil gehalten wie er für ein Polizeigeständnis benötigt wird: faktenorientiert, wenig erklärend, schon gar nicht psychologisierend oder gar ausschmückend. Dieser trockene Erzählstil ist wohl in der Absicht verwendet worden, um die Distanz gegenüber dem Ich-Erzähler herzustellen und aufrechtzuerhalten – das genaue Gegenteil eines Krimis von Robert B. Parker.

S. 194: „Wir saßen [in] der Küche seines Labors…“ Das Wörtchen „in“ fehlt.

S. 196: „Beziehung zu der der Familie“: Ein „der“ ist überflüssig.

Unterm Strich
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Ich hatte meine liebe Mühe mit diesem angeblich spannenden Thriller und brauchte über ein halbes Jahr – mit Pausen – um ihn zu lesen. 200 Seiten mögen nicht viel erscheinen, aber wenn der Erzähler keinen Namen hat, der Text keine direkte Rede kennzeichnet und sich alles wie eine Art Protokoll liest, dann gibt es dafür nur eine Bezeichnung: gewöhnungsbedürftig.

Hinzukommt, dass der ich-Erzähler unter einer leichten Form der Schizophrenie zu leiden scheint. Wenn er den Manager raushängt, sagt er ständig „Over“, so als sei er selbst in einem Callcenter beschäftigt und nur ein Agent – für das echte, eigentliche Ich des Erzählers. Da der Übergang, der Wechsel von Ich zu Over-Manager fließend ist, fiel es mir nicht leicht, die beiden auseinander zu halten. Ja, zunächst hielt ich sie für eine Einheit. Fataler Irrtum.

Die Schizphrenie gehört zu dem Komplex an eigentümlicher Moralität, die uns korrupt vorkommt, aber im Grunde nur dem Überlebenskampf der Gesetzlosen geschuldet ist. Wo die geschmierte Polizei wegschaut, kann auch keine Ehrlichkeit, Gesetzestreue usw. aufkommen. Und für die Reichen, die den Drogenschmuggel mitbetreiben, gelten sowieso ganz andere Gesetze, die eh in keinem Gesetzbuch stehen. Zudem verhalten sich selbst die Armen nicht normal, sondern verfallen unter der sengenden Sonne auf die beklopptesten Ideen. Nein, dieser Verbrecher ist kein Genie à la Prof. Moriarty, sondern ein Idiot. Erst Sulamita macht ihn zu einem erfolgreichen Leichendieb.

Man muss Melos Krimi vielleicht zwei- oder gar dreimal lesen, um vollständig zu verstehen, was sie alles hineingepackt hat, an Einsichten über ihr Volk, an Philosophie über das Verhältnis zwischen Lebenden und Toten. Mir erging es jedenfalls so, dass ich das Buch mehrmals über Wochen hinweg liegenließ. Erst das letzte Fünftel las sich spannend und zielführend. Vielleicht war es aber auch nur die Aussicht auf ein erlösendes Ende, das mich den Rest in einer Session bewältigen lies.

Der Autor vergibt: (3.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Gebundene Ausgabe: 203 Seiten
Originaltitel: Ladrão de Caváderes (2010)
Aus dem Brasilianischen von Barbara Mesquita
ISBN-13: 978-3608501186

www.klett-cotta.de