Poe, Edgar Allan / Hala, Melchior / Sieper, Marc / Hank, Dickky / Weigelt, Thomas – Untergang des Hauses Usher, Der (POE #3)

_Von Wahnsinn und Inzest_

Diese CD ist Teil 3 der Lübbe-Hörspielserie mit Geschichten von Edgar Allan Poe. Obwohl es kaum Action gibt, ist der Gruseleffekt dennoch recht groß.

|Der Autor|

Edgar Allan Poe (gestorben 1849) gilt als der Erfinder verschiedener literarischer Genres und Formen: Detektivgeschichte, Horrorstory, Science-Fiction, Shortstory. Er gab verschiedene Zeitschriften heraus, veröffentlichte aber nur wenige eigene Werke in Buchform, sondern sah seine Geschichten und Gedichte lieber in Zeitschriften gedruckt. Er starb im Alkoholdelirium. Neben H. P. Lovecraft gilt er als der wichtigste Autor der Gruselliteratur Nordamerikas.

Mehr Informationen bei [wikipedia]http://de.wikipedia.org/wiki/Edgar__Allan__Poe.

|Die Sprecher|

Ulrich Pleitgen spricht die Figur des „Fremden“, der den Namen E.A. Poe annimmt.
Dr. Templeton: Till Hagen
Roderick Usher: Klaus Jepsen
Lady Madeline Usher: Viola Morlinghaus
Diener Brandan: Thomas B. Hoffmann
Gedicht am Anfang/Lied am Schluss: Heinz Rudolf Kunze

_Handlung_

Vorgeschichte: Ein Mensch ohne Namen. Und ohne jeden Hinweis auf seine Identität. Das ist der Fremde, der bewusstlos in die Nervenheilanstalt des Dr. Templeton eingeliefert wurde und nach zehn Wochen kürzlich entlassen wurde. Diagnose: unheilbarer Gedächtnisverlust. Er begibt sich auf eine Reise zu sich selbst. Es wird eine Reise in sein Unterbewusstsein, aus dem schaurige Dinge aufsteigen. Woher kommen sie? Was ist passiert? Was hat er getan?

Mittlerweile befindet sich E. A. Poe auf dem Weg zur Westküste, wo er ein Schiff in den Fernen Osten zu besteigen gedenkt. Bevor es abfährt, steigt er in einem Hotel am Hafen ab, wo er wie schon in Teil zwei Briefe seines Psychiaters Dr. Templeton erhält. Dieser berichtet von einem Zeitungsartikel über eine getötete Sheila Coyle. So hieß die junge Frau in „Die schwarze Katze“.

Der Wirt warnt „Allan“ vor einem Ritt zu jenem „See der Träume“, der in der Nähe liegt und der angeblich schon so manches ahnungslose Opfer in seine dunklen Tiefen gelockt habe. Darunter sei auch eine junge Frau gewesen. „Allan“ reitet dennoch unerschrocken auf die Heide und passiert prompt den See, der ihn in seinen Bann zieht …

In der dritten Folge kehrt der Erzähler aufgrund eines Briefes zurück zu einem Jugendfreund Roderick Usher, der einsam mit seiner Schwester Lady Madeline auf seinem Landsitz lebt. Aber in dem herrschaftlichen Haus, das verwahrlost mitten in einem ausgedehnten Moorgebiet liegt, geschehen seltsame Dinge. Roderick kann sich an den Brief nicht erinnern. Hat ihn wirklich sein Jugendfreund eingeladen oder war es vielmehr Lady Madeline, Rodericks Schwester? Warum ist außer dem Butler Brendan kein Personal im weitläufigen Haus?

Eines Abends, als Gäste zum Dinner erwartet werden, ruft man ihn in das nächste Dorf. Angeblich ist der Hufschmied vom Pferd gefallen und benötige einen Arzt. Roderick bittet „Allan“, sich seiner medizinischen Vergangenheit zu erinnern und einzuspringen. Doch auf halbem Wege kehrt er, nachdem der Sohn des Schmieds die Nachricht als Unwahrheit entlarvt hat, um … und erlebt den Untergang des Hauses Usher.

Denn Roderick ist vor Trauer um bestimmte verstorbene Frauen offensichtlich dem Wahnsinn verfallen. Sein Geigenspiel ist amelodisch und zeugt von tiefer Schwermut, sein Orgelspiel erinnert an „Dies irae, dies ille“. Und doch redet er völlig klar und verständlich, als er „Allan“ mitteilt, Lady Madeline sei gestorben. Allan, der total verwirrt und geschockt ist, und Roderick tragen sie in die Gruft der Ahnen. Merkwürdig: Dort liegt noch eine andere Frauenleiche, mumifiziert und noch im Tode schön … Was und wer ist Roderick Usher wirklich?

_Mein Eindruck_

Ohne die Musik würde diese Episode kaum funktionieren. Deshalb müssen Musik und Soundeffekte enorm suggestiv wirken, um die Geschichte halbwegs plausibel werden zu lassen. Denn der Horror, den sie entfaltet, ist vollständig innerlich.

Ushers wahnwitziges Geigenspiel, das sich zu unglaublichen Höhen aufschwingt, ist ebenso ein Hinweis auf sein verwirrtes Gemüt wie sein bombastisches Orgelspiel, das vom „Tag des Zorns“ kündet, sprich: vom Tag des Untergangs des Hauses Usher. Wobei „Haus“ sowohl das Gebäude als auch die Familie meint. Hinzu kommen wieder einmal effektvolle Bässe, die von einem Tieftöner (Subwoofer) adäquat umgesetzt werden sollten.

|Die Bedeutung|

Das Haus Usher ist ein Geisterhaus (so sehe ich das). Das Problem, das Allan zunehmend erkennt, besteht darin herauszufinden, wer die Lebenden sind und wer die Toten. Das Haus steht für das Grenzreich zwischen Leben und Tod, eine Zone, in der die Einbildungskraft eine entscheidende Große spielt. Roderick stellt sich beispielsweise jenes Dinner vor, von dem Madeline spricht, und ebenso die Gäste beim Dinner. Die Frage ist berechtigt, was sich Madeline vorstellt – und was Allan?

Möglicherweise ist die Geschichte, in der das dekadente Haus (Familie) der Ushers (der Willkommenheißenden) erst dem Wahnsinn und dann buchstäblich (= Gebäude) den Flammen zum Opfer fällt, ein Symbol für das europäische Erbe, das die Vereinigten Staaten mit sich herumschleppten, als Poe die Story schrieb. Vielleicht will er sagen: Verbrennt die Brücken, wenn ihr kraftvoll und ungehindert leben und die Neue Welt erobern wollt. (Warum „dekadent“?, könnte man fragen. Nun, schon Poe deutet an, dass die Beziehung zwischen Roderick und Madeline ein wenig intimer ist als platonische Liebe. Sie begehen die Ursünde des Inzests.)

Das Gleiche tut die Gestalt des E. A. Poe in dieser Hörspielserie: Er löst sich von seiner Vergangenheit, nachdem er einen „schweren Unfall“ erlitten und zweieinhalb Monate in der Irrenanstalt verbracht hat. Im vierten Teil vollzieht er die Trennung, besteigt ein Schiff und segelt noch weiter westwärts, in den Fernen Osten.

|Die Sprecher|

Da diese Episode sehr wenig Action aufweist, kommt es darauf, die wichtigen Informationen über das gesprochene Wort und die Musik zu transportieren. Die Musik wurde bereits vorgestellt. Der Text wird von kompetenten Sprechern umgesetzt: Pleitgen spricht Poe bzw. „Allan“, wie Usher ihn nennt. Viola Morlinghaus, die fabelhafte Berenike in „Grube und Pendel“, haucht Lady Madeline (buchstäblich) Leben ein.

Der beste Sprecher ist diesmal jedoch Klaus Jepsen, die deutsche Stimme von Bilbo Beutlin. Er spielt den wahnsinnigen Usher nicht übertrieben, so dass die Ver-rücktheit anfangs nicht zum Ausdruck kommt (das besorgt sein Geigenspiel). Der Wahnsinn wird erst gegen Schluss offenbar, nach Lady Madelines „Tod“.)

Alle Dialoge wurden im Dolby-Digital-Verfahren aufgenommen. Wer also über eine entsprechende Anlage verfügt, etwa einen DVD-Player mit DD5.1-Wiedergabe, der hört die Dialoge genau so, als würden sie in einem dreidimensionalen Raum gesprochen werden. (Meine Heimkinoanlage steuerte dabei die 2 hinteren Lautsprecher nicht an.)

|Die szenische Musik|

Die Musik ist diesmal, wie gesagt, von höchster Bedeutung, um das innere Grauen, das sich aufbaut und steigert, hervorzurufen. Ein Filmorchester, eine Kantorei, ein Streichquartett, die Solovioline und Singende Säge (Chr. Zimbel), Orgel und Klavier (Peter Jackson – der ist wirklich überall) sowie Vocalisen (Gaby Bultmann) liefern alle einen Beitrag, um die Stimmung zu erzeugen, die für die Wirkung der Geschichte entscheidend ist. Die Aufnahmequalität ist ausgezeichnet und könnte kaum besser sein.

|Der Song|

Das Stück klingt wieder mit H. R. Kunzes Lied über E. A. Poe, „Der weiße Rabe“, aus. Es ist quasi eine Moritat, die versucht, diesen Dichter als Warner seiner Zeitgenossen in einen soziokulturellen Kontext zu stellen. Der Fünf-Minuten-Song ist zwar textlastig wie jede Moritat, aber stimmungsvoll instrumentiert und vorgetragen: schön schräg intoniert, mit „singender Säge“ unterlegt und wohligen Schauder erzeugend.

_Unterm Strich_

Anders als in „Grube und Pendel“ oder „Schwarze Katze“ passiert in „Usher“ relativ wenig, das dazu beitragen könnte, dem Zuhörer eine rationale Erklärung für die Vorgänge zu liefern. Im Gegenteil: Da sich die Geschichte der rationalen Erklärung verweigert, wirkt sie für den Unvorbereiteten ganz einfach langweilig. Es ist von äußerster Wichtigkeit, genau zuzuhören, weil viele Indizien aus der Vergangenheit herangezogen werden. Und erst, wenn man das Hörspiel mindestens zwei- oder dreimal gehört hat, erschließt sich einem die Bedeutung der letzten Szenen im Usher-Stammsitz.

Ein gute Soundanlage ist wichtig, um den optimalen Eindruck dieses Hörspiels zu erhalten, mehr noch als bei den anderen Episoden. Wer einmal das Geigensolo und die Orgelpassage ordentlich laut gehört hat, weiß, wie es um Roderick Ushers Gemüt bestellt ist: gar nicht gut.

|Umfang: 61 Minuten auf 1 CD|