James Patterson – Das Ikarus-Gen (Maximum-Ride 02) (Lesung)

Biotech-Thriller, spannend und bewegend

„Das Ikarus-Gen“ ist die Fortsetzung des Genetikthrillers „Der Tag, an dem der Wind dich trägt“. Zur Vorgeschichte: siehe weiter unten. Wieder einmal gelingt es Patterson, aus einer recht unplausiblen Grundidee, die an Science-Fiction erinnert, eine spannende und anrührende Geschichte zu machen. Diesmal kommt noch eine zweite – und weitaus gruseligere – Grundidee hinzu: Organhandel in großem Maßstab. Man wartet gar nicht mehr, bis die Spender zu Tode gekommen sind, sondern sorgt gleich aktiv für ihr Ableben …

Der Autor

James Patterson, ehemaliger Besitzer einer Werbeagentur, ist der Autor zahlreicher Nummer-1-Bestseller. Allerdings sind es vor allem seine Alex-Cross-Thriller, die den Leser berühren. Folglich war Alex Cross bereits zweimal im Film zu sehen: „Im Netz der Spinne“ und „… denn zum Küssen sind sie da“ wurden beide erfolgreich mit Morgan Freeman in der Hauptrolle verfilmt. Für Einsteiger sei gesagt, dass Alex Cross ein sympathischer schwarzer Polizeipsychologe ist, der mit seiner Familie in Washington, D.C., lebt.

Patterson ist extrem fleißig. Sein letzter Solo-Roman ist „Das Ikarus-Gen“, davor wurde auch „Sam’s Letter to Jennifer“ veröffentlicht, das ähnlich aufgebaut ist wie der „tearjerker“ „Briefe an Nicholas“.

Im Frühjahr 2003 (deutsch Mitte 2005) erschien eine Kollaboration mit dem Titel „Die Rache des Kreuzfahrers“ (The Jester), deren Story im Mittelalter spielt. Der neueste Alex-Cross-Roman trägt den Titel „Ave Maria“ (2005, deutsch März 2006).

Nähere Infos finden sich unter www.twbookmark.com und www.jamespatterson.com. Regelmäßig wird aus dem Buch auch ein Audiobook oder E-Book gemacht: Patterson kann überall dabei sein.

Die Sprecherin

Marie Bierstedt, Jahrgang 1974, trat ab Mitte der 80er Jahre in TV-Serien wie „Praxis Bülowbogen“ oder „Ein Heim für Tiere“ auf. Sie ist u. a. die deutsche Stimme von Kirsten Dunst („Spider-Man“), Kate Beckinsale und Natalie Portman. Sie ist vielen Deutschen als deutsche Stimmbandvertretung von Alyson Willow Hannigan in „Buffy“ vertraut. Ich zähle nicht zu den „vielen Deutschen“, weil ich „Buffy“ noch nie angeschaut habe.

Der Text wurde von Antje Seibel gekürzt, Regie führte Kerstin Kaiser und für den guten Ton sorgte Horst-Günther Hank. Die akustischen Motive stammen ihm und Dennis Kassel.

Die Vorgeschichte

Die Tierärztin Frances O’Neill entdeckt eines Tages in Colorados Wäldern ein genmanipuliertes Wesen, das aussieht wie ein Mädchen mit Engelsflügeln. Tatsächlich kann Maximum, so nennt sich diese Kombination aus Mensch und Vogel, fliegen, wie man sich das von Engeln vorstellt. Der Haken dabei ist natürlich, dass es sich bei Max um das Ergebnis verbotener Experimente eines illegalen Genlabors handelt, das den Decknamen „Die Schule“ trägt. Und dass Max und ihresgleichen enorm wertvolle Organismen darstellen, die entsprechend gejagt werden. Frances gewährt Max und ihren Freunden Unterschlupf und Schutz, wodurch sie selbst in die Schusslinie gerät.

Handlung

Nachdem Frances O’Neill und ihr FBI-Freund Kit Brennan mit ihren sechs Schützlingen, den engelsgleichen Wesen aus den illegalen Versuchslabors der „Schule“ vier unbeschwerte Monate in einem Refugium namens „Lake House“ verbracht haben, nimmt man ihnen die lieb gewonnenen Kinder wieder weg. Schließlich haben diese ja auch leibliche Eltern. Das Gericht in Denver gibt deren Antrag auf Überstellung ihrer Kinder in einem Aufsehen erregenden Prozess statt. Frannie und Kit bricht’s das Herz, aber ist es auch gut für die Kinder?

Unterdessen arbeitet in geheimen Labors unter dem Krankenhaus, das schlicht und ergreifend „Das Hospital“ genannt wird, Doktor Ethan Kane (= Kain, aber auch Krücke), an einem aufwändigen Geheimprojekt namens „Resurrection“, das ihn stinkreich macht. Scheibchenweise wird uns enthüllt, dass Kane Organhandel in großem Maßstab betreibt. Allerdings wartet er gar nicht mehr wie sonst üblich, bis die Spender zu Tode gekommen sind, sondern sorgt gleich aktiv für ihr Ableben. Das erhöht die „Produktivität“ erheblich.

Das Verfahren dafür könnte direkt aus „The Matrix“ stammen. Durch Nerveninduktion spiegelt er den Spendern ihre schönste Wunscherfüllung vor. Die Spender meinen, freiwillig an einem der Medizin dienlichen Versuch teilzunehmen. Sie wähnen sich schließlich auch tatsächlich im siebten Himmel, doch dieser Zustand wird abrupt beendet, als eine Todesspritze in sie injiziert wird, die sie kaum spüren. Ihre inneren Organe werden auf raffinierte Weise entnommen, das ausgeweidete „Kanu“ – so lautet der medizinische Ausdruck für einen ausgeweideten Körper wirklich – anschließlich im Hochofen eingeäschert. Doch für wen sind die Organe aus dem Geheimprojekt „Resurrection“ bestimmt?

Die Handlung kommt in Bewegung, als Dr. Ethan Kane sein Augenmerk auf die bemerkenswerten inneren Organe von Max und ihren fünf Freunden richtet. Und er findet es überhaupt nicht witzig, dass eine Journalistin inzwischen das Projekt „Resurrection“ mit den Vogelkindern in Zusammenhang gebracht hat. Julie Schein stirbt eines raschen Todes, doch vor ihrem Tod musste sie ihm verraten, von wem sie noch mehr darüber erfahren hat: von Max.

Max hat ein schlechtes Gefühl, seit die Reporterin verschwunden ist. Als die Jäger, angeführt von Dr. Kane, in ihr Haus eindringen, sieht sie keine andere Wahl als die Flucht. Sie warnt auch alle andere Vogelkinder und gemeinsam fliehen sie in die Sicherheit. Doch wo ist diese zu finden?

Die inzwischen eröffnete Jagdsaison auf Frannies ehemaligen Schützlinge kann die Tierärztin nicht unberührt lassen, und tatsächlich muss sie ihr bisheriges Leben opfern, um das der Kinder zu schützen. Sie ruft Kit Brennan zu Hilfe. Was Frannie nicht ahnt: Dr. Ethan Kane ist hartnäckig und hat mächtige Freunde …

Mein Eindruck

Patterson ist bislang vor allem als Thrillerautor bekannt geworden. Seine Helden sind der durch die Verfilmungen bekannt gewordene Polizeipsychologe Dr. Alex Cross in Washington, D.C., und Detective Lindsay Boxer in San Francisco. Das andere Extrem sind seine zwei Liebesromane, von denen ich „Tagebuch für Nikolas“ als Hörbuch kennen gelernt habe: sehr bewegend, wenn man sich auf diese Emotionalität einlässt.

Irgendwo in der Mitte zwischen diesen beiden Polen war „Der Tag, an dem der Wind dich trägt“ angesiedelt: ein Thriller mit „human touch“, aber einem starken Interesse an den Folgen der Biotechnologie. Im Vorwort zu „Das Ikarus-Gen“ verrät der Autor, dass dies sein bestverkaufter Roman sei, und das finde ich einigermaßen erstaunlich. Er auch. „Das Ikarus-Gen“ verstärkt den „human touch“ bis zum maximal Möglichen. Man kann sich also auf einige herzerweichende Szenen gefasst machen. Die Story lässt aber auch die Biotechnik keineswegs außer Acht.

Man kann über eine genetische Kombination von Mensch und Vogel denken, wie man will. Der Autor führt im Vorwort zu „Das Ikarus-Gen“ Experten an, die glauben, dass die Chimären, also Mischwesen, in absehbarer Zeit, also noch in diesem Jahrhundert, geschaffen werden.

Patterson führt uns diese geflügelten Wesen so vor, als gäbe es sie bereits in irgendeinem Labor, zeigt sie als junge Menschen und lässt sie als Menschen von einem menschlichen Gericht aburteilen – zweimal. Die Person, die den engsten Kontakt zu ihnen hat, ist Frannie O’Neill. Sie erzählt immer aus der Ich-Perspektive, so dass der Leser ihre tiefen Gefühle, die denen einer (Ersatz-)Mutter wohlanstehen, ungefiltert mitbekommt. Alle anderen Figuren werden aus der Er-Perspektive gezeigt. Frauen spricht dieser Aspekt des Buches wohl am meisten an. Ironischerweise nützt der Autor die Ich-Perspektive auch aus, um den Leser zu täuschen, als wolle er sagen, man solle dem subjektiven Eindruck nicht allzu sehr trauen.

Männer interessiert hingegen mehr die Thriller-Seite der Geschichte. Ist Ethan Kane der „verrückte Wissenschaftler“, wie er im Buch steht? Oder ist er doch nicht so verrückt, sondern nur das Gegenstück zu dem steinreichen Replikanten-Erfinder Tyrell in Ridley Scotts Kultklassiker „Blade Runner“? Jedenfalls hat auch Ethan Kane eine Replikantin à la Rachel geschaffen: Juliette. Bei einem so skrupellosen Mann kann sich leicht denken, wozu.

Und Dr. Kane sorgt sich ach so sehr um die Zukunft der Menschheit. Daher sein Projekt „Resurrection“: die Wiederbelebung von Schlüsselstellen der Macht in allen Ländern der Welt. Natürlich ist ein kleiner Haken dabei, und für Dr. Kane springt auch etwas dabei heraus.

Sein Interesse an der künftigen biologischen Ausstattung des Menschen führt ihn zu den Vogelkindern. Er muss sie haben, um jeden Preis. Selbst wenn ein oder zwei von ihnen dabei draufgehen. Und Frannie und Kit sind bei dieser Jagd nur hinderlich. Leider hat er unterschätzt, wie überlegen ihm ein Geschöpf wie die fliegende Maximum ist. Das wird ihm zum Verhängnis.

Die Sprecherin

Wenn man an Natalie Portman, Kate Beckinsale und Kirsten Dunst denkt, so hat man schon einen guten Eindruck von Marie Bierstedts Stimme im geistigen Ohr. Die Frau ist ja kein unbeschriebenes Blatt, sondern hat schon an unzähligen Hörspielproduktionen teilgenommen, häufig neben Detlef Bierstedt.

Nach ein paar Anfangsschwierigkeiten gelangt Bierstedt schnell in ruhiges Fahrwasser, in dem sie ihre Routine ausspielen kann. Sie hat auf dieser Aufnahme eine recht hohe und nicht besonders kräftige Stimme. Auf den Spielfilm-DVDs klingt ihre Stimme kräftiger und voluminöser, aber das dürfte wohl an den überlegenen Soundstandards DD 5.1 und DTS liegen. Diese sind bei einer solchen CD nur mit höherem Aufwand, den der Käufer zahlt, zu erzielen.

Ganz besonders geeignet ist ihre Stimme, wenn Frannie O’Neill in der Ich-Form liebevoll von ihren Erlebnissen mit den Kids erzählt und dann, wenn die Kinder unter sich sind. Die Vogelkinder befleißigen sich dann durchaus einer mitunter kindlichen, aufgeregten Ausdrucksweise, die Bierstedt auch mal zärtlich vorzutragen weiß. (Zwei der Kids sind erst vier Jahre alt.) Auch wenn Max, die Anführerin, nach Frannie und Kit ruft, ist eine hohe Stimme passend.

Das trifft allerdings nicht auf Dr. Ethan Kane zu. Ihm wäre eine tiefere Stimmlage angemessen. Zum Glück hat er eine weibliche Kollegin und eine todgeweihte Patientin, Charlotte Donahue, die mit einer hellen, weiblichen Stimme gut repräsentiert werden. Alles in allem erscheinen Männer eher als Randfiguren in dieser Story. Eine weibliche Sprecherin passt mithin besonders gut.

Was ihre Aussprache englischer Namen und Bezeichnungen betrifft, so liegt Bierstedt meistens richtig, aber nicht immer. Zweimal leistet sie sich einen Schnitzer, der einen Englischsprechenden vom Hocker hauen würde. Sie spricht „Bear Bluff“ wie „Beer Bluff“ aus. Da haben die Bären keine Chance gegen das Bier.

Die Musik

Ein vom Piano betontes Intro und Outro umschließt die Lesung wie eine Klammer. Das Intro stimmt mit romantisch-dramatischen Kadenzen auf die Geschichte ein, und das Outro entlässt den Hörer wieder in die schnöde Wirklichkeit.

Unterm Strich

Patterson kombiniert einen spannenden Thriller mit einer bewegenden Human-Interest-Story, um eine effektvolle Story zu liefern. Dabei hält er nach meinem Empfinden die Spannung mindestens auf einem Mittelmaß, bis sich die Action im Finale zu höchster Spannung steigert. Nach einem versöhnlichen Schluss gibt es dann nochmal einen überraschenden Schlenker, genau wie in „Wer sich umdreht oder lacht“. Da gefriert einem glatt noch einmal das Blut in den Adern.

Zum Titel: Das „Lake House“ sucht man im Großteil des Romans vergebens. Es bildet eine positive Erinnerung als Refugium für die Vogelkinder. Und in dem vorliegenden Roman sehnen sie sich dorthin zurück, um endlich eine richtige Familie zu bilden, mit Frannie & Kit als Elternpaar. Es ist das Utopia, nach dem sie die ganze Handlung hindurch streben. Ob sie es wohl erreichen? Selber lesen bzw. hören!

Was den Roman und seinen Vorgänger so sympathisch macht, ist das beachtliche Einfühlungsvermögen, mit dem der Autor sowohl die Tierärztin als auch die Kinder beschreibt. Alle mögen moderne Pop- und Rockmusik und TV-Serien, daher fallen ständig Namen von bekannten Songs und Interpreten. Auf diese Weise vermittelt er eine glaubwürdigen Eindruck von der Welt, in der sie leben.

Die Vogelkinder wachsen sehr schnell, und binnen weniger Monate werden aus pubertierenden Teenies junge Erwachsene. Das bringt natürlich auch jede Menge interessanter Probleme mit sich, zum Beispiel Sexualität. Ein Normalo-Junge begrabscht Max’ Brust und ist enttäuscht, dass sie keine Brüste hat. Braucht sie nämlich genauso wenig wie ein Schwan Ohrmuscheln. Bei Vogelkindern funktionieren Sex und Aufzucht der Jungen halt wie bei den Vögeln statt wie bei den Menschen. Dafür können sie aber nichts: Sie wurden so gemacht. Das Ergebnis ist fremdartig und höchst interessant. Insofern bietet der Roman auch gewisse SF-Elemente, was ihn mir umso sympathischer gemacht hat.

Hinweise

Die Reihe um die Vogelkinder hat Patterson letztes Jahr mit dem Roman „Maximum Ride“ fortgesetzt. Er dürfte wohl in ein, zwei Jahren auch bei uns erscheinen. Und wie uns die Pressemitteilung des Verlags verrät, planen die Filmemacher bereits die „Verfilmung der Geschichten um Max und ihre Geschwister“.

Originaltitel: The Lake House, 2003
Aus dem US-Englischen von Axel Merz
355 Minuten auf 5 CDs

www.luebbe.de

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