Albert Sánchez Piñol – Pandora im Kongo

Ein naiver Schriftsteller zeichnet die unglaublichen Erlebnisse eines Afrika-Reisenden auf, der im Dschungel des Kongo auf feindselige Invasoren aus dem Inneren der Erde stößt … – Der ausführlich zitierte ‚Bericht‘ dieser Heimsuchung bildet nur einen Handlungsstrang dieses vielschichtig angelegten, oft allegorischen Romans, der die (Ohn-) Macht der Illusion einer unerbittlichen Realwelt gegenüberstellt. Die geschickt in ihr historisches Umfeld integrierte Geschichte wird ebenso drastisch wie humorvoll erzählt.

Das geschieht:

Thomas Thomson ist ein junger Schriftsteller, der sich im London des Jahres 1914 als Ghostwriter für Groschenromane mehr schlecht als recht durchbringt. Zufällig trifft er auf den Anwalt Edward Norton, der jemanden sucht, der die unglaubliche Geschichte seines aktuellen Klienten aufschreibt: Marcus Garvey, ein ehemaliger Stallknecht, der sich auf eine Afrika-Expedition begeben hat, wird beschuldigt, William und Richard, die Söhne des Herzogs von Carver, im Kongo beraubt und ermordet zu haben. Thomson nimmt Nortons Auftrag an. In den nächsten Wochen und Monaten lauscht er im Gefängnis, wo Garvey auf seinen Prozess wartet, dessen Bericht.

Zusammen mit 100 schwarzen Trägern waren die Carver-Brüder mit Garvey, der sie als Koch begleitete, tief in den Dschungel des Kongo eingedrungen. Auf einer Lichtung stießen sie auf Gold, das William und Richard von ihren Trägern aus dem Boden schürfen ließen. Dabei geschah das Unglaubliche: Aus der Tiefe der Erde stiegen menschenähnliche aber albinoweiße Wesen an die Oberfläche. Die „Tektoner“ waren zunächst friedlich, doch dank der Herrenmenschen-Attitüden der Carvers kam es wenig später zu offenen Feindseligkeiten. Für William und Richard waren die Tektoner nur „weiße Nigger“, die aus ihrer Goldmine verschwinden sollten. Als allerdings Amgam, ein weibliches Mitglied der seltsamen Eindringlinge, auf der Bildfläche erschien, wurde sie zum Objekt eines erbitterten Streites zwischen Richard und Marcus; der eine begehrte Amgam, der andere verliebte sich in sie.

Die Lage wurde kritisch, als die Träger flüchteten. Von Goldgier geblendet, weigerten sich die Brüder, ihre Mine im Stich zu lassen. Das rächte sich, denn nun schlugen die Tektoner zurück. Ein blutiger Kampf begann, der im Inneren der Erde seinen Höhepunkt fand …

In Afrika ist alles möglich

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es nur noch wenige weiße Flecken auf der Weltkarte. Nach Jahrtausenden schien das Ende der großen Entdeckungen nahe. Nur die unwirtlichsten Regionen (sowie die Tiefen der Meere) sträubten sich noch gegen neugierige Forschungsreisende und Waghälse. So waren die gewaltigen Dschungel Zentralafrikas noch weitgehend unerschlossen.

Afrika, der „dunkle Kontinent“, beflügelte ohnehin die Fantasie von Glücksrittern und Träumern. Hier konnten unternehmungslustige Männer ohne Geld und Skrupel aber mit Mumm in den Knochen ihr Glück und ein Vermögen machen, denn Schätze warteten förmlich darauf, aufgelesen zu werden. Man musste nicht einmal fremden Boden betreten, denn die europäischen Großmächte hatten Afrika unter sich aufgeteilt. Aus den Kolonien wälzte sich ein breiter Strom kostbarer Bodenschätze und Waren in die Mutterländer. Dem Selbstverständnis der Zeit entsprechend, galt dies als Privileg der Zivilisation, der sich die einheimischen „Wilden“ nicht nur zu beugen hatten: Sie mussten die Ausbeutung ihrer Heimatländer als bessere Sklaven selbst vornehmen.

Der Kongo bildete in doppelter Hinsicht ein Mysterium. Große Teile des Landes waren von dichtem Dschungel bewachsen, dessen potenzielle Gefahren beträchtlich und zudem unbekannt blieben. Von 1885 bis 1908 war die Kolonie Privatbesitz eines einzigen Mannes gewesen: König Leopold II. von Belgien (1835-1909) hatte ‚seinen‘ Kongo wirtschaftlich ausgepresst und unglaubliche Gräuel gegen die Bevölkerung ausdrücklich gebilligt, bis es sogar dem in der Kolonialfrage nicht zimperlichen Rest der Welt zu viel und Leopold enteignet wurde.

Ein Ort als Katalysator für das Böse

1899 versuchte der Schriftsteller Joseph Conrad (1857-1924) eine literarische Interpretation der Ereignisse im Kongo. Mit „Heart of Darkness“ (dt. „Herz der Finsternis“) wollte er ergründen, wieso und wie der Mensch zum Moloch mutieren kann, wenn ihm keine Grenzen gesetzt werden. Conrads Novelle ist neben der historischen Realität eine der Hauptquellen, aus denen Albert Sánchez Piñol schöpft. Wie bei Conrad der Handelsagent Kurtz streifen die Brüder Richard und William Carver ihre ‚zivilisierte‘ Zurückhaltung ab, als sie Afrika erreichen.

Eine Gesetzgebung, die ihnen, den „weißen Herren“, alle Rechte zuspricht, und die Isolation des Urwalds lassen Züge, die sie bisher unterdrücken mussten, die Oberhand gewinnen. Die Carvers werden zu Unmenschen. Aufgrund ihres gesellschaftlichen Standes und ihrer Erziehung, die sie in der Überzeugung, wahre „Herrenmenschen“ zu sein, sogar noch bestärkt, geben sie jeder Laune ohne Gewissensbisse nach. Mit einer Bestrafung müssen sie nicht rechnen, und bald ist ihnen dies ohnehin gleichgültig, da sie nicht vorhaben, Zeugen überleben zu lassen.

Zum Ausbruch solcher Grausamkeit trägt die Umgebung nachhaltig bei. „Der Kongo. Ein grüner Ozean. Und unter den Bäumen – nichts“, lesen wir mehrfach. In dieser uralten, seltsamen Welt verändern sich die Menschen. Während die Carvers moralisch degenerieren, emanzipiert sich Marcus Garvey. Aus einem Untertanen und Diener wird ein freier Mann, der seine anerzogenen und aufgezwungenen Fesseln abstreift.

Schwarze und weiße Neger

Dem schließt sich in einem parallelen „Coming-of-Age“-Erzählstrang der junge Thomas Thomson. Er ist der klassische „reine Tor“, der idealistisch seinen Lebensweg beginnt, um auf den Klippen der Realität immer wieder Schiffbruch zu erleiden. Der naive Jüngling ist ein ideales Opfer, was für das Gesamtgeschehen unbedingt erforderlich ist. Das zu erkennen (und sich damit der finalen Überraschung dieser gewandt präsentierten Schauermär zu berauben), fällt dem Leser freilich schwer, denn er wird von Piñol geschickt abgelenkt. „Pandora im Kongo“ ist ein Roman der Allegorien, die erfreulich unaufdringlich bleiben, d. h. nicht Literatur um der Literatur willen sein möchten, sondern im Dienst der Handlung stehen.

Deshalb lasse man sich nicht aufs Glatteis führen: „Pandora im Kongo“ ist kein modernisierter „Herz-der-Finsternis“-Aufguss, der noch einmal und unter Berücksichtigung moderner Gutmenschen-Manier vergangene Schrecken aufleben lassen soll. Piñol unterstreicht stattdessen unangenehme Wahrheiten: Das Verhalten der kolonialen Herren entsprach rechtlich und moralisch zeitgenössischen Standards, und in den profitierenden Mutterländern interessierte man sich herzlich wenig für die Verletzung von Menschenrechten, solange dies nicht übertrieben wurde, wobei die Erkenntnisschwelle aus heutiger Sicht erschreckend hoch lag.

Gleichzeitig zieht der Verfasser eine kühne Verbindungslinie zwischen dem Kongo und England. Auch Thomas Thomson ist ein „Neger“ und wird so behandelt, nämlich betrogen, ausgebeutet und nicht für voll genommen. „Neger“ ist eine im Schriftstellergewerbe fixierte Bezeichnung. Sie beschreibt einen Autor, der für seinen zahlenden Kunden die eigentliche Arbeit – Recherche, Schreiben, Korrektur – übernimmt, diesem den Verfassernamen und damit die (potenzielle) Anerkennung als kreativer Künstler überlässt.

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die Begegnung mit den Tektonern und die Irrfahrt zu ihrer Höhlenstadt ist vordergründig eine „lost-race“-Fantasy, wie sie um 1900 verbreitet und erfolgreich war. Verfasser wie Jules Verne, Edgar Rice Burroughs oder Henry Rider Haggard beschrieben abgelegene Erdwinkeln, welche die Zeit vergessen hatte, und ihren exotischen Bewohnern, die von mutigen (europäischen oder US-amerikanischen) Reisenden aufgesucht/zivilisiert/bekämpft wurden. (Aus heutiger Sicht bietet sich zusätzlich die Deutung der Tektoner als Außerirdische an, die sich im Inneren der Erde angesiedelt und ausgebreitet haben. Eine dritte Interpretation kommt dem Leser dank der Erzählkunst des listigen Verfassers lange nicht in den Sinn.)

Gleichwohl ist Piñols Sicht auf diese Ereignisse aktuell. Vorbei sind die Zeiten, als mutige Eroberer heulende Wilde zu Hunderten und als Methode der Spannungsförderung abknallen durften. Zwar geschieht dies auch in „Pandora im Kongo“, doch hier steigert es Schrecken und Abscheu vor einer verdammungswürdigen Praxis. Die offenkundige Sachkenntnis des Autors, der als Anthropologe den (realen) Kongo bereist hat, fließt einmal mehr überzeugend in die Handlung ein. (Selbstverständlich wäre auch eine Liebesgeschichte wie die zwischen Marcus und Amgam in einer ‚klassischen‘ Fantasy undenkbar gewesen.)

So zieht die ebenso grausame wie faszinierende Kongo-Mär ihre fiktiven ebenso wie die realen Leser in den Bann. Die Auflösung mag subjektiv manchen Kritiker unzufrieden zurücklassen, doch sie ist dort konsequent, wo man mit einer ‚logischen‘ Erklärung nicht mehr gerechnet hat. Beeindruckt ist man darüber hinaus durch die Eleganz der Erzählsprache; ein Lob, das hierzulande die Übersetzerin ausdrücklich einschließt.

Autor

Geboren am 11. Juli 1965 in Barcelona (Spanien), arbeitet Albert Sánchez Piñol als Anthropologe – er ist Mitglied des Zentrums für afrikanische Studien und dort Spezialist für den östlichen Kongo – und Schriftsteller. Sein Durchbruch gelang ihm 2002 mit dem Roman „La pell freda“ (dt. „Im Rausch der Stille“), der in 28 Sprachen übersetzt und mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet wurde. Piñols „Victus. Barcelona 1714“ (2012; dt. „Der Untergang Barcelonas“) über den Spanischen Erbfolgekrieg war 2013 das in Spanien meistverkaufte Buch.

Taschenbuch: 478 Seiten
Originaltitel: Pandora al Congo (Barcelona : Edicions La Campana 2005)
Übersetzung: Charlotte Frei
http://www.fischerverlage.de

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