Edgar Allan Poe – Der Bericht des Arthur Gordon Pym (Lesung)

Der Traum von einem Abenteuer zur See kann ganz schnell in einen Albtraum umschlagen, aus dem es offenbar kein Erwachen gibt. So ergeht es dem 16-jährigen blinden Passagier des Titels, der in die Antarktis und darüber hinaus in eine weiße Region vordringt, die noch kein Mensch zuvor gesehen hat.

Der Autor

Edgar Allan Poe, 1809 in Boston geboren und 1849 im Alkoholdelirium gestorben, begann bereits mit 16 Jahren, Gedichte zu schreiben und als literarischer Journalist für verschiedene Zeitungen und Magazine tätig zu werden. In seiner Prosa zeichnete er sich als Meister der Shortstory aus, in der sich meist düstere Begebenheiten nach und nach zu unheilvollem Schrecken verdichten – so auch in diesem Romanfragment, dem „Arthur Gordon Pym„. Jules Verne schrieb die Fortsetzung „Die Eissphinx“ (1897) und Lovecraft mit „Berge des Wahnsinns“ (1936) eine eindrucksvolle Variation des Stoffes, neben anderen.

Die Sprecher

In der „inszenierten Lesung“ wird mit vielen verteilten Rollen gesprochen, fast wie in einem Hörspiel des Rundfunks. Beteiligte Sprecher sind u. a. Heiner Heusinger und Roland Renner – allesamt Profis mit Schauspielausbildung.

Regie und Produktion erfolgten durch die Gruppe „Serotonin“ (welches eigentlich einen positiven Botenstoff des Gehirns bezeichnet). Der Lieferant der Musik, Jens-Uwe Bartholomäus, bildet ein Drittel der Gruppe.

Handlung

Sein Freund Augustus stiftet Arthur Gordon Pym immer wieder zu Abenteuern an, so auch in der Episode, als sie 14-jährig aufs offene Meer hinaustreiben. Zwei Jahre nach ihrer Rettung ergibt sich wieder ein Abenteuer: Augustus geht mit seinem Vater, dem Kapitän, an Bord eines Walfängers von Nantucket aus auf große Fahrt, und Arthur Gordon Pym wird als blinder Passagier irgendwo im Frachtraum in einer großen Kiste versteckt.

Nach einem ungewöhnlich tiefen Schlaf wacht Gordon allerdings neben einem leeren Wasserkrug und vergammeltem Braten auf, die Ratten piepsen und die Frachtraumluke ist blockiert. Gordon dreht schier durch, doch die Gefangenschaft erweist sich als lebensrettend, denn oben an Deck findet gerade eine Meuterei statt, der der Kapitän und 22 Matrosen zum Opfer fallen.

Als Augustus endlich Zeit findet, Gordon zu befreien, wird er sogleich für eine List eingespannt: Gordon tritt als der Zombie des ermordeten Kapitäns auf! Die Wirkung ist durchschlagend, und es gelingt, die Meuterer zu überwältigen. Leider steht der Frachtraum nach einem Sturm unter Wasser und ist unzugänglich: Hungersnot bricht aus. Und zwar so lange, bis es zu einem Fall von Kannibalismus kommt. (Dies ist kein Märchen, sondern fand an Bord eines echten Schiffes wirklich statt.)

Statt der ersehnten Rettung segelt lediglich ein Geisterschiff ähnlich der historischen „Mary Celeste“ vorbei. Doch auch dem Engländer „Jane Guy“, der die Überlebenden endlich aufnimmt, ist kein gutes Los beschieden. Auf dem Weg in unerforschte Gewässer segelt er durchs antarktische Packeis in eine warme Zone, wo man auf eine Insel seltsamer Wilder stößt: Zahlan. Diese Begegnung trägt eindeutig Merkmale des Eintreffens von Kapitän James Cook auf Tahiti in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts, sodass sich eine Beschreibung erübrigt.

Leider überlebt die Erkundungspatrouille den Marsch durch einen Canyon nicht. Auch die zwei Überlebenden, nämlich Gordon und Dirk Peters, kommen nicht mehr aufs Schiff, denn dieses wird gestürmt und fliegt in die Luft! Per Kanu fahren Gordon und Peters weiter gen Süden, wo nach zwei Wochen Weiß die bestimmende Farbe wird: die des Wassers, des Dunstes voraus, der gigantischen Vögel am Himmel. Hatten die Zahlianer deswegen einen abergläubischen Respekt vor der Farbe Weiß? Was erwartet die kühnen Seefahrer am Südpol?

Mein Eindruck

„Arthur Gordon Pym“ ist eine Kombination aus Abenteuerbericht, Horrorstory und psychologischer Reise. Es gibt sogar eine Episode, in der detektivischer Scharfsinn gefragt ist: Auf Zahlan findet sich eine geheimnisvolle Schlucht, deren Felsen mit Zeichen versehen sind, die selbst aber auch ein Zeichen darstellt. (Dies wird im Epilog näher erklärt.)

Horrortrip

Im Mittelpunkt unseres Interesses steht aber die Entwicklung des Ich-Erzählers Arthur Gordon Pym: Seine Reise beginnt mit einem Horrorerlebnis des Eingesperrtseins, finsterer Träume und nach dem „Erwachen“ dem Gefühl, lebendig begraben worden zu sein. Das Schiff als Sarg: ein starkes Symbol.

Die Schiffsreise entwickelt sich denn auch zu einem wahren Albtraum, dessen Episoden nicht nur etliche Horrorstorys des Seemannsgarns wiedergeben, sondern etwas mehr sind: Sie symbolisieren Pyms Abrutschen in den Wahnsinn. Je mehr Pym erkennt, welche Abgründe in seiner Seele gähnen – Kannibalismus etwa -, desto schneller geht es mit seiner geistigen Gesundheit abwärts. Am Schluss ist keineswegs sicher, ob am Südpol ein Abgrund gähnt oder die totale Selbstauflösung des Geistes.

Tabubrüche

Man kann die Geschichte als eine Serie von Tabubrüchen lesen: Zuerst illegales Anbordgehen, dann Meuterei, schließlich Mord und Kannibalismus, was in der Erscheinung eines Zombieschiffes gipfelt. Nimmt man diese Ereignisse nicht wörtlich, sondern symbolisch, so verweisen sie auf eine moralische Zerrüttung, die mit einem Verfall körperlicher und schließlich geistiger Art einhergeht. Die Unsicherheit gipfelt zunächst in dem künstlich erzeugten Erdbeben, das Zahlan erschüttert und die Besatzung der „Jane Guy“ fast vollständig vernichtet. Die Welt ist offensichtlich kein geeigneter Ort, wo Menschen leben können.

Aus dieser Einsicht des Unbehaustseins ergibt sich die hoffnungs- und horizontlose Flucht in ein nebulöses Nichts: den Abgrund des Südpols. Hier lösen sich alle menschlichen Dimensionen in einer Art Übersteigerung (Transzendenz) auf, nicht zuletzt die der menschlichen Identität. Auf seine Weise hat Pym endlich Eingang in das Unendliche und Unnennbare gefunden. Wie auch Stephen King (in „Stark“) erkannt hat, handelt es sich bei den Vögeln, die Pym sieht, um Seelengeleiter. Wohin diese Reise geht, muss sich der Leser selbst ausmalen.

Gruselspannung

Diese Geschichte ist also nicht nur enorm spannend, sondern auch – wie bereits die Fingerübung „MS Found in a Bottle“ von 1831 – eine schauerliche Allegorie der Entwicklung eines Wahnsinnigen. In E. A. Poes Prosa hat dies zahlreiche Parallelen, so etwa [„Der Fall des Hauses Usher“ 761 (1845), in dem der Reisende in den Stammsitz einer alten neuenglischen Familie eintritt, nur um von einem latenten Wahnsinn umgeben zu sein. Eine von Poes besten und wirkungsvollsten Storys.

Die Sprecher und die Inszenierung

Während Musik und Geräusche dem Zuhörer suggerieren, sich an Bord eines Schiffes von Meuterern, Mördern und Kannibalen zu befinden, so klingen die Stimmen der Akteure doch recht „normal“. Sie argumentieren anscheinend rational, selbst wenn es um um Mord und die Opferung zwecks Verspeisen geht. Dennoch kommt recht gute Gruselstimmung auf, wenn Gordon, die meiste Zeit der Ich-Erzähler, von seiner Erfahrung des Lebendigbegrabenseins erzählt.

Die Musik ist durchaus passend und stammt zumeist von natürlichen Instrumenten. Die Geräusche hingegen werden von allem Möglichen erzeugt. Ab und zu wird ein wenig zu viel wiederholt. Als das Schiff „Jane Guy“ in die Luft fliegt, hätte ich eine entsprechende Umsetzung in Sound erwartet. Fehlanzeige.

Unterm Strich

Ob nun „Arthur Gordon Pym“ noch eine „inszenierte Lesung“ oder bereits ein Hörspiel alten Musters ist, darüber lässt sich trefflich streiten. Überlassen wir das den Gelehrten. Ich fand die Inszenierung sehr gelungen, denn sie führt dem Leser in ein „Kino des Kopfes“: Die Szenen sind filmreif aufgebaut, mit jeweils einem Höhepunkt und einer Überleitung zur nächsten, und alle Schauplätze sind ziemlich genau beschrieben.

Die Sprache

Vielleicht ein wenig zu genau. Denn mit nautischen Ausdrücken wie „Gillung“, „Ankerspill“ (mit dieser eisernen Winde wird die Ankerkette hochgezogen oder hinabgelassen) oder „Klüver“ (Vorsegel über dem Bugspriet) dürften sich Landratten recht schwer tun. Wenigstens „Kajüte“ und „Kombüse“ dürften geläufig sein.

Für ein Hörbuch von 2 CDs knapp 20 Euro ausgeben zu sollen, mag als Zumutung aufgefasst werden. Doch andererseits handelt es sich hierbei um eine recht aufwendige Produktion, die eben ihren Preis hat: Eine „normale“ Lesung wäre bei weitem nicht so unterhaltsam, wie abschreckende Beispiele belegen.

CD: 2 CDs
Umfang: 112 Minuten auf 2 CDs
Originaltitel: The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket, 1838
ISBN-13: 9783899400588

https://www.penguinrandomhouse.de/Verlag/der-Hoerverlag/70000.rhd

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