Ellis Peters – Falsche Propheten

Das geschieht:

Das kleine Dorf Comerford in der englischen Grafschaft Shropshire gehörte nie zu den Orten, die man als ländlich-beschaulich bezeichnen würde. Hier wird seit Jahrhunderten Kohle gefördert; eine harte, gefährliche Arbeit, die im Tagebau betrieben wird, was ausgedehnte Flächen der Landschaft in Wüsteneien verwandelt hat, die an die Oberfläche des Mondes erinnern. Die Plackerei in den Kohlengruben hat einen harten, schweigsamen Menschenschlag hervorgebracht. Konflikte sind häufig und werden mit den Fäusten oder dem Messer ausgetragen. Im Jahre 1950 ist die Situation explosiver denn je. Ein halbes Jahrzehnt nach dem Ende des II. Weltkriegs sind dessen Folgen auch im siegreichen England keineswegs überwunden. Viele der jungen Männer Comerfords sind gefallen. Wer überlebte, kehrte verletzt und mit bedrückenden Erinnerungen an die Front, womöglich mit Orden geschmückt und als Held heim, um sich plötzlich wieder als gemeiner Grubenarbeiter oder Schafhirte wiederzufinden.

In Comerford gab es ein Lager für deutsche Kriegsgefangene und später für „Displaced Persons“, Vertriebene aus allen kriegsverheerten Ländern des Kontinents. Inzwischen wurde es aufgelöst, doch viele Insassen blieben in England: frei aber fremd und misstrauisch gemieden von den Einheimischen. Sergeant George Felse hat ständig im ehemaligen Lager zu tun, denn dort gibt es täglich Auseinandersetzungen. Bei einem seiner zahlreichen Besuche lernt er den Deutschen Helmut Schauffler kennen, der einen Mitbewohner attackiert hat. Der junge Mann weiß beredt die Schuld von sich zu weisen, doch Felse argwöhnt, dass zutreffen könnte, was Zeugen ihm zutragen: Schauffler war und ist noch überzeugter Nazi, der seinen Privatkrieg mit dem britischen ‚Feind‘ austrägt.

Derselben Meinung ist Chad Wedderburn, der im Krieg Entsetzliches durchleiden musste. Nun arbeitet er als Lehrer am örtlichen Gymnasium. Nebenher betreut er im Wohnheim einige der jüngeren Bewohner. Dabei ist er mit Helmut Schauffler aneinander geraten, der exakt verkörpert, was er im Krieg zu hassen gelernt hat. Als Schauffler mit eingeschlagenem Schädel in einer Kohlengrube gefunden wird, richtet sich der Verdacht deshalb sofort auf Wedderburn, der für die Tatzeit kein Alibi vorweisen kann …

Krimi als zeithistorisches Panorama

Sergeant George Felse (der später bis zum Detective Chief Inspector aufsteigen sollte) ist die zentrale Figur in 13 Romanen, die Ellis Peters zwischen 1951 und 1978 verfasste. Auffällig ist dabei die mehr als zehnjährige Pause zwischen Felses erstem und zweiten Auftritt. Tatsächlich unterscheidet sich der George Felse von 1951 deutlich von seiner jüngeren Inkarnation. Während man die Romane ab 1962 als typische „Whodunit“-Krimis bezeichnen kann, ist „Falsche Propheten“ ein deutlich ambitionierteres Projekt.

Schon der Umfang von mehr als 350 eng bedruckten Seiten weist darauf hin, dass der Autorin auch eine Momentaufnahme der britischen Gesellschaft nach 1945 im Sinn hatte. Sie bedient sich der im Kriminalroman gern gewählten Kulisse der von der Zeit vergessenen und von einfachen, aber herzensguten Menschen schlichten Gemütes bewohnten ländlichen Idylle fern der hektischen Großstadt.

Mit einer Konsequenz, die der Autorin in späteren Jahren abging, entkleidet Peters ihre literarische Ameisenfarm Comford aller entsprechenden Klischees und zeichnet ein düsteres, realistisches Bild. Folgerichtig setzt der Mord anders als im ‚normalen‘ Krimi die Ereignisse nicht in Gang, sondern ist nur Auswuchs einer Entwicklung, die lange zuvor ihren Anfang genommen hat.

Zuviel Ambition, zu wenig Spannung

Wenn „Falsche Propheten“ als Roman nicht über die gesamte Distanz überzeugen kann, liegt dies paradoxerweise hauptsächlich daran, dass Ellis Peters sich mehr vorgenommen hat, als sie letztlich zu leisten vermag. Zu gestelzt, zu didaktisch kommt die Geschichte daher, wird immer wieder unterbrochen von atmosphärisch dichten, aber weitschweifigen Landschaftsbeschreibungen und Stimmungsbildern. Als „Falsche Propheten“ 1951 niedergeschrieben wurde, waren die realen Wunden des Krieges wohl noch zu frisch, um anders als betont ernsthaft an das Thema heranzugehen.

Als unkluge Entscheidung erweist es sich darüber hinaus, große Teile der Handlung aus der Sicht des Sergeanten-Sohnes Dominic zu schildern. Dieser verkörpert exakt jenen Typ des übereifrigen, vorwitzigen, neugierigen oder kurz gesagt absolut lästigen Kindes, das sich weniger durch Ungehorsam oder Unerfahrenheit als durch akute Dämlichkeit aber dann mit traumwandlerischer Sicherheit in eine gefährliche Situation manövriert und erst in letzter Sekunde gerettet werden kann – eine bewährte Methode der Spannungserzeugung bzw. -erzwingung, die hier allzu offensichtlich praktiziert wird.

Falsche ‚Rücksicht‘ auf deutsche Leser

In Deutschland erschienen die Felse-Romane seit jeher in der Krimi-Reihe des Goldmann-Verlages, wo sie immer wieder aufgelegt wurden – mit einer Ausnahme: Ausgerechnet der erste Band wurde stets übersprungen. Nach der Lektüre von „Falsche Propheten“ ist des Rätsels Lösung rasch gefunden: Im Deutschland der Wirtschaftswunderjahre dürfte ein Roman, der überzeugend daran erinnert, dass der Nationalsozialismus und seine Anhänger kein Spuk waren, der sich 1945 spurlos auflöste, kaum die Begeisterung eines Publikums gefunden haben, das im Krimi vor allem die harmlos-belanglose Entspannung à la Edgar Wallace oder das kindliche Miträtseln in Begleitung von Miss Marple oder Hercule Poirot suchte. Diese Erwartung durch einen Roman zu ‚enttäuschen‘, den der Verfasser – ausgerechnet eine Frau! – deutlich vielschichtiger angelegt hatte, war ein brisantes Experiment, das kein Verlag hierzulande seinen Lesern zumuten mochte.

Erst ein halbes Jahrhundert später war der deutsche Leser offenbar reif genug zu verkraften, dass sich im Mutterland des literarischen Verbrechens neben kauzigen Adligen, trinkfreudigem Landvolk oder beschränkten Dorfpolizisten auch neurotische Kriegsheimkehrer, unverbesserliche Nazis und an Leib und Seele geschädigte Juden tummeln können.

Ellis Peters beendete die Felse-Serie 1978. Im Vorjahr war sie mit einer neuen Figur auf Bestseller-Gold gestoßen. „Bruder Cadfael“ ist zwar nur ein weiterer jener schlauen Mönche, die vor allem in der Folge von Umberto Ecos „Der Name der Rose“ heuschreckenartig über ein europäisches Märchenbuch-Mittelalter herfallen, aber er war unter den Ersten seiner lästigen Art und von seiner geistigen Mutter so geschickt (dies wohl unfreiwillig) trivialisiert worden, dass er in einer schier endlosen, immens erfolgreichen Kette ‚historischer‘ Schablonen-Krimis aufzutreten konnte, der nur Ellis Peters‘ Tod 1995 ein Ende bereiten konnte.

Taschenbuch: 379 Seiten
Originaltitel: Fallen into the Pit (London : Wilhelm Heineman 1951)
Übersetzung: Jutta-Marie Piechulek
http://www.randomhouse.de/goldmann

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