Peter May – Die Katakomben von Paris [Enzo Mackay 1]

Der zufällige Fund des Schädels eines mysteriös verschollenen Genies führt einen schottischen Kriminalexperten, einen Journalisten und einige Familienmitglieder auf eine aufregende Schnitzeljagd durch Frankreich, bis endlich die Mörder aufhorchen … – Einer der zahllosen Dan-Brown-Klone, der nie vorgibt, mehr als unterhalten zu wollen; die Handlung ist spannend, die Figuren sind sympathisch: solides Mittelmaß.

Das geschieht:

Einst galt Lorenzo „Enzo“ Mackay als einer der bedeutendsten Forensiker Schottland. Doch aufgrund seines turbulenten Privatlebens hat er diesen Status sowie seinen Professorentitel längst eingebüßt. Aktuell schlägt sich Mackay als Sprachlehrer in Paris durch. Sein Einkommen ist gering, sein Privatleben chaotisch; die ältere Tochter hasst ihn, weil er die Mutter verlassen hatte, ihre jüngere Schwester kennt sie nicht einmal.

Ein seltsamer Zufall führt Mackay zu seinen Forensiker-Wurzeln zurück. In den Katakomben – dem unterirdischen Beinhaus von Paris – hat die Polizei einen Koffer geborgen, der einen menschlichen Schädel sowie diverse historische Artefakte enthält. Der Totenkopf gehörte einst Jacques Gaillard, einem prominenten Berater des französischen Premierministers, der im Jahre 1996 unter nie geklärten Umständen verschwand.

Der Journalist Roger Raffin wittert eine Sensation. Gaillard war eine schillernde Persönlichkeit, die ihr Genie nie unter den Scheffel stellte und sich deshalb oft verhasst gemacht hatte. Wer sein offensichtlich grausiges Ende aufdecken kann, darf mit medialer Aufmerksamkeit und viel Geld rechnen. Also heuert Raffin Mackay an, der den Kofferinhalt als Wegweiser zu einem weiteren Grab entschlüsselt: Ein zweiter Koffer enthält weitere Gaillard-Knochen sowie Hinweise: Die morbide Schnitzeljagd kann weitergehen. Zum Team stößt noch Raffins Ex, die Profilerin Charlotte.

Allerdings will die Justiz der Leichensuche einen Riegel vorschieben. Man scheut den Skandal in jenen politischen Kreisen, denen der Verschollene einst angehörte. Doch Mackay, Raffin & Co. sind längst im Entdeckerfieber. Zu spät finden sie heraus, dass die Sterberate unter denen, die Gaillard kannten, erstaunlich hoch ist. Als ein erster Mordanschlag auf Mackay verübt wird, begreift dieser, dass aus dem Rätselspiel bitterer Ernst geworden ist: Man ist einem Verbrechen auf die Spur geraten, dessen Verantwortliche inzwischen in höchste Staatsämter aufgestiegen sind und nun mit Gewalt dafür sorgen wollen, dass die Wahrheit mit Gaillard begraben bleibt …

Historie als Selbstbedienungsladen

Wir machen gern Dan Brown verantwortlich, aber eigentlich ist Umberto Eco der ‚Schuldige‘ und Brown nur sein geschäftstüchtiger Epigone: 1980 veröffentlichte Eco mit „Der Name der Rose“ einen Thriller, der die Gelehrsamkeit des Fachgelehrten mit dem Talent des Entertainers verband. Was vorgeblich ein (sehr unterhaltsamer) Kriminalroman klassischen Zuschnitts war, ließ die historische Realität der Handlungszeit nicht nur als Alibi einfließen. Eco ließ die Welt des Mittelalters wiedererstehen – so schien es jedenfalls dem historischen Laien, der ob seiner Unkenntnis aber nicht ausgeschlossen, sondern ausdrücklich angesprochen wurde.

Ecos Rose sorgte für reiche Saat. Unzählige Autoren haben seither sein Erfolgsrezept aufgegriffen. Da sie in der Regel nicht über Ecos Doppeltalent als Schriftsteller und Historiker verfügen, brachen sie das Konzept auf die simple Formel der Schnitzeljagd durch die Geschichte herunter: Uralte Mysterien und/oder Geheimgesellschaften der Vergangenheit machen sich in der Gegenwart bemerkbar. Meist werden ‚Fachleute‘ mit einschlägigen Kenntnissen aufmerksam und – gern in Serie – im Rahmen ihrer Nachforschungen in aufregende und lebensgefährliche Abenteuer verwickelt. Da es sich um ohnehin etwas weltfremde Spezialisten handelt, wirken die dabei geschilderten Abenteuer umso spannender.

Ist der Protagonist männlich, gesellt sich garantiert irgendwann eine ebenso kluge wie hübsche Frau zu ihm, die im Finale gerettet werden muss, während Munkelmänner und Gauner sowie allerlei Artefakte für Schüsse, Einstürze oder Explosionen sorgen. Die Welt von gestern und heute wird zum Spielfeld, wobei Reales und Fiktives geschickt oder wenigstens unterhaltsam plausibel vermischt wird.

Vertrautes mit einem Schuss Exotik

Peter May gehört zu jenen, die auf Nummer Sicher gehen. Mit Dan Brown will er vielleicht konkurrieren, kann es aber nicht, obwohl man ihm nicht vorwerfen darf, weniger planvoll zu Werke zu gehen. Brown genießt den Vorteil dessen, der zuerst vor Ort seinen Claim abstecken konnte, weshalb es zumindest den Verkaufserfolg nicht schmälert, dass die Abenteuer des Robert Langdon von Band zu Band verwässerter wirken.

Zudem steht May nicht unter dem Druck, sich ständig neu übertreffen zu müssen. Seine Enzo-Mackay-Serie ist reine Unterhaltung, die auch formal nur die Vorgaben simpler Spannungsliteratur erfüllen muss. Als solche hat sie der Verfasser konzipiert: Mackay ist einerseits schottischer Herkunft und deshalb ein Kind der angelsächsischen Krimi-Welt, die bekanntlich noch heute große Detektive hervorbringt. Die andere Mackay-Hälfte ist europäisch, was das potenzielle Aktionsfeld vergrößert. In diesem ersten Band der Mackay-Serie ist unser Held in Paris tätig und so harmonisch im französischen Umfeld verwurzelt, dass es nicht irritiert, wie trittfest Mackay bleibt, während er der Spur von Gaillards Knochen über, in und durch pittoreske und angenehm unheimliche Schauplätze hinterherjagt.

Selbstverständlich bleiben Topografie und Wissenschaft stets auf Hollywood-Niveau. Nur auf diese Weise ist es möglich, dass ein liebenswerter Chaot wie Mackay und seine primär ulkige Truppe binnen kurzer Zeit Rätsel für Rätsel lösen. Faktisch funktioniert ‚richtige‘ Wissenschaft deutlich langsamer, weshalb sie für Geschichten dieser Art nicht taugt bzw. zurechtgebogen werden muss.

Von A nach B nach C etc.

Für den Verfasser bietet das Prinzip der Schnitzeljagd eine gewisse Arbeitserleichterung. Der rote Handlungsfaden muss nur vorgeblich das Gesamtgeschehen zusammenhalten. Tatsächlich folgt das Geschehen Zyklen, die hier durch das jeweilig zu lösende Rätsel vorgegeben werden. Problemlos lassen sich Attacken durch mordlüsterne Verschwörer, korrupte Staatsbeamte oder schlicht gedungene Killer andocken. Ebenso einfach können private Problemchen eingeflochten werden, die den Figuren Tiefe verleihen sollen.

In diesem Punkt tritt May definitiv zu fest aufs Gaspedal. Seine Dozentenstuhl wackelt, Geld hat er nicht, eine Frau auch nicht, die ältere Tochter kann ihn nicht leiden, der Freund der jüngeren ist ein Bodybuilder … Dies sind nur die anfänglichen Tücken, die den armen Mackay beuteln. Als die Geschichte Fahrt aufnimmt, taucht u. a. die oben erwähnte schöne aber verdächtige Frau auf, die nicht nur für einige peinlich (und für den sich fremdschämenden Leser peinvoll) missratene Beischlaf-Szenen, sondern auch für Liebesverdruss und enttäuschte Gefühle sorgt.

Die Figurenzeichnung kann ohnehin nie mit der angenehm lockeren und trotz ihres Rätsel-Prinzips nicht wirklich komplizierten Story mithalten. Das ist auch nicht unbedingt notwendig, wenn man sich darauf einlassen kann, zum Zeitvertreib an der Nase herumgeführt zu werden, ohne dabei für wirklich dumm verkauft zu werden.

Überaus klug aber allzu schlau

Wenn das gelingt, stört auch nicht die wenig spektakuläre Auflösung. Selten steht das Rätsel im Verhältnis zu dem Aufwand, der zu seiner Lüftung betrieben wird. Einmal mehr wundert sich der Leser über die Beweggründe der Mörder, die das intellektuelle Spiel mit Leichenresten sinnvoller finden als deren spurlose Beseitigung. (Hier gelingt May ein guter Gag: Die Mordbande hat nicht mit der Erfindung des Internets als Fundgrube für Recherchen aller Art gerechnet …)

Die losen Fäden sträuben sich deutlich gegen die Schürzung zum finalen Knoten, den May etwas locker lässt. Stattdessen setzt er auf Bewährtes – hier den Wettlauf mit der Zeit durch das unterirdische Paris, während Mackays Töchterlein angekettet in einer sich füllenden Wassergrube schluchzt. Der kämpferisch bisher angemessen unbedarfte Vater wächst in dieser Krise selbstverständlich über sich hinaus und stürzt sich allein in den Untergrund, wo sich nach einer Kette eher unwahrscheinlicher Zufälle alles zum Guten wendet.

Der Fall ist gelöst, die Schurken landen im Kittchen, die Rumpffamilie Mackay findet wieder zueinander; siehe, sogar der strenge Fachleiter freut sich über die positive Publicity, die ihm Mackay ins gelehrte Haus trägt! So viel Harmonie stimmt misstrauisch, und in der Tat wartet schon das nächste Rätsel, um formal und inhaltlich leicht variiert gelöst zu werden!

Autor

Peter May wurde am 20. Dezember 1951 geboren. Einer kurzen Karriere als Angestellter und Ausbilder für Automobilverkäufer folgte in den 1970er Jahren eine Ausbildung zum Journalisten. Bis zum Ende des Jahrzehnts arbeitete May für diverse schottische Zeitungen, wobei er sich auf politische Themen und Alltagsgeschichten spezialisierte.

1979 wurde May hauptberuflicher Schriftsteller. Zwischen 1992 und 1996 wirkte er außerdem für die erfolgreichen TV-Serien „Machair“, „The Standard“ und „Squadron“. Nach deren Auslaufen entdeckte er das zuvor bereits bereiste China als Schauplatz für einen schnell und strikt publikumsorientiert arbeitenden Schriftsteller. Zwischen 1999 und 2004 schuf May sechs Thriller um den Ermittler Li Yan. 2006 setzte er auf ein neues Pferd, den Forensiker Enzo Mackay, eine Kombination aus Indiana Jones und Temperance „Bones“ Brennan.

Website des Verfassers

Taschenbuch: 444 Seiten
Originaltitel: Extraordinary People (Scottsdale/Arizona : Poisoned Pen Press 2006)
Übersetzung: Anke u. Eberhard Kreutzer
http://www.rowohlt.de

eBook: 854 KB
ISBN-13: 978-3-644-45701-0
http://www.rowohlt.de

Der Autor vergibt: (3.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)