James Patterson – Vor aller Augen. Ein Alex-Cross-Thriller (Band 9)

Weiße Sklavinnen

Moderner Sklavenhandel in den respektabelsten Kreisen der US-Gesellschaft? Der „russische Wolf“ macht es möglich in Pattersons neuestem Thriller mit dem frischgebackenen FBI-Agenten Dr. Alex Cross.

„Vor aller Augen“ ist wesentlich spannender als etwa „Mauer des Schweigens“ und besticht durch seine gesellschaftliche Aktualität und Relevanz. Denkt man ein kleines Weilchen über die verschiedenen Ebenen des Buches nach, so läuft es einem kalt den Rücken hinunter. Denn Menschenhandel gibt es überall, nur wird er nicht so bezeichnet.

Der Autor

James Patterson, geboren 1949, ehemaliger Besitzer einer Werbeagentur, ist der Autor von fünfzehn Nummer-1-Bestsellern (inklusive diesem Buch). Allerdings sind es vor allem seine Alex-Cross-Thriller, die den Leser berühren. Folglich war Alex Cross bereits zweimal im Film zu sehen: „Im Netz der Spinne“ und „… denn zum Küssen sind sie da“ wurden beide erfolgreich mit Morgan Freeman in der Hauptrolle verfilmt. Für Einsteiger sei gesagt, dass Alex Cross ein sympathischer schwarzer Polizeipsychologe ist, der mit seiner Familie in Washington, D.C., lebt.

Patterson ist extrem fleißig. Sein letzter Solo-Roman hieß „The Lake House“, doch inzwischen wurde auch „Sam’s Letter to Jennifer“ veröffentlicht, das ähnlich aufgebaut ist wie der „tearjerker“ [„Briefe an Nicholas“. 428 Mittlerweile erschienen neue Alex-Cross-Romane mit den Titeln „The Big Bad Wolf / Vor aller Augen“ und „London Bridges“. Im Januar und Februar 2005 sind zwei weitere Patterson-Romane erschienen, darunter „Lifeguard“. Nähere Infos finden sich unter http://www.twbookmark.com und http://www.jamespatterson.com. Patterson lebt mit seiner Familie in Florida.

Handlung

Am Schluss von „Mauer des Schweigens („Four blind Mice“) hatte Alex Cross das Angebot angenommen, von der Washingtoner Polizei zum FBI im nahen Quantico überzuwechseln. Doch anders als Clarice Starling in „Das Schweigen der Lämmer“ sind die modernen FBI-Agenten vor allem Bürokraten und Computerjockeys, findet Cross, nachdem er seinen Einführungskurs besucht hat. Auch die Art und Weise, wie man „draußen im Feld“ bei Festnahmen vorgeht, findet er ziemlich befremdlich: Eine Menge Neulinge scheinen dabei eingesetzt zu werden – riskant.

Doch auch er selbst befindet sich in keiner beneidenswerten Position. Er ist der FNG: der Fucking New Guy, und obendrein auch noch das Schoßhündchen des neuen FBI-Direktors Burns, der Cross angeheuert hat. Schon bald macht sich Cross den Trainingsleiter Nooney zum Feind und sich selbst zum Opfer der Innenpolitik: Man übergeht ihn schlichtweg.

All diese Interna sind zwar Nebensache in der Erzählung, aber im Endeffekt nicht unwichtig in ihrer Auswirkung darauf, wie sich der neueste, schreckliche Fall entwickelt, nämlich ungünstig.

Der Fall „White Girl“

Elizabeth Connelly, eine liebende Mutter von drei Kindern, die aussieht wie Claudia Schiffer, wird am hellichten Tag in der Tiefgarage des Einkaufszentrums von Atlanta gekidnappt. Zwei russisch sprechende Typen betäuben sie, werfen sie in einen Van und brausen mit ihr weg. Sie wird nie wieder gesehen. Das Gleiche passiert mit Audrey Meeks, im Einkaufszentrum King of Prussia außerhalb Philadelphias (ich war schon mal dort: Es ist riesig, vor allem deshalb, weil es in Pennsylvania keine Textilsteuer gibt). Das dritte Opfer ist jedoch ein Mann: Er sieht aus wie Brad Pitt und wird aus einer Bar an der Ostküste entführt.

Allerdings ist das Vorgehen der Kidnapper zunehmend schlampiger geworden: Man hat sie erkannt, denn sie gaben sich keine Mühe, ihre Gesichter zu verbergen. Cross fragt sich nach dem Grund der Entführungen und kommt zum Schluss, dass sie keineswegs aus Leidenschaft erfolgten, sondern mit Geld zu tun hatten. Die Entführten waren bestellt worden, die Kidnapper lieferten sie: Manchmal sogar nach Saudi-Arabien oder Japan. Doch wer verdient an diesem modernen Menschenhandel, der schon seit Jahren zu laufen scheint? Wer ist der Kopf dahinter?

Mein Eindruck

Wieder einmal haben es die Schurken auf unschuldige Menschen abgesehen. Aber nicht etwa, um ihnen das Blut auszusaugen wie in „Violets are blue“ oder ihnen das Lebenslicht auszublasen wie in „Mauer des Schweigens“. Nein, sie werden schlicht und einfach bestellt, eingefangen und als Sklaven verkauft. Mit modernem Menschenhandel, so deutet der Autor an, haben besonders die Russen Erfahrung. Die Rote Mafiya hat ein weltumspannendes Verbrechensnetz aufgebaut, in dem Menschenhandel globalen Ausmaßes nur einen geringen Teil der lukrativen Geschäfte ausmacht.

Das Einschleusen von russischen, ukrainischen und weißrussischen Frauen nach Westeuropa ist uns in Deutschland vertraut, wenn man die nationalen Zeitungen liest – im Fernsehen tauchen diese beunruhigenden Nachrichten fast nie auf. Wenn man aber als Mann ins Innere Thailands reist, wird einem schon mal ganz nebenbei eine Tochter des Hauses angeboten – natürlich nur zum Heiraten (und wahrscheinlich auch in Pattaya und Phuket). Eine der Figuren in Pattersons Roman zitiert aber aus der Tageszeitung, dass selbst der thailändische Premierminister nichts dabei findet, wenn selbst Zehnjährige den Weg in die Prostitution finden.

Wie Elizabeth Connellys Sklavenschicksal aussieht, möchte ich mit Rücksicht auf jüngere Leser hier nicht beschreiben: Es ist einfach schrecklich und zwingt die gut aussehende junge Frau dazu, sich in eine Traumwelt der Erinnerungen zurückzuziehen, um nicht dem Wahnsinn zu verfallen. Weitere Details sind überflüssig.

Umso beunruhigender ist die Analogie, die sich in Alex Cross‘ privatem Leben zu diesem Menschenhandel ereignet. Natürlich wird dies nie ausdrücklich so gesagt, aber die Art und Weise, wie Christine Johnson Anspruch auf ihren seit zwei Jahren bei Cross lebenden Sohn Alex junior erhebt, grenzt an Erpressung und Handel. Christine zog sich nach den schrecklichen Ereignissen in „Wer hat Angst vor dem Schattenmann“, in denen sie selbst als Sklavin gehalten wurde, mehrere tausend Meilen weit von Alex zurück: nach Seattle.

Nun kehrt sie zurück, um ihm auch ihren Sohn wegzunehmen. Begründung: Er sei als Polizist und FBI-Agent eine ständige Gefahr für das Kind. Das ist schon verdammt ironisch, findet Cross: Er versucht die Menschen vor Verbrechern zu schützern und als Dank dafür wird er als „Blitzableiter für Gefahr“ bezeichnet, als Bedrohung für seinen Sohn. Am Ende der Verhandlungen wird ihm das Sorgerecht für Alex entzogen, was ihm schier das Herz bricht. Wir erhalten keine nähere Erklärung dafür: der unergründliche Lauf der Justiz. Cross hat den Eindruck, man könnte ihn fast für einen Kinderschänder halten, so besorgt sind Christines Anwälte und andere Behördenvertreter um den kleinen Alex.

Die Parallelen zum modernen Menschenhandel des „Wolfes“ sind unübersehbar, die Schlussfolgerungen daraus nicht gerade angenehm. Menschen als Objekte, die man hin und her schiebt, wie es einem gefällt. Ein weiteres Indiz in dieser Richtung: der Auftraggeber für Elizabeth Connellys „Verkauf“ lebt in ihrem engsten Umfeld.

Unterm Strich

Nachdem ich „Stunde der Rache“ und „Mauer des Schweigens“ nicht so begeisternd gefunden habe, hat mich „Vor aller Augen“ – so benannt nach dem Wolf im Märchen von den drei kleinen Schweinchen – wieder ausgezeichnet unterhalten. Die Story ist sehr detailreich und zudem sorgfältig konstruiert. Zunächst hat Patterson ein paar Startprobleme und verfällt wieder in zusammenfassendes, nachrichtliches Erzählen. Das dient dazu, den Leser möglichst schnell über die Hauptfiguren zu informieren, ist aber leider nicht spannend.

Erst als die Szenen beginnen, richtig ausgespielt zu werden, kommt die Geschichte in Fluss und Spannung baut sich auf. Praktisch jedes Kapitel hat eine Pointe, die zum Weiterlesen zwingt, und die Geschichte wird aus Cross‘ Blickwinkel so verdichtet vorgetragen, dass sich der Leser häufig seinen eigenen Reim darauf machen muss: Nichts mehr wird ihm auf dem Silbertablett serviert wie am Anfang.

Es ist, als würde sich Cross immer weiter auf vermintes Gelände vorwagen, auf dem er jederzeit in Lebensgefahr schwebt. Die Ebene, auf der er operiert, wird immer höher, bis in schwindelerregende Kreise auf politischer Ebene: Hier arbeitet er sogar mit dem Secret Service (stellt die Leibwächter der Präsidentenfamilien) zusammen, der ja dem Finanzministerium unterstellt war und nun der Heimatschutzbehörde untersteht. Prekär wird Cross‘ Lage dadurch, dass „der Wolf“ einen Informanten im FBI-Hauptquartier hat.

Bitte, bitte eine Fortsetzung!

Das Beste zum Schluss: Dieses Buch muss unbedingt eine Fortsetzung haben. Den Grund kann man sich an den zehn Fingern ausrechnen. Hiermit verfolgt Patterson die gleiche Taktik, die auch bei [„Rosenrot Mausetot“ 429 und „Stunde der Rache“ so erfolgreich war: Warum nur ein einziges Buch schreiben, wenn sich zwei auf der gleichen Grundlage verkaufen lassen? Mit dem „Wolf“ hat der Autor einen Schurken geschaffen, der gleichermaßen furchteinflößend und ungreifbar ist, um eine Fortsetzung zu gewährleisten, ja, notwendig zu machen. Wir können nur hoffen, dass die Fortsetzung einen ebenso starken Eindruck hinterlässt wie „Vor aller Augen“.

Originaltitel: The Big Bad Wolf
Originalverlag: Little, Brown & Co. 2003
Aus dem Amerikanischen von Edda Petri
ISBN-13: 9783442361670

https://www.penguinrandomhouse.de/

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

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[„Die Rache des Kreuzfahrers“ 1149
[„Vor aller Augen“ 1087
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