Pierre Boileau/Thomas Narcejac – Mord bei 45 Touren

Boilieau Narcejac Mord 45 Touren Cover kleinEin ehebrecherisches Paar tötet den eifersüchtigen Gatten, der allerdings per Schallplatten-Stimme aus dem Jenseits Rache ankündigt; zwischen seinen Mördern keimt Misstrauen auf, das die Beziehung in einer privaten Hölle enden lässt … – Eine kurze, aber drastische Lektion in Sachen Liebe (oder was dafür gehalten wird), die in Mord & Totschlag umschlägt. Obwohl sichtlich angejahrt bzw. gealtert, kann der Roman aufgrund des raffiniert geschürzten und unerwartet aufgelösten Plots weiterhin fesseln.

Das geschieht:

Ein Widerling und Ehebrecher ist er und sieht aus wie Quasimodos älterer Bruder: Maurice Faugères, dem unergründliche Götter das Talent verliehen, die Liebe, die er im Alltag verspottet, in Lieder zu gießen, denen die ganze Welt mit Tränen in den Augen lauscht. Steinreich ist Faugères darüber geworden, prominent sowieso, und er hat natürlich eine Königin als Gattin heimgeführt: Eve ist eine der berühmtesten Sängerinnen Frankreichs.

Sie hasst ihren Ehemann und hat längst Trost beim deutlich jüngeren Pianisten Jean Leprat gefunden. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen hat das Paar Faugères unterschätzt. Der spürt die Hörner auf seinem Kopf und gedenkt nicht, Eve zuzugestehen, was er selbst oft und gern praktiziert. Das sagt er den Liebenden auf den Kopf zu, als er sie in flagranti erwischt. Weil er sich dabei gar zu höhnisch gibt, schlägt der gedemütigte Leprat ihm den Schädel mit einem Kerzenleuchter ein. Niemand hat Faugères kommen sehen. Sein Mörder nutzt dies, um einen scheinbar tödlichen Verkehrsunfall zu inszenieren; Eve deckt das Verbrechen.

Endlich scheint der Weg frei zu sein für die bisher im Verborgenen blühende Liebe, zumal die Polizei keinen Verdacht schöpft. Aber der Schrecken des mörderischen Paars ist groß, als die Post ihm eine Schallplatte ins Haus bringt. Bei einer Umdrehungszahl von 45 Touren ertönt die Stimme des verhassten Faugères, der offenbar aus dem Grab ankündigt, sich für sein abruptes Ende grausam rächen zu wollen. Da weder Eve noch Jean an Gespenster glauben, liegt der Verdacht nahe, dass jemand ein grausames Spiel mit ihnen treibt. Aber wer könnte ihr Feind sein, wo doch der einzige Mensch tot ist, der von ihrem Verhältnis wusste? Als weitere und immer bedrohlichere Schallplatten-Nachrichten eintreffen, beginnen die Liebenden einander zu misstrauen. Die Tat hat sie auf Gedeih und Verderb aneinander gefesselt. Das Verhängnis nimmt indes einen unerwarteten Verlauf …

Liebe als zerstörerische Kraft

„Mord bei 45 Touren“ ist ein Krimi-Klassiker des französischen Schriftsteller-Duos Pierre Boileau (1906-1989) und Thomas Narcejac (1908-1998). Sie verdanken ihren Ruhm u. a. dem Roman „D’entre les morts“, den Alfred Hitchcock 1957 kongenial in den Kinofilm „Vertigo“ (dt. „Vertigo – Aus dem Reich der Toten“, mit James Stewart und Kim Novak) verwandelte. Schon diese Geschichte trug jenes Markenzeichen, das Boileau-Narcejac noch oft in Anspruch nehmen sollten: amour-fou, die tolle i. S. von verrückte Liebe, die alle Regeln bricht, kurz triumphiert oder aufflammt aber vom profanen aber unerbittlichen Alltag überrollt wird bzw. sich vorher bereits selbst zerstört hat.

Eve und Jean spielen dieses Muster beispielhaft durch. Ihre Liebe ist von der ersten Sekunde zum Untergang verdammt. Nicht das Establishment trägt die Alleinschuld, auch nicht der fiese Gatte, der selbst nur das Opfer von Leidenschaften wird, die zu kontrollieren er außerstande ist. Die Liebenden tragen den Keim ihres Verderbens in sich; erst wissen sie es nicht, dann wollen sie es nicht wahrhaben, und zuletzt ergeben sie sich ihm. Wer meint, zumindest Jean käme mit heiler Haut aus dem Drama heraus, hat wahrlich flüchtig gelesen.

Die Liebe kann gefährlich sein. Wieso dies so ist, spielen Boileau-Narcejac auf 150 ebenso kurzen wie auf das Wesentliche konzentrierten Seiten konsequent und erbarmungslos durch. Die Chronik dieser mörderischen, sich selbst zerfleischenden Liebe übt auch heute noch eine verstörende Wirkung aus, obwohl die Story Staub angesetzt hat – oder sollte man besser von Patina sprechen? Botschaften aus dem Totenreich werden längst nicht mehr per Schallplatte übermittelt, aber die Liebschaft zwischen einem recht jungen und einer deutlich älteren Frau findet weiterhin das Interesse der Öffentlichkeit.

Krimi wird zur Nebensache

Überhaupt überrascht „Mord bei 45 Touren“ mit einer vergleichsweise unverkrampften Haltung bezüglich der Alltäglichkeiten des Lebens. Während Anno 1961 „Krimi“ für den deutschen Leser primär Edgar „No Balls, please!“ Wallace, Pfäfflein Brown oder Grandmutter Christie bedeutete, riskierten Boileau-Narcejac den Untergang des Abendlandes mit einer durchaus realistischen Dreiecks-Geschichte. Noch siegt die Moral – dies aber nicht, weil sie halt immer siegt (oder siegen muss, solange es politisch opportun ist), sondern weil Eve das Spiel freiwillig aufgibt; mit ein bisschen Nervenstärke hätte Kommissar Borel weiterhin in die Röhre geschaut.

Deshalb sei noch einmal ‚warnend‘ hervorgehoben, dass „Mord bei 45 Touren“ seine eigentliche Spannung aus dem Untergang von Eve und Jean zieht. Kriminalistische Rätsel kommen zwar vor – wer begeht den zweiten Mord? -, aber sie sind nicht wirklich wichtig. Auch sonst geschieht nur wenig, das Drama ist ein psychologisches.

Krimiuntypisch geht gar der wahre Mörder frei aus – vordergründig. Seine Strafe besteht darin, in dem Wissen weiterleben zu müssen, dass die Geliebte sich nicht nur für ihn geopfert, sondern auch in seiner Erbärmlichkeit durchschaut hat. Das ist wahrlich perfide und wirkt als Finale weitaus stärker als der kindliche Triumph des Gendarmen Greif oder des Detektivs Schlau, deren ‚Ermittlungen‘ der brave Bürger so liebt, weil sie ihm die beruhigende Illusion erhalten, in einer geordneten Welt zu leben.

„Mord bei 45 Touren“ in Kino und Fernsehen

Bereits 1959 wurde der Roman unter dem Titel „Meutre en 45 Tours“ von Etienne Périer mit Danielle Darrieux, Michel Auclair und Jean Servais verfilmt. Für das tschechoslowakische Fernsehen wurde 1978 „Ztrácím te, lásko“ gedreht. Als „45 kaiten no satsujin“ entstand 1982 ein weiteres Remake für das japanische Fernsehen. Nach Frankreich kehrte der Stoff 1994 für den Film „Meurtre en musique“ zurück.

Autoren

Pierre Boileau wurde am 28. April 1906 in Paris geboren. Er studierte an der Handelshochschule und arbeitete anschließend als Sozialarbeiter. Dies sicherte seinen Lebensunterhalt und gab Boileau die Sicherheit, sich als Schriftsteller zu etablieren. Im Krimi-Genre debütierte er 1932 mit einer Kurzgeschichte. Hauptfigur war bereits jener Detektiv André Brunel, den Boileau bis 1956 in elf weiteren Storys sowie sieben Romanen auftreten ließ. Dies waren elegante aber klassische Krimis mit komplexen Plots, die oft nur eine übernatürliche Auflösung offenzulassen schienen, bevor im Finale die rationale Logik triumphierte. Unterbrochen wurde diese Karriere durch den Zweiten Weltkrieg, den Boileau als Soldat und deutscher Gefangener erlebte; wegen Krankheit wurde er entlassen und kehrte 1942 nach Paris zurück.

Thomas Narcejac kam als Pierre Robert Ayraud am 3. Juli 1908 in Rochefort-sur-Mer zur Welt. Er war Professor für Literatur und Philosophie, als er nach dem Krieg Pierre Boileau kennenlernte und beschloss, mit diesem gemeinsam einen Kriminalroman zu schreiben. Als Dozent bediente sich Ayraud vorsichtshalber eines Pseudonyms. So veröffentlichten Boileau-Narcejac 1952 den Thriller „Les diaboliques“ (dt. „Die Teuflischen“). Er wurde ein Bestseller und drei Jahre später verfilmt. Unter der Regie von Henri-Georges Clouzot entstand mit Simone Signoret, Véra Clouzot, Paul Meurisse und Charles Vanel nicht nur ein überaus erfolgreicher Film, sondern auch ein Klassiker des französischen Kinos.

Boileau-Narcejac wurde zu einem Markenzeichen für psychologisch ausgefeilte Kriminalromane. Alfred Hitchcock verfilmte 1958 „D’entre les morts“ als „Vertigo – Aus dem Reich der Toten“. In folgenden Jahrzehnten legte das Duo regelmäßig neue Romane vor, von denen zahlreiche die Vorlagen für Kino- und TV-Filme wurden. Als Pierre Boileau am 16. Januar 1989 in Beaulieu-sur-Mer starb, schrieb Thomas Narcejac solo weiter. Kurz vor seinem 90. Geburtstag starb er am 7. Juni 1998 in Nizza.

Taschenbuch: 152 Seiten
Originaltitel: A cœur perdu (Paris : Editions Denoël 1959)
Übersetzung: Joachim Nehring
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Neuausgabe (Dreifachband, zus. mit: Mario Lacruz, Steckbrief für einen Unschuldigen/Chester Himes, Schwarzes Geld für weiße Gauner)ISBN-13: 978-3-499-42624-7
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