_Bewegtes Seestück mit Leiche_
„Die längliche Kiste“ ist der vierzehnte Teil der Edgar-Allan-Poe-Reihe von |LübbeAudio|, die unter Mitwirkung von Ulrich Pleitgen und Rolf Hoppe, eingebettet in eine Rahmenhandlung, Erzählungen des amerikanischen Gruselspezialisten zu Gehör bringt.
Poe freundet sich mit dem Maler Wyatt an, den er am Hafen von New Orleans trifft. Sie buchen eine gemeinsame Schiffspassage nach New York. Doch kurz bevor die Passage beginnt, wird Wyatts Frau schwer krank und Wyatt selbst benimmt sich äußerst merkwürdig. Was verbirgt sich in der länglichen Kiste in seiner Kabine? Und wer treibt nachts sein Unwesen im Speisesaal des Schiffs?
Ulrich Pleitgen hat auch an den anderen Hörbüchern der Serie mitgewirkt:
#1: Die Grube und das Pendel
#2: Die schwarze Katze
#3: Der Untergang des Hauses Usher
#4: Die Maske des roten Todes
#5: Sturz in den Mahlstrom
#6: Der Goldkäfer
#7: Die Morde in der Rue Morgue
#8: Lebendig begraben
#9: Hopp-Frosch
#10: Das ovale Portrait
#11: Der entwendete Brief
#12: Eleonora
Die vier neuen Folgen der POE-Reihe sind:
(Nr. 13 wird ausgelassen.)
#14: Die längliche Kiste
#15: Du hast’s getan
#16: Das Fass Amontillado
#17: Das verräterische Herz
_Der Autor_
Edgar Allan Poe (1809-49) wurde mit zwei Jahren zur Vollwaise und wuchs bei einem reichen Kaufmann namens John Allan aus Richmond, der Hauptstadt von Virginia, auf. Von 1815 bis 1820 erhielt Edgar eine Schulausbildung in England. Er trennte sich von seinem Ziehvater, um Dichter zu werden, veröffentlichte von 1827 bis 1831 insgesamt drei Gedichtbände, die finanzielle Misserfolge waren. Von der Offiziersakademie in West Point wurde er ca. 1828 verwiesen. Danach konnte er sich als Herausgeber mehrerer Herren- und Gesellschaftsmagazine, in denen er eine Plattform für seine Erzählungen und Essays fand, seinen Lebensunterhalt sichern.
1845/46 war das Doppeljahr seines größten literarischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolgs, dem leider bald ein ungewöhnlich starker Absturz folgte, nachdem seine Frau Virginia (1822-1847) an der Schwindsucht gestorben war. Er verfiel dem Alkohol, eventuell sogar Drogen, und wurde – nach einem allzu kurzen Liebeszwischenspiel – am 2. Oktober 1849 bewusstlos in Baltimore aufgefunden und starb am 7. Oktober im Washington College Hospital.
Poe gilt als der Erfinder verschiedener literarischer Genres und Formen: Detektivgeschichte, psychologische Horrorstory, Science-Fiction, Shortstory. Neben H. P. Lovecraft gilt er als der wichtigste Autor der Gruselliteratur Nordamerikas. Er beeinflusste zahlreiche Autoren, mit seinen Gedichten und seiner Literaturtheorie insbesondere die französischen Symbolisten. Seine Literaturtheorie nahm den New Criticism vorweg.
Er stellt meines Erachtens eine Brücke zwischen dem 18. Jahrhundert und den englischen Romantikern (sowie E.T.A. Hoffmann) und einer neuen Rolle von Prosa und Lyrik dar, wobei besonders seine Theorie der Shortstory („unity of effect“) immensen Einfluss auf Autoren in Amerika, Großbritannien und Frankreich hatte. Ohne Poe sind Autoren wie Hawthorne, Twain, H.P. Lovecraft, H.G. Wells und Jules Verne, ja sogar Stephen King und Co. schwer vorstellbar. Insofern hat er den Kurs der Literaturentwicklung des Abendlands maßgeblich verändert.
_Die Sprecher_
Ulrich Pleitgen, geboren 1946 in Hannover, erhielt seine Schauspielerausbildung an der Staatlichen Hochschule für Musik und Theater in seiner Heimatstadt. Pleitgen wurde nach seinen Bühnenjahren auch mit Film- und Fernsehrollen bekannt. Er hat schon mehrere Hörbücher vorgelesen und versteht es, mit seinem Sprechstil Hochspannung zu erzeugen und wichtige Informationen genau herauszuarbeiten, ohne jedoch übertrieben zu wirken. In der POE-Reihe interpretiert er den Edgar Allan Poe und andere Figuren
Außerdem wirken Rolf Hoppe als Cornelius Wyatt, Cathlen Gawlich als Mrs. Wyatt, Jürgen Wolters als Kapitän Hardy, Gerald Schaale als George Appo, Mathis Schrader als Lowden und Michael Pan als Clerk mit. Der deutsche Prolog wird von Heinz Rudolf Kunze vorgetragen, der englische von Penny Shepherd, die Ansage erledigt André Sander.
_Das Titelbild_
Das monochrome Titelbild, das Simon Marsden (www.simonmarsden.co.uk) geschossen und mit einer speziellen Technik entwickelt hat, zeigt bei „Die längliche Kiste“ ein riesiges Portal, in dem man noch die Türhälften erkennen kann. Es ist völlig überwuchert. Der Blick dringt in einen hellen Wald, der wie ein Dschungel anmutet. Alles in allem wieder ein meisterliche Arbeit des Fotografen.
Das Motiv der Rückseite ist immer noch das gleiche wie in der ersten Staffel: das von leuchtendem Nebel umwaberte ausgebrannte Gemäuer einer alten Abtei, deren leere Fenster den Betrachter ominös anstarren. Die Innenseite der CD-Box zeigt einen spitzbogigen Mauerdurchgang in einem wilden, überwucherten Garten. Der Durchgang könnte die Passage zu neuen, gruseligen Erfahrungen symbolisieren, im Sinne von Huxleys „doors of perception“.
_Das Booklet_
Jede CD enthält ein achtseitiges, schwarz gehaltenes Booklet. Neben dem Eingangszitat auf Deutsch und Englisch werden hier auch der gesamte Stab und die Sprecherbesetzung der Rollen aufgeführt. Ulrich Pleitgen wird näher vorgestellt.
Eingangs gibt es einen kleinen Abriss der Vorgeschichte. Die Rückseite der CD fasst die Handlung zusammen und listet die wichtigsten Mitwirkenden auf. Die mittlere Doppelseite zeigt alle bislang veröffentlichten CDs und die DVD von „Die Grube und das Pendel“. Die vorletzte Seite weist auf die Band „We Smugglers“ hin, die den Titelsong „On the verge to go – Edgar Allan Poe Edit“ beigesteuert hat.
_Vorgeschichte_
Ein Mensch ohne Namen. Und ohne jeden Hinweis auf seine Identität. Das ist der Fremde, der nach einem schweren Unfall bewusstlos in die Nervenheilanstalt des Dr. Templeton eingeliefert und mittlerweile entlassen wurde. Diagnose: unheilbarer Gedächtnisverlust. Er begibt sich auf eine Reise zu sich selbst. Es wird eine Reise in sein Unterbewusstsein, aus dem schaurige Dinge aus der Vergangenheit aufsteigen. Woher kommen sie? Was ist passiert? Was hat er getan?
Schon zwölf Stationen hat der Fremde durchwandert, stets begleitet von Alpträumen. Nach einem Aufenthalt in einem Gasthaus begibt sich der Fremde ohne Gedächtnis auf eine Seereise, die ihn zunächst nach New Orleans führt. Aus einem Schiffswrack rettet er eine schöne Landsmännin, Leonie Goron. Sie weist ihn darauf hin, dass man ihm möglicherweise nach dem Leben trachtet. Nur zu wahr, denn auf der letzten Station vor dem Ziel New Orleans muss sie ihm das Leben retten. Selbst in der großen Stadt bleibt Poe nicht von Alpträumen nicht verschont. Doch er findet etwas über seine und Leonies Vergangenheit heraus und welche finstere Rolle Dr. Templeton darin spielt.
Der Vorspann rekapituliert sehr knapp die ganze Vorgeschichte bis hin zum Inhalt von „Eleonora“, der zwölften Folge der Serie. Das erleichtert den Einstieg in die Serie ein wenig, aber nur minimal.
_Handlung_
Poe hat in der Episode „Das ovale Porträt“ herausgefunden, dass ein New Yorker Maler namens Jimmy Farrell ihn ebenso wie eine junge Frau namens Lucy porträtiert hat. Um herauszufinden, was Farrell über Poes wahre Identität weiß, muss Poe nach New York. Er hat schon einen Fahrschein für die Postkutsche bezahlt, als er im Hafen von Mobile, Alabama, den freundlichen Maler Cornelius Wyatt kennen lernt, der ihn überredet, mit ihm und seiner Frau per Schiff nach New York City zu segeln. Poe ist von dem Künstler sehr angetan und lässt sich überreden. Zugleich gibt er ihm Geld, um ein paar Muscheln für seine Frau zu kaufen. Wyatt scheint ihn zu kennen, kann sich aber nicht erinnern, woher.
Am nächsten Tag ist Wyatt jedoch niedergeschlagen, weil seine Frau von den Muscheln, die verdorben waren, krank geworden ist. Dennoch will er mit der „Independence“ des Kapitän Hardy segeln. Es ist das gleiche Schiff, fällt Poe auf, auf dem er Leonie Goron kennen lernte. Er bucht eine Kabine, um es ruhig zu haben. Als das Schiff einläuft, begrüßt ihn Hardy freundlich und zeigt ihm seine Kabine und den daneben liegenden Speisesaal. Wyatt ist nicht zu sprechen, und das macht Poe recht besorgt um seinen Bekannten. Ihn überkommen unruhige Gedanken, doch ein Umsteigen auf die Kutsche kommt nicht mehr in Frage: Sie ist ausgebucht.
Kurz vor dem Ablegen des Schiffes gehen Wyatt und eine verschleierte Frau an Bord. Das dürfte wohl seine Gattin sein, doch Poe wundert sich. Während Wyatts Gesicht hager und eingefallen aussieht, strahlt seine Gattin, die doch sehr krank war, vor Gesundheit. Tatsächlich ist sie sogar die Fröhlichkeit in Person! Das kommt Poe geradezu pietätlos vor. Auf einem Wagen wird eine zwei Meter lange Kiste antransportiert und in Wyatts Kabine verfrachtet. Nur dessen Name steht darauf, das Tannenholz ist noch frisch. Nächstes Kommando: Leinen los!
Nach einem heiteren Start mit einer noch heiteren Mrs. Wyatt schlägt die Stimmung jedoch um: Käptn Hardy wittert Sturm. Poe kann nicht mehr schlafen und hält sich sogar mit Kaffee wach. Irgendetwas geht in den Kabinen und dem nahen Speisesaal vor sich. Ständig hört er Geräusche und wispernde Stimmen. Einmal huscht Mrs Wyatt von einer separaten Kabine (!) in Mr. Wyatts Domizil – dort befindet sich die ominöse Kiste. Und Wyatt selbst sieht allmählich aus wie der leibhaftige Tod. Proviant verschwindet und ein Messer, das der Koch vermisst. Offenbar gibt es einen blinden Passagier an Bord – das würde einige der Rätsel erklären.
Aber nicht alle …
Als der Sturm das Schiff zum Sinken bringt und alle in die Boote müssen, kommen einige der Geheimnisse der „Independence“ ans Tageslicht. Mit fatalen Folgen.
_Mein Eindruck_
Diese Episode hält sich erstaunlich genau an die bekannte literarische Vorlage. Nur dass diesmal natürlich der Augenzeuge unser bekannter Unbekannter ist, der sich aus einer Laune heraus den Namen „Edgar Allan Poe“ zugelegt hat. Sein Rätsel bleibt bestehen. Und weiterhin wird aus dem relativ anonymen Passagier, der die fatale Kiste an Bord bringt, ein guter Bekannter, an dessen traurigem Schicksal „Poe“ großen Anteil nimmt.
Die für die Serie charakteristischen Momente der Spannung und des Grauens beschränken sich auf die mysteriösen Vorgänge unter Deck. Kein Albatross fällt unheilverkündend vom Himmel, keine Leiche wandelt gespenstisch an Deck – obwohl einmal fast so aussieht. Vielmehr ist es die klaustrophobische Enge in seiner Kabine, die Poe zusetzt und seinen labilen Geisteszustand ins Wanken geraten lässt. Leicht hätte die Dramaturgie eine Vision einbauen können, doch sie bleibt aus, hätte sie doch den begrenzten Umfang des Stückes gesprengt.
VORSICHT, SPOILER!
Wie so häufig bei Poe entsteht das eigentliche Grauen daraus, dass es einen grotesken Widerspruch zwischen der quicklebendigen angeblichen Mrs. Wyatt und ihrem sichtlich dahinsiechenden Gatten gibt. Als sich diese Rolle als Lug und Trug entpuppt, öffnet sich dahinter ein noch größeres Grauen. Die in der titelgebenden Kiste liegende echte Mrs. Wyatt ist zwar mausetot, scheint aber ihrem – noch – lebenden Gatten auf ghoulische Weise den Lebenssaft auszusaugen. Dass beide ihr Ende gemeinsam in der tiefen blauen See finden sollen, erscheint nur folgerichtig.
SPOILER ENDE
Doch genau wie die nächste Episode bringt dieser Zwischenfall auf der Reise nach New York City die Story nicht weiter und verändert auch die Hauptfigur in keiner Weise. Die Episode „Du hast’s getan“ sieht Leonie Goron in einem Provinzkaff einen Mordfall aufklären. Aber sie stößt ebenfalls auf die Spur von Doktor Baker alias Templeton und die des Malers Jimmy Farrell. Diesen müssen sie und Poe gleichermaßen dringend suchen, sobald sie in der Metropole anlangen.
_Die Sprecher/Die Inszenierung_
Pleitgen spielt die Hauptfigur E. A. Poe, ist also in jeder Szene präsent. Er moduliert seine Stimme ausgezeichnet, um das richtige Maß an Entsetzen, Erstaunen oder Neugier darzustellen. Im ersten Teil des „Eleonora“-Traumes schwelgte sein Poe in verliebter Seligkeit. Umso gequälter klang Poe in der zweiten Traumhälfte, als ihn die tote Geliebte in seinen Albträumen heimsucht. Dieser Stimmungswandel leitete die Trennung von Leonie ein und machte sie ein wenig nachvollziehbarer. Deshalb ist Poe in diese Episode allein, und Pleitgen muss ohne Berben an seiner Seite auskommen.
_Musik und Geräusche_
Mindestens ebenso wichtig wie die Sprecher sind bei den POE-Produktionen auch die Geräusche und die Musik. Hut ab vor so viel Professionalität! Die Arbeit des Tonmeisters beim Mischen aller Geräusche ist so effektvoll, dass man sich – wie in einem teuren Spielfilm – mitten im Geschehen wähnt. Die Geräuschkulissen sind entsprechend lebensecht und detailliert gestaltet. Wir hören das Schreien der Möwen ebenso wie das unablässige Knarzen von Tauen und Dielen an Bord der „Independence“.
Die Musik erhält daher eine umso wichtigere Bedeutung: Sie hat die Aufgabe, die emotionale Lage der Hauptfigur und ihres Ambientes darzustellen. Diese untermalende Aufgabe dient diesmal mehr der Gestaltung ganzer Szenen, so etwa während der Sturms und der mysteriösen Vorgänge unter Deck. Diesmal ist mir insbesondere die verstärkte Rolle der Bässe aufgefallen. Sie werden nicht etwa elektrisch erzeugt, wie von einer Gitarre, sondern von einem Klavier. Doch wurden die tiefen Töne derart durch die Echokammern und Verzerrer gejagt, dass daraus ein erschütterndes Grollen herauskam, das das Gehör des Publikums auf einer unterschwelligen Ebene beeinflusst und unwillkürlich Furcht erzeugt. Raffiniert!
Ein Streichquartett, Musiker des Filmorchesters Berlin sowie die Potsdamer Kantorei an der Erlöserkirche wirken zusammen, um eine wirklich gelungene Filmmusik zu den Szenen zu schaffen. Das Booklet führt die einzelnen Teilnehmer detailliert auf, so dass sich niemand übergangen zu fühlen braucht.
_Der Song_
Die Band „We Smugglers“ hat, wie erwähnt, den Titelsong „On the verge to go – Edgar Allan Poe Edit“ beigesteuert. Ihr Konzertplakat weist sie als vier recht schräg aussehende Herrschaften aus, die nichtsdestotrotz ihre Instrumente zu beherrschen scheinen. Was wir in der Länge von rund 3:30 Minuten zu hören bekommen, würde ich als balladesken Slow-Metal-Rock bezeichnen. Die Tonart ist recht ausgefallen: Cis-Dur.
Deutlich dominiert die E-Gitarre, die sich wie die von Jimmy Page anhört, als er sein berühmtes Stück „Kashmir“ für die MTV-Acoustic-Session neu arrangierte. Für mich klingt das gut und melodisch, aber kraftvoll. Der Klangteppich wird von einer deutlich zu vernehmenden Basslinie und unauffälligen Drums und Cymbals unterstützt. Der Gesang ließe sich noch verbessern, und die Lyrics könnte man auch mal abzudrucken beginnen.
_Unterm Strich_
Diese Episode bringt die Handlung zwar nicht weiter, aber den Helden wenigstens von A nach B, um nach dem Schlüssel zu seiner wahren Identität zu suchen. Unterwegs erlebt er eines von Poes weniger grausigen Abenteuern, ein Seestück sozusagen, das mehr von der Atmosphäre getragen wird als von Rationalität oder gar Action.
Doch die akustische Umsetzung ist den Machern so überzeugend gelungen, dass ich mich bei dem Wunsch ertappe, sie würden dereinst mal „Die Abenteuer des Arthur Gordon Pym aus Nantucket“ orchestral zu Gehör bringen, inklusive abschließendem „tekeli-li“. Von diesem Punkt aus ließe sich sich die Geschichte entweder als Lovecrafts „Berge des Wahnsinns“ weiterführen oder als Jules Vernes „Die Eissphinx“. Beides sind herausragende Werke des phantastischen Genres. Eine weiterer Anknüpfungspunkt besteht in Michael Marraks „Imagon“. Hier könnten endlich mal deutsche Autoren Berücksichtigung finden.
|Basierend auf: The oblong box, ca. 1845
57 Minuten auf 1 CD
Mehr Infos auf http://www.poe-hoerspiele.de |