Jem Poster – Der Winter des Architekten

Poster Winter Cover kleinDas geschieht:

Noch jung an Jahren und längst nicht so weltgewandt wie er es gern von sich glaubt, nimmt John Stannard, seines Zeichens Architekt, im Winter des Jahres 1880 in einem abgelegenen Dorf Quartier, um die Pfarrkirche St. Mary‘s einer längst überfälligen Gesamtrenovierung zu unterziehen. Das alte Gotteshaus ist seinen Besuchern ans Herz gewachsen. Stannard macht sich daher keine Freunde, als er seine Aufgabe mit Eifer, aber ohne Einfühlungsvermögen angeht.

Er, der sich den einfachen Dörflern gesellschaftlich überlegen fühlt, geht rücksichtslos mit den Knochen der unter dem Kirchboden Verstorbenen um. Das alte Mobiliar wird herausgerissen und verbrannt. Seine beiden Arbeiter fasst Stannard hart an; Rücksicht nimmt er weder auf sich noch auf andere Menschen; Schwäche ist ein Schicksal, das ein Mann hinzunehmen hat, ohne auf die Hilfe der Starken und Reichen zählen zu dürfen.

Dennoch fühlt sich dieser John Stannard angezogen von einer Frau: Annie Rosewell ist hübsch und ehrbar und durchaus angetan von der ihr entgegen gebrachten Aufmerksamkeit. Aber Stannard kann nicht aus seiner Haut. Als sich die Angebetete in seinen Augen als nicht gesellschaftsfähig herausstellt, zieht er sich abrupt zurück. Eine ernsthafte Erkrankung bietet ihm die willkommene Gelegenheit, sich rar zu machen.

Die brüskierte Annie versucht ihre Liebe zu retten und gleichzeitig ihrem freudlosen ‚Heim‘ zu entfliehen. Doch Stannard stößt sie voller Selbstgerechtigkeit zurück und löst damit eine Katastrophe aus, die schließlich auch ihn unter sich begraben wird …

Gute Absichten & tiefe Gräben

Obwohl „Der Winter des Architekten“ vom deutschen Verlag als „historischer Kriminalroman“ mit Mystery-Elementen verkauft wird, handelt es sich tatsächlich um ‚richtige‘ Literatur – einen Gesellschaftsroman mit tragischer Liebesgeschichte, wenn es denn einer Schublade bedarf. Der Genrefreund sollte sich dennoch nicht abschrecken lassen, denn dieser Roman hat es in sich! Nicht immer müssen Leichen fallen, deren Verursacher von schlauen Mönchen, Heilerinnen, Schornsteinfegern u. a. Gestalten der Vergangenheit ermittelt werden. Das Leben selbst kann mörderisch genug sein – vor allem, wenn Gefühle ins Spiel kommen.

Die können in der durch Eis und Frost vortrefflich symbolisierten Umgebung des ländlichen England in seiner viktorianischen Ära nur im Desaster enden. Man ahnt es als Leser schon früh und erwarte bloß keine tief im Schmalztopf zusammengerührte Rührposse: „Der Winter des Architekten“ ist harter Stoff, ein endloser Reigen unsympathischer und unglücklicher Menschen, die nichtsdestotrotz unser Herz rühren können, weil wir sie als Gefangene ihrer Zeit und Lebensumstände erkennen.

Nichts ist wie es auf den ersten Blick scheint. John Stannard ist ein herzloser Widerling, den es in ein Dorf einfacher, aber herzensguter Menschen verschlägt, die er permanent vor den Kopf stößt. Schnitt: John Stannard ist ein unglücklicher, gefühlskalt aufgezogener, unsicherer Mann, der sich fortschrittlichkeitsfeindlichen, sturen und unverbesserlichen Hinterwäldlern ausgesetzt sieht, die ständig seine Arbeit hintertreiben.

Beide Wertungen treffen ins Schwarze und sind doch nur Seite ein und derselben Medaille. Beide Seiten haben Recht und Unrecht und schaffen es beim besten Willen nicht einander zu verstehen. Unter solchen Umständen kann es keine Erlösung geben, muss die „Allmacht der Liebe“ Fiktion bleiben.

Rätselreiche Unsicherheit bis zuletzt

An Symbolen lässt es Verfasser Jem Poster niemals fehlen. Nicht nur das Wetter weist auf die Aussichtslosigkeit der Situation hin. Stannards hilflose Versuche, eine Kirche zu retten, die nichts als Baufälligkeit und Fäulnis konserviert, spiegelt ebenfalls das morsche Gesellschaftssystem wider, in dem sich die Protagonisten bewegen müssen. Dabei werden alte Knochen gestört und die Lebenden in Aufruhr versetzt. Was vor allem Stannard einfach nicht begreifen kann, ist die Tatsache, dass Disziplin und rationales Denken das Leben eben nicht in geordnete Bahnen zu lenken vermögen.

Die Ratlosigkeit des Lesers, wessen Partei er denn nun ergreifen soll, wird von Poster immer wieder geschickt unterlaufen bzw. durch ständige Perspektivenwechsel verhindert. Gewinner gibt es hier sowieso nicht, aber auch keine tragischen und dadurch im Scheitern rührende Figuren: Zu verlieren ist traurig, daran gibt es nichts zu deuteln.

Jem Poster setzt uns mit John Stannard einen komplexen und kaum liebenswerten Charakter vor. Bei aller Ablehnung fasziniert er uns auch, denn wir erkennen in ihm durchaus positive Ansätze, die primär durch genau das zunichte gemacht werden, was Stannard scheinbar so schätzt: seine Integrität, die gesellschaftliche Stellung, die er innehat, sowie die Verpflichtungen, welche damit einhergehen.

Sein ungeliebtes lebendiges Spiegelbild findet Stannard im Pfarrer Banks, der ihm als rührselige, gescheiterte Existenz erscheint, dessen Vorbild er ganz sicher nicht nacheifern will. Was er wiederum nicht erkennt – obwohl es ihm Banks zu vermitteln versucht – ist des Pfarrers Erkenntnis, dass Gefühle zur menschlichen Natur gehören und nicht verleugnet werden dürfen. Auf seine Weise ist Banks zufrieden. Stannards Unvermögen dies nachzuvollziehen gehört zu den frustrierenden und faszinierenden Leseerlebnissen.

Fehleinschätzungen und falsche Entscheidungen

Ann Rosewell ist die definitive Verliererin unseres Dramas; Poster gewährt uns kein Schlupfloch. Sie ist es, die ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt und es zum Besseren zu wenden versucht. Den snobistischen Stannard liebt sie, und als er sich selbst in endlose Grübeleien über seine Gefühle und deren Rechtmäßigkeit verstrickt, ergreift sie wiederum die Initiative: für eine Frau der viktorianischen Epoche eine mutige und ungewöhnliche Tat. Das Happy-End bleibt aus. Stannard begreift nicht und will bald auch nicht mehr begreifen. Eigentlich sucht er weniger eine Lebensgefährtin als ein Aushängeschild. So wurde er erzogen, es wird sein Fluch.

Interessant ist auch die Nebenfigur des heruntergekommenen Landadligen Redbourne. Mit der ihm eigenen Borniertheit hält Stannard ihn für den einzigen ihm angemessenen Umgang. Ihm gelingt es nie, hinter die Fassade zu blicken, die nicht nur Banks längst durchschaut hat. Redbourne ist ebenfalls ein Getriebener; er hat Schuld auf sich geladen; ähnliche Schuld wie sein ‚Freund‘ Stannard, der dies indes wie üblich zu spät begreift – falls überhaupt.

Am Ende bleibt keine Hoffnung. Das zu erfassen fällt freilich schwer, denn Poster bietet mehrere mögliche Deutungen an, die sogar das Übernatürliche streifen und vom Leser einige Kopfarbeit einfordern. Welche Geschichte hat uns John Stannard da eigentlich erzählt? Dass es stets mehrere Versionen gibt, darauf hat er uns selbst oft hingewiesen. Deshalb müssen wir uns auch die Mühe machen, sie uns selbst im Kopf zusammenzusetzen.

Autor

Jem Poster (geb. 1949) arbeitete lange als Archäologe; kein Wunder, dass Stannards Bautätigkeiten in St. Mary‘s so überzeugend wirken. Später war Poster als Literaturdozent für das Oxford University’s Department tätig. Seit 1998 leitet er außerdem Kurse für kreatives Schreiben. Um sich der Schriftstellerei widmen zu können, ließ er sich frühzeitig pensionieren.

Posters schriftstellerische Karriere begann mit Gedichten, für die er zahlreiche Preise gewann, welche freilich wohl nur den Liebhabern dieser altehrwürdigen Kunstform bekannt sind; dies gilt auch für seine Edition der Werke von George Crabbe oder seinen Studien zur Poesie der 1930er Jahre. „Courting Shadows“ war 2002 Posters erster Roman, dem seitens der Kritik viel wohlwollende Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

Taschenbuch: 319 Seiten
Originaltitel: Courting Shadows (London : Hodder and Stoughton 2002)
Übersetzung: Claus Varrelmann
http://www.randomhouse.de/goldmann

Der Autor vergibt: (5.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)