Lob der Lüge: ein dreifacher Mordplan
Zwei Menschen, die einander lieben, tun sich zusammen, um einen anderen Menschen zu töten. Der Plan funktioniert nicht ganz wie vorgesehen: Das Opfer überlebt. Auf ein Neues! Diesmal klappt alles, doch der Fluch der bösen Tat schweißt die beiden zusammen, und das wird zum – tödlichen? – Problem, als sich der Mann einer anderen zuwendet…
Die Autorin
Patrícia Melo geboren 1962 in São Paulo. Die Autorin und Dramaturgin schreibt Romane, Hörspiele und Drehbücher. Die »Times« kürte Patrícia Melo zur »führenden Schriftstellerin des Millenniums« in Lateinamerika. Außerdem wurde ihr der »Prix Deux Océans« verliehen. Patrícia Melo lebt in der Schweiz. (Verlagsinfo)
Melo veröffentlichte 1994 ihren ersten Kriminalroman. 2001 wurde sie für ihren vierten Roman „Inferno“ mit dem bedeutendsten brasilianischen Literaturpreis, dem Prêmio Jabuti de Literatura, ausgezeichnet, 1998 mit dem Deutschen Krimipreis für „O Matador“. Seit 1998 schreibt sie auch Drehbücher für Film und Fernsehen. Ihre Romane sind sozialkritische Geschichten über Kriminalität und Gewalt im großstädtischen Brasilien. Seit 2012 ist Patrícia Melo mit dem Dirigenten John Neschling verheiratet. (Quelle: Wikipedia)
Weitere übersetzte Bücher von ihr:
1) Ich töte, du stirbst (Originalausgabe 1994)
2) Wer lügt, gewinnt (1995)
3) O Matador! (1998) (verfilmt 2003 als „O Homem do Ano“)
4) Inferno (2000)
5) Schwarzer Walzer (2003)
6) 2006: Mundo Perdido (unübersetzt)
7) 2008: Jonas, o Copromanta (unübersetzt)
8) Leichendieb (2010)
9) 2011: Escrevendo no escuro (ünübersetzt)
Die Übersetzerin
Barabara Mesquita, 1959 in Bremen geboren, ist Dolmetscherin und Übersetzerin für Portugiesisch und Spanisch. Sie hat u. a. Luis Verissimo und Juan Manuel de Prada ins Deutsche übertragen. Ihre Arbeit an „Wer lügt, gewinnt“ ist einfach makellos.
Handlung
Fulvia ist Schlangenzüchterin an einem Institut und auch sonst sehr interessant. Das jedenfalls findet José Guber, unser Chronist, als er Fulvia im Zuge seiner Recherchen für einen weiteren Kriminalroman besucht. Was wäre das beste Gift für einen todsicheren Mord, fragt er sie. José ist ehrgeizig, muss sich aber bei seinem mickrigen Schreiberlohn meist mit Plagiaten der amerikanischen Meister begnügen. Nun will er etwas Eigenständiges schaffen, und da kommt ihm die auskunftswillige Fulvia wie gerufen.
Fulvias Charme entfacht eine Liebes- und Bettgeschichte, die, wie José erkennen muss, nicht ganz selbstlos ist: Fulvia will ihren Mann Ronaldo loswerden. Alle ihre eigenen Versuche sind bislang fehlgeschlagen. Aber vielleicht hat ja José einen guten Plan? Ein Krimiautor sollte für dergleichen der perfekte Partner sein. José überwindet seine Skrupel, eine derart netten Kerl wie Ronaldo ins Jenseits zu befördern.
Der Plan mit der Schlange, die Ronaldo beißt, klappt – beinahe. Denn wie durch ein Wunder ist der Mann widerstandsfähiger als das Schlangengift. Er verliert lediglich sein Bein, das aber bald durch eine Prothese ersetzt wird – eine ständige Mahnung an die beiden Verschwörer. Aber Ronaldo muss weg, soll es für José und Fulvia eine Zukunft geben.
Leider sind die beiden nicht immer ein Herz und eine Seele. Auch der fulminante Sex mit der Schlangenzüchterin, die nebenbei noch dunkle geschäfte macht, bleibt nicht ewig prickelnd. Außerdem plagen José Gewissensbisse. Da kommt ihm die Anfrage seines Verlegers, doch Selbsthilfebücher zu verfassen, gerade recht. So wie er anderen Menschen raten kann, sich selbst zu helfen, so auch sich selbst: José, das verkannte Genie, erfindet die „symbiotische Linguistik“ – also esoterisches Geschwurbel – und wird Auflagenmillionär.
Dadurch wird José, der sich nun als Autor dieser Bestseller outet, für Ingrid Weiss, die Sekretärin des Verlags, interessant, und ihre unzweideutigen Angebote bleiben nicht unerhört. Der neue Anlauf, Ronaldo ins Jenseits zu befördern, klappt endlich, ruft nun aber die Polizei auf den Plan..
Mein Eindruck
Der hübsch ironische Krimi erkundet unter anderem die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge. Die Geschichte erzeugt ein dichtes Geflecht von Lügen, das so dicht wird, bis aus den Strängen Schlingen werden, in denen sich die Hälse der beiden Verbrecher zu verfangen drohen. Es ist ja schon schlimm genug, gegenüber dem geplanten, davongekommenen und nochmals geplanten Mordopfer stets gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
Aber was José nicht vorhergesehen hat, ist die Schlinge der Komplizenschaft: „Mitgefangen, mitgehangen“, diese alte Formel nimmt unversehens handfeste Konkretheit an, als ihm Fulvia klarmacht, dass sie keinesfalls gedenkt, ihn zu vergessen oder gar einer anderen „Schlampe“ zu überlassen. So sieht also eine Schicksalsgemeinschaft aus. Doch wo sich José zu nichts aufraffen kann, ergreift seine neue Helferin die Initiative – selbst gegen seine inständigen Bitten. Wer kann schon mit einem Messer an der Kehle seine Zukunft planen?
Lügen sind also nur andere Mittel, das Unausweichliche zu kaschieren, hinauszuzögern, zu tarnen. Ein Spiel aus Rauch und Spiegeln, um demjenigen, der reinen Herzens ist – eben Ronaldo – umso leichter das Fell über die Ohren ziehen zu können. Soweit die private Dimension der Strategie des Lügens.
Die Stufenleiter der Lüge
Nun zur öffentlichen Dimension des Lügens. José, unser Ober-Loser, fängt ja ganz harmlos mit Plagiaten an. Die Leser fallen drauf rein, selbst wenn sie wissen, dass es sich um billigen Schund handelt. Sie zahlen ihren Obolus und lesen den Kram, denn für Unterhaltung musste man schon immer einen Preis entrichten.
Die nächste Stufe in Josés glorreichem Schaffen sind die Selbsthilfebücher. Mit einem erfundenen Vokabular aus pseudo-wissenschaftlichem Geschwurbel („symbiotische Linguistik“) gelingt es ihm, seinen Zweck zu erreichen: Nämlich genau die gleiche Botschaft wie Carnegie, der weltgrößte Autor aller Selbsthilfebücher, zu verbreiten: „Sei du selbst und liebe dich, dann kannst du nicht scheitern!“
Das ist zwar völliger Käse, aber es gibt gestern wie heute und morgen jede Menge Leser, die noch an die Botschaft von Selbstbewusstsein und Selbstliebe glauben. Es verwundert nicht, wenn wir erfahren, dass es vor allem Frauen sind, die eisern an diese Botschaften glauben.
Lügen XXL
Die dritte Stufe der Lüge darf nicht ausbleiben, und an Erhabenheit lässt sie nicht zu wünschen zu übrig. Hier gibt es ein echtes Kontrastprogramm zu verfolgen. José begibt sich in den unübersichtlichen Sumpf der unorganisierten Religiosität, als er selbst das Gebet als Allheilmittel zu predigen beginnt.
Seine gedruckten Worte fallen gerade in Brasilien auf fruchtbaren Boden. Man schaue sich nur seine werte Frau Mama an. Sie stellt sich in ihrem Viertel zu jeder Tages- und Nachtzeit auf den Balkon ihres Hauses, um mit dem Megafon die Frohe Botschaft zu verbreiten. Klar, dass sie in der Klappse landet. (Wo kämen wir schließlich hin, wenn sich jeder die Privilegien der Mutter Kirche anmaßen würde? Womöglich ins Paradies!) Dort findet sie Gleichgesinnte und ein wohlgesonnenes Publikum, ja, sogar das Glück ihres Lebens, einen Gatten.
Religiosität ist aber in Brasilien nicht auf das Christentum beschränkt, sondern weiß sich, ganz liberal, auch anderen Kulten anzupassen. Da ist beispielsweise der Macumba-Kult, dessen Priester sich anerbötig macht, Josés Todfeindin, seine überaus überflüssige Frau Fulvia, aus dem Weg zu räumen – für eine milde Gabe, versteht sich. Kulte und Kirchen können also durchaus hilfreich sein. Und ob Gebete nun wirklich helfen oder nicht – Josés Bankkonto tut die (Leicht-) Gläubigkeit seiner Leser sichtlich gut.
Die süßeste Lüge
Man muss dem Affen Zucker geben, um ihn bei Laune zu halten. Fulvia weiß dies genauso gut wie ihre Rivalin Ingrid. Verschwitzte Laken in heißen brasilianischen Nächten sind nur der Umweg, den eine solche Frau zu gehen bereit ist, um ihr dahinter liegendes Ziel zu erreichen. Sex ist nur eine Währung, und sie wird reichlich gezahlt, bevor sich der Auserkorene und Umgarnte schließlich zu tun bequemt, was frau von ihm will: einen Mord auszuführen und dergleichen sportive Aktivitäten mehr. Frau darf bloß nie den Fehler begehen, ihm die Wahrheit zu erzählen. Das wäre nun wirklich eine unverzeihliche Dummheit.
Die Übersetzung
Barbara Mesquita hat auch dieses Buch fast makellos ins Deutsche übertragen. Lediglich auf S. 206 ist ihr noch ein Ausrutscher passiert:
„Ich rief Laercio [an], um ihm zu sagen…“ Ein kleines Wörtchen fehlt an dieser Stelle.
Unterm Strich
Die Geschichte ist keineswegs so übersichtlich und geradlinig erzählt, wie ich sie hier darzustellen versucht habe. Die drei Mordkomplotte – aller guten Dinge sind drei – werden getrennt durch eingestreute Textauszüge aus Josés Selbsthilfebücher, seinen Gebetsanleitungen (entweder unausstehlich oder lachhaft, je nach Gemüt des Lesers), sowie die Korrespondenz mit seinem Verleger. Überraschung: Der Verleger korrespondiert hinter Josés Rücken direkt mit Ingrid, seiner Ex-Sekretärin und jetziger Herzdame seines Autors – ein weiteres Komplott?
Diese Zwischentexte haben es also durchaus in sich. Sie bilden eine weitere Bedeutungsschicht des Geflechts aus Geschichten, nicht etwa nur die Oberfläche des von José produzierten Geschreibsels, sondern ein Einblick in die wirtschaftlichen Zwänge und Motive hinter den Lügen. Was also Oberfläche zu sein scheint, ist eigentlich das Gegenteil der Lüge. (Wage ich, das W-Wort zu schreiben? Nein, lieber doch nicht.)
Eine kleine Hürde
Was die erfrischend boshafte Lektüre ein wenig erschwert, ist die Praxis der Autorin, keinerlei Zeichen einzusetzen, um Dialog zu kennzeichnen. Die Italiener setzen ja wenigstens einen Spiegelstrich (-), um eine Dialogzeile anzuzeigen. Aber die Autorin setzt Gesprochenes nonchalant zwischen Beschriebenes. Wohl dem also, der zwischen beidem zu unterscheiden weiß – und dann auch noch die Sprecher auseinanderhalten kann! Mir gelang dieses Kunststück nicht immer und durfte dann ganze Absätze nochmal lesen.
Thema des Romans ist also die Kultur aus Lügnerei, die fast stets die Oberhand gegenüber der lästigen Realität und Wahrheit behält. So bleiben selbst Loser wie José Guber Gewinner, wenn schon nicht Sieger. Das Kunststück der Autorin liegt nun darin, auf völlige neutrale, „objektive“ Weise zu berichten, wie es zu José Gubers schier unaufhaltsamem Aufstieg als Sprücheklopfer und Augenwischer gekommen ist – Mord hin oder her.
Wenn man sich aber vorstellt, dass er auch ein beliebiger Politiker sein könnte, so nimmt die indirekte Kritik in der Krimisatire der Autorin eine aktuelle und düstere Färbung an. Die Lügenkultur ist Teil der Korruptionskultur, und die ist in ganz Lateinamerika verbreitet, wie man täglich lesen kann (siehe Mexiko usw.). Insofern sind die gut versteckten Aussagen, die die Autorin macht, auf alle korrupten Länder zu übertragen.
Korruption ist eine Sünde, die von vielen Menschen auf einer sehr breiten Straße begangen wird. Der Pfad der Tugend und Wahrheit hingegen, so drückt es die Bibel aus, ist ein schmaler, halsbrecherischer Pfad, auf dem es schon manchen erwischt hat. Mit anderen Worten: Wer lügt, gewinnt, und wer Gutes tut und denkt, ist selber schuld.
Gebundene Ausgabe: 217 Seiten
Originaltitel: Elogia da mentira, 1998
Aus dem Brasilianischen von Barbara Mesquita
ISBN-13: 978-3608935226
www.klett-cotta.de
Der Autor vergibt: