Perry, Anne – Verschwörung von Whitechapel, Die

Herbst 1888, London – Whitechapel. Eine Stadt hält den Atem an. In den dunklen Gassen des |East End| werden innerhalb weniger Wochen fünf Frauen ermordet – alle auf brutale Weise verstümmelt. Die Polizei tappt im Dunkeln und streitet sich um Zuständigkeiten. Der Täter bleibt bis heute ein Phantom: Jack the Ripper.

Anne Perrys Roman reiht sich nicht in die lange Riege der Romane ein, die den Fall Jack the Ripper neu aufrollen und eine neue Tätertheorie bereit halten. Die Handlung ihres Romans „Die Verschwörung von Whitechapel“ setzt erst vier Jahre nach den grauenvollen Ereignissen im East End ein – und hat dennoch im Kern sehr viel mit Jack the Ripper zu tun.

Oberinspektor Pitt steht im Frühjahr 1892 als Zeuge im Fall Adinett vor Gericht. Bei näherer Betrachtung ein etwas sonderbarer Fall – ein Indizienprozess. John Adinett ist angeklagt, den angesehenen Hobby-Historiker Martin Fetters ermordet zu haben. Handfeste Beweise und ein Motiv gibt es nicht, aber die sehr stichhaltige und lückenlose Indizienkette, die Pitt vor Gericht darlegt, lässt keinen Zweifeln daran aufkommen, dass der nicht minder angesehene Ehrenmann Adinett des Mordes schuldig ist. Adinett wird folglich verurteilt und, nachdem auch das Berufungsverfahren scheitert, hingerichtet.

Für Oberinspektor Pitt fängt die Geschichte damit aber erst an. Es gibt offenbar einflussreiche, im Verborgenen agierende Persönlichkeiten, die diesen Prozessausgang gar nicht schätzen und auf Rache sinnen. Keine blutige Rache wohlgemerkt, aber Pitt bekommt die Folgen dennoch schmerzlich zu spüren. Er wird strafversetzt – nach Whitechapel, mitten in den brodelnden Krisenherd Londons. Anarchisten scheinen dort finstere Umsturzpläne zu schmieden, Gewalt und Elend stehen auf der Tagesordnung. Pitt soll dort undercover ermitteln, ist aber letztendlich eigentlich überflüssig, ganz offensichtlich elegant beiseite geschafft, und fristet ein einsames trostloses Dasein fernab seiner geliebten Familie.

Charlotte, Pitts Frau, kann und will sich mit dieser Ungerechtigkeit nicht so leicht abfinden. Da der Schlüssel zu Pitts Strafversetzung im Fall Adinett zu liegen scheint, macht sie sich auf die Suche nach den Gründen. Zusammen mit Fetters Witwe Juno versucht sie, Adinetts Tatmotiv zu ergründen. Auch Gracie, das resolute Hausmädchen der Pitts, bleibt nicht untätig und schaltet den befreundeten Wachtmeister Tellman ein, der zusammen mit Gracie Adinetts Aktivitäten kurz vor der Tat rekonstruiert. Ihre Wege kreuzen sich schon bald mit dem des Journalisten Remus, der offenbar in gleicher Sache ermittelt. Die Spur führt nach Whitechapel und was als Suche nach einem Mordmotiv Adinetts anfängt, gipfelt schon bald im Entblättern einer groß angelegten Verschwörung, die offenbar mit Jack the Ripper zu tun hat – mit kaum abschätzbaren Folgen …

Es gibt unzählige Theorien zum Thema Jack the Ripper, von denen die einen mehr, die anderen weniger plausibel erscheinen. 1976 erregte die Ripper-Theorie von Stephen Knight in England einiges Aufsehen. Er stellte die Taten als eine groß angelegte Verschwörung dar, deren Spur bis ins britische Königshaus reicht. Was auf den ersten Blick geradezu fantastisch erscheint, hat Knight so plausibel dargelegt und begründet, dass seine gut recherchierte Theorie immer noch als eine der stichhaltigsten gelten kann.

Unseriös wurde sie erst, als im Nachhinein plötzlich eine Hauptquelle von Knight ihre Aussagen dementierte (das Dementi wurde später übrigens noch einmal dementiert) und der Autor des Vorwortes einen wundersamen Gesinnungswandel durchmachte. Seine Worte, mit denen er Knights Arbeit zunächst vollmundig lobte, will er im Nachhinein auf einmal gar nicht mehr so gemeint haben. Die Sache stinkt zum Himmel und man bekommt das Gefühl, dass auch über hundert Jahre nach der Tat gewisse Kreise nicht an einer Aufklärung interessiert sind – was letztendlich wieder als Indiz für eine Bestätigung von Knights „königlicher“ Ripper-Theorie angesehen werden kann.

Doch was hat Anne Perrys Roman „Die Verschwörung von Whitechapel“ mit all dem zu tun? Eine ganze Menge. Perry stützt sich nämlich auf die von Knight aufgestellte Theorie. Auch bei ihr gibt es rund um Jack the Ripper eine weitläufige Verschwörung, mit den gleichen Drahtziehern. Diese Verschwörung entblättert sie in ihrem Roman schon fast beiläufig und längst nicht so detailliert und stichhaltig wie Knight. Ihr Hauptaugenmerk liegt auf der rein hypothetischen Frage danach, was wohl hätte passieren können, wenn Knights Theorie (angenommen natürlich, dass sie stimmt) schon damals in den gesellschaftlich und politisch unsicheren Jahren nach den Rippermorden bekannt geworden wäre. Eine Frage, die der Theorie eine weitere interessante Komponente hinzufügt und aus der Anne Perry einen durchweg spannenden Roman geschustert hat.

Der Zusammenhang zu den Ripper-Morden erschließt sich dem Leser, der nicht mit Knights Theorie vertraut ist, erst im späteren Verlauf des Romans. Am Beginn steht einfach nur die Suche nach dem Motiv, das Adinett dazu gebracht hat, Martin Fetters zu töten. Dass dabei vier Frauen die treibende Kraft hinter den Ermittlungen sind, mag in Anbetracht des viktorianischen Zeitalters zunächst etwas unglaubwürdig erscheinen, wird von Perry aber überzeugend gelöst. Alle beteiligten Frauen sind zwar durchaus selbstbewusst, aber bewegen sich dennoch im Rahmen dessen, was für Frauen ihrer Zeit realistisch erscheint. Sie suchen sich Unterstützung, beispielsweise durch den Gracie treu ergebenen Wachtmeister Tellman, und jeder nutzt zur Aufdeckung der Wahrheit die Mittel, die ihm standesgemäß zur Verfügung stehen.

Die Figuren bleiben dabei durchaus realistisch und Perry schafft es, jede einzelne von ihnen nachvollziehbar und mit einer gewissen Tiefe zu beleuchten. Ihre Verhaltensweisen bleiben durchweg glaubwürdig. Sie tun sich nicht als übermäßige Helden hervor und schaffen es dennoch, eine große Verschwörung aufzudecken, die so komplex ist, dass selbst der Leser sich schon konzentrieren muss, um im komplizierten Verschwörungsgewirr, das sich zum Ende hin auftut, nicht verloren zu gehen.

Das komplexe Gebilde der Zusammenhänge stellt auch im Grunde die einzige wirkliche Schwäche dar. Der Aufbau des Romans gelingt Anne Perry durchweg gut. Die Geschichte ist solide konstruiert und steigert in ihrem Verlauf beständig die Spannung. Zum Ende hin allerdings erscheint es so, als hätte sich dieses Konstrukt als fast schon zu komplex für den Romanumfang entpuppt. Die Auflösung erfolgt sehr schnell, nicht alles wird dabei vernünftig erklärt und nicht alle offenen Fragen werden beantwortet. Der Leser bleibt etwas unzufrieden zurück. Wie ich erst nach Beendigung des Buches festgestellt habe, wird die Geschichte im Nachfolgeroman weiterverfolgt („Feinde der Krone“; |Heyne| 2004, Taschenbuchausgabe August 2005). Insofern verwundert es nicht, dass das Ende in der Schwebe bleibt, dennoch wäre ein etwas vollständigerer Abschluss wünschenswert gewesen.

Insgesamt gibt es aus der Feder von Anne Perry mittlerweile 23 Romane um die Figur des Thomas Pitt und seine oftmals mitermittelnde Frau Charlotte. „Die Verschwörung von Whitechapel“ ist der 21. in dieser Reihe. Da er bislang auch der einzige ist, den ich gelesen habe, kann ich das Werk leider nicht in den Gesamtzusammenhang einordnen und vergleichend kritisieren. Offenbar bauen sie aber auch inhaltlich zum Teil aufeinander auf.

Schon allein sprachlich macht „Die Verschwörung von Whitechapel“ einen durchweg soliden und routinierten Eindruck. Perry weiß zu fesseln – und das bei einem Handlungsbogen, der fast ohne Action auskommt. Die Beschattungen des Journalisten Remus werden ebenso packend geschildert wie Pitts Leben im East End oder die Suche von Juno und Charlotte nach Hinweisen in der Bibliothek von Martin Fetters. Auch gesellschaftlich deckt der Roman ein sehr weit gefasstes Spektrum ab, denn im Verlauf des Buches startet auch Pitts angeheiratete Tante Vespasia einige Ermittlungen in der feinen Gesellschaft Londons.

Als eine der großen Stärken des Romans kann man die Beschreibungen festhalten. Perry schafft es nicht nur, ihre Figuren sehr lebendig zu zeichnen, sie skizziert auch einen teils recht tief schürfenden Einblick in das Leben im viktorianischen London. Die gesellschaftlichen Gegensätze zwischen den Soireen der feinen Gesellschaft und der Schufterei der Arbeiterschicht in den Zuckersiedereien in Spitalfields, die aufkeimende Unruhe im East End, die ärmlichen, erniedrigenden Zustände, unter denen die Bevölkerung dort zu leiden hat, das beschauliche Leben der Pitts in Bloomsbury – all das schildert Perry sehr eindringlich. Das London der Zeit wird vor dem Auge des Leser wieder belebt.

Alles in allem ist „Die Verschwörung von Whitechapel“ ein durchaus gelungener historischer Krimi mit einer komplexen, aber gut konstruierten Story, einem spannenden Handlungsverlauf, lebhaften Schilderungen des viktorianischen London, mitsamt der politischen und gesellschaftlichen Unruhe, die in der Luft liegt und Figuren, die größtenteils glaubwürdig erscheinen. Nur schade, dass das Ende ein wenig plötzlich und etwas schwammig daherkommt. So kommt man wohl nicht umhin, auch den nachfolgenden Roman noch zu lesen.

p.s.: Da Anne Perry auf die Tätertheorie zu Jack the Ripper nicht ganz so ausführlich eingeht, bietet es sich für den interessierten Leser an, einmal die Theorie bei Knight selbst nachzulesen. Es lohnt sich wirklich, man sollte aber des Englischen mächtig sein, weil es keine deutsche Ausgabe gibt: Stephen Knight: [„Jack the Ripper – The Final Solution“,]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/0586046526/powermetalde-21 Harper Collins, ISBN 0586046526.

Wer aufgeschlossen für Comics ist, findet diese Theorie auch noch einmal auf Deutsch als hervorragende und absolut empfehlenswerte s/w-Comic-Adaption, mit sehr ausführlichen Anhängen aufbereitet: Alan Moore, Eddie Campbell: [„From Hell“,]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3936068291/powermetalde-21 Speed Comics, ISBN 3936068291. Nach diesem Werk entstand auch die Verfilmung von Albert & Allen Hughes mit Johnny Depp und Heather Graham.