Prokofieff, Sergej O. – Menschen mögen es hören. Das Mysterium der Weihnachtstagung

Seit Ostern 2001 ist der Russe Prokofieff Mitglied im Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft in Dornach (Schweiz) und mit seinen Ideen und Tätigkeiten scheint ein gewaltiger Umbruch bei den Anthroposophen stattzufinden. Er konzentriert sich bei den Aufgaben der anthroposophischen Gesellschaft auf die Weihnachtstagung von 1921, die seit mehr als achtzig Jahren heftigst innerhalb der Mitgliedschaft diskutiert wird und lange Zeit als Tabuthema galt. Über das letzte Jahrzehnt hinweg konnte sich endlich damit offen auseinandergesetzt werden, allerdings mit dem vorläufigen Ergebnis, dass schweizerische Gerichte Anfang 2004 den ganzen damaligen Verein für rechtlich nicht einwandfrei erklärten und alle Entwicklungen, die seitdem bei den Anthroposophen stattfanden, als rechtlich unwirksam erklärten. Ein vernichtendes Urteil für die Anthroposophen, die sich zwar über Positionen stritten, aber kaum jemand war wohl mit der Aussicht auf einen solchen Ausgang vor Gericht gegangen.

Prokofieffs Buch ist eine hervorragende Arbeit, deren Wichtigkeit nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Er entwickelt aus der Anthroposophie erstmals eindeutig eine eigenständige moderne Religion, was in solcher Weise durch die letzten hundert Jahre hinweg noch keiner vor ihm zu formulieren wagte. Dies macht die Auseinandersetzung mit dem umfassenden Werk auch für Nicht-Anthroposophen notwendig. Abgesehen davon, dass er sich in seinem ganzen Ideenkomplex nur auf die wenigen „poetischen“ Verse der Grundstein-Meditation von Steiner besagter Tagung beruft – es ist schon sehr verwegen, diese derart umfangreich zu kommentieren, mit dem Ergebnis, eine Religion geschaffen zu haben -, bildet seine Arbeit den wichtigsten derzeitigen Impuls für eine Anthroposophie von morgen.

Für ihn war die Weihnachtstagung keine irdische Angelegenheit, sondern eine kosmische, die auch göttlich-geistige Hierarchien betraf. Rudolf Steiner wird bei ihm zu einer Messias-Gestalt und alle damals beteiligten Vorstandsmitglieder und engen Getreuen zu einer Art von Aposteln. Steiner sei der führende Rosenkreuzermeister des 20. Jahrhunderts gewesen, der als moderner Gesandter Michaels vor die Menschheit trat. Die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft in der Fortsetzung des traditionellen Rosenkreuzertums sei ein ganz neues Rosenkreuzertum des 20. Jahrhunderts. Das Einweihungsprinzip bildet darin einen ganz bedeutenden Schwerpunkt. Die anthroposophische Religion ist eine christliche Religion – worüber ich als Rezensent durchaus streiten würde, was aber die Buchbesprechung zu sehr von ihrem Inhalt wegführen würde – , die ihren Schwerpunkt auf die Auferstehungskräfte legt und sich zum ersten Mal seit Entstehung des Christentums überhaupt mit der Auferstehungsbotschaft an das volle Bewusstsein jedes individuellen Menschen wendet und den „Sündenfall“ im Bereich der Erkenntnis überwinden hilft. Bislang war es dem Menschen nicht möglich, sich durch Wissenschaft an das Geistige anbinden zu können, denn er musste sich an die Materie angleichen. Dieser Höhepunkt ist jetzt fast erreicht, dem Mensch steht nach dem Verlust des Geistes nun auch der Verlust der Seele bevor, was zur Folge haben wird, dass sie schließlich gänzlich und endgültig mit der Materie Eins werden wird. Zwar ist der Materialismus eine völlig irrige Lehre, aber offensichtlich leben wir in einer Zeit, wo diese schreckliche Gefahr im Sinne der Apokalypse wahr zu werden droht. Die anthroposophische Religion will das verhindern.

Rudolf Steiner verstand sich als führender Meister der Weißen Loge, Seite an Seite und auf einer Stufe mit Christian Rosenkreutz. Seine Arbeit sollte den Menschen erstmals direkt zu einem schöpferischen Wesen im Weltall werden lassen, der über die höchsten Kräfte verfügt, die aus der jenseits des geschaffenen Kosmos und aller mit ihm verbundenen neun Hierarchien liegenden Sphäre der göttlichen Dreifaltigkeit erfließen. In seiner Definition der Dreifaltigkeit „Vater, Sohn und heiliger Geist“ ersetzte er den Begriff „Sohn“ mit dem Namen „Christus“. Darin folgt er der esoterischen Tradition des Rosenkreuzertums. Im heutigen materiellen Kosmos sind die Kräfte des Vaters nicht mehr zugegen. Sie verließen ihn, zusammen mit den Hierarchien, damit der Mensch in diesem erstorbenen Kosmos zum Erleben der Freiheit kommen könne. Wenn diese erreicht sein wird, kann der Mensch sich selbst und die ihn umgebende Welt zu voller Vergeistigung führen. Vergöttlichung (durchaus also etwas Satanistisches, was von Kritikern den Anthroposophen auch vorgeworfen wird) ist in diesem Sinne das Ziel. Anthroposophen selbst sehen sich wie alle wahren Eingeweihten durchaus auch unter den Empfängern der Urweisheit durch luciferische Wesenheiten, allerdings stellen sie sich dem Anspruch, mit diesem Wissen nicht Lucifer zu dienen. Ihrer Ansicht nach sind die „Engel“ wie die „Götter“ auf das menschliche Denken angewiesen; ganz radikal behauptet die anthroposophische Religion, dass ohne das menschliche Bewusstsein über Gut und Böse selbst für himmlische Hierarchien kein Verständnis des „Göttlichen“ möglich ist. Rudolf Steiner nannte diesen Prozess „Erlösung für die Engel“.

Zur anthroposophischen Religion, die eine „Sonnen“-Religion ist, gehört auch der Glaube an die Reinkarnation. Steiner packte diese Lehre von Wiederverkörperung und Karma nicht nur in eine christliche Form, sondern verband diese auch mit dem michaelischen Karma als Grundlage für eine neue soziale Gemeinschaft. Neben der Rosenkreutzertradition steht die anthroposophische Religion auch in der Gralstradition, die in heutiger Zeit nicht nur das Gralslicht (der Stein Lucifers ist für sie der heilige Gral) zu erschauen in der Lage ist, sondern sich darüber hinaus mit den in der Christussphäre wirkenden (dem Christus dienenden) Elementargeistern vereinigen kann. Der heilige Gral diente Christus beim Abendmahl, um das Sakrament der Kommunion einzusetzen. Danach wurde auf dem Hügel von Golgatha sein Blut darin gesammelt. In der religiösen Vorstellung der Anthroposophen folgt dann auch die ganze Entwicklung der Gralsrezeption, wie man sie kennt: Der Auferstandene übergibt ihn Joseph von Arimathia – der dann in Glastonbury den Gralsdienst begründet – und der Gral wird nach dessen Tod wieder auserwählten Engeln in Obhut gegeben. Als dann der hohe Eingeweihte Tituriel in Spanien die Gralsburg baute, wurde er erneut zur Erde gebracht. Die Anthroposophie spricht von sich auch gerne als der modernen „Wissenschaft vom Gral“.

Neben Christus spielt allerdings auch die Göttin eine große Rolle in dieser neuen Religion. Steiner entwickelte ja eine „neue Isis-Mythologie“, welche die Sophia (die Weisheit) in den Mittelpunkt stellt und die Entwicklung der Seele präsentiert. Deswegen auch der Name Anthropo-Sophia. Die dem Christus dienenden Elementargeister stehen direkt unter Führung von Sophia und Michael. Ähnlich wie Thelemiten vom „wahren Willen“ sprechen, bezeichnen – allerdings angelehnt an den Apostel Paulus – die Anthroposophen „Nicht ich, sondern der Christus in mir“ als das wahre Ich. Auch bei ihnen steht das Abendmahl im Mittelpunkt des religiösen Rituals, wobei Brot (Feuer) und Wein (Wasser) den Polaritäten und den in Atlantis gebildeten zwei Mysterienströmungen entsprechen und nur in ihrer Vereinigung kann der Christus real in dem Mysterium zugegen sein.

Steiner selbst sah in der Anthroposophie ein „Christentum der Zukunft, das im Besitz der Geheimnisse von dem Ehernen Meer und dem Goldenen Dreieck“ ist. Aus dieser Perspektive baut dann Prokofieff historisch die damals Beteiligten zu einer Art neuer „Christus und seine Apostel“-Geschichte auf. Die Trinität Rudolf Steiner, Marie Steiner und Ita Wegmann steht im Zentrum und bildet das „Geheimnis des Christian Rosenkreutz“ (Goldenes Dreieck). Alle anderen geistigen Strömungen wurden innerhalb des Gründungsvorstandes (Ehernes Meer) repräsentiert, wobei jedes einzelne Mitglied von ihm aus esoterischer Sicht kommentiert und erläutert wird. Da diese insgesamt die Zahl fünf ausmachten, wird ihre Funktion am Pentagramm dargestellt, dem geistigen Urbild des Menschen, das auf den zwei Säulen von Jakim und Boas ruht. Mit Steiner selbst noch gerechnet, waren es allerdings sechs Personen und immerhin damit absolute Parität zwischen dem weiblichen und dem männlichen Prinzip: drei Frauen und drei Männer. Damit brach er mit der lang andauernden okkulten Logengepflogenheit männlicher Vorherrschaft (was allerdings auch schon in der so genannten irregulären Freimaurerei, wo er als Höchsteingeweihter des O.T.O. genügend Erfahrungen sammelte, Normalität darstellte). Das beginnende „karmische Gleichgewicht“ zwischen Männlich und Weiblich sieht Prokofieff als ein Zeichen des Wirkens des Christus als Herr des Karma in der Menschheit.

Okkultes Wissen und Praktik sind somit in der neuen Religion vollkommen enthalten. Auch dafür bietet das Buch dem Kenner sehr viel hilfreiche Informationen zur eigenen Arbeit. Besonders im Kapitel über Eurythmie während der Weihnachtstagung – die erstaunlicherweise sehr viele Abweichungen im Verlauf zur bekannten Eurythmie aufweist – sind unschätzbare Hinweise für eine Choreografie energetisch-magischer Strukturen eingebettet, die natürlich hervorragend adaptiert werden können. Ähnliche Funktion haben die Mysteriendramen, die Steiner hinterließ, deren Arbeit leider wegen des Ausbruches des 1. Weltkrieg abgebrochen wurde. Sonst gebe es eigentlich sieben anstatt der drei vorhandenen. Steiner äußerte mal über sie, dass wenn die Anthroposophen diese Dramen wirklich verstünden, er dann keine weiteren Bücher mehr schreiben oder Vorträge halten müsse. Aus magischem Interesse heraus ist das Kapitel über den Bau des Tempels ebenso unschätzbar wertvoll, denn da sind Hinweise enthalten über den Sinn der Elemente in bestimmten Richtungen ebenso wie zur energetischen Choreografie während der Zeremonien des Kultes. Gerade an den hier beschriebenen Arbeitsstellen des Buches wird ersichtlich, dass Prokofieff tatsächlich auch zu den höheren Eingeweihten und Magiern der Jetztzeit gezählt werden muss.

Ihm geht es nicht um eine zahlenmäßig große Anthroposophie, sondern um die geistige Substanz. Steiner bereits 1905: |“In ihren Vereinigungen sollen sich geistige Wesenheiten hernieder senken, um durch die einzelnen Menschen zu wirken, wie die Seele durch die Glieder des Körpers wirkt“|. Interessanterweise bezeichnete er da die in „Bruderliebe“ verbundenen Glieder als Zauberer: |“Zauberer sind die Menschen, die in der Bruderschaft zusammenwirken, weil sie höhere Wesen in ihren Kreis ziehen… Wenn wir dann als Mitglied einer solchen Gemeinschaft handeln oder reden, so handelt oder redet in uns nicht die einzelne Seele, sondern der Geist der Gemeinschaft. Das ist das Geheimnis des Fortschritts der zukünftigen Menschheit, aus Gemeinschaften heraus zu wirken“|.

Nach dem umfangreichen Aufbau einer neuen Religion kommt Prokofieff dann nach knapp über der Hälfte seiner Arbeit zur historischen Geschichte der Anthroposophie zurück, in deren Mittelpunkt natürlich die Weihnachtstagung und der Versuch der Gründung der weltweiten |Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft| stehen. Es ging dabei wie bei den ersten Christen um das Entstehen einer neuen Erde und eines neuen Himmels. Dass dies historisch gesehen eigentlich als gescheitert betrachtet werden müsste, wird von ihm anders interpretiert, nämlich als ein Teil des religiösen Glaubens. Das Scheitern war das große Opfer und alle wahren Meister des esoterischen Christentums mussten diesen Weg der Freiheit und des Opfers (der Freiheit und der Liebe) beschreiten. Die höchste Äußerung des Opfers ist nun mal das der Liebe. Diese Verantwortung kann jeder nur aus eigenem freiem Entschluss auf sich nehmen. Im Gegensatz zu den alten Mysterien der Weisheit – z.B. noch in den freimaurerischen Organisationen wird der Schüler von Führern beobachtet und beurteilt, bis er als reif und würdig genug empfunden wird und man ihm gestattet, durch einen Zugang zur nächst höheren Stufe Verantwortung zu übernehmen – wird in den Neuen Mysterien diese Verantwortung nicht mehr von außen auferlegt, sondern erfolgt nur durch eigenes, errungenes, inneres Verständnis.

Prokofieff macht auch keinen Hehl aus gerne verschwiegenen Tatsachen, dass Steiner wohl vergiftet wurde, damit seine Bemühungen vereitelt würden, was sich schon mit dem Brand aufs erste |Goetheanum| – das dabei zerstört wurde – anbahnte und nennt auch den eigentlichen Gegner: das Jesuitentum. Was im 16. Jahrhundert von Ignatius von Loyala aus ebenfalls luciferischer Inspiration gegründet wurde, hat im Laufe der Zeit einen ahrimanischen Charakter angenommen und die okkulte jesuitische Praxis ist heute wie vor hundert Jahren rein ahrimanisch. Das ist besonders bei solchen katholischen Organisationen wie dem „Opus Dei“ zu beobachten, das aus der weitergehenden Ahrimanisierung der Prinzipien der jesuitischen Einweihung hervorgegangen ist. Bei dieser Lage der Dinge gibt es keine Hoffnung auf einen Friedensschluss mit dieser Strömung: „Niemand kann zwei Herren dienen!“ (Mt. 6,24). Die ganzen Diskussionen innerhalb der Anthroposophie um die Weihnachtstagung und die Gesellschaft lehnt Prokofieff ab. Zwar braucht der Geist eine Form, um in der irdischen Welt zu erscheinen und zu wirken, jedoch beansprucht die Anthroposophie, dass nicht die Form den Geist hervorbringt, sondern umgekehrt: Alle irdischen Formen sind aus dem Geist entstanden. Alle revolutionäre Beschlüsse, die die Anthroposophische Gesellschaft (oder sogar deren Elite, die |Freie Hochschule für Geisteswissenschaft|) von außen (juristisch, statutenmäßig) ändern wollen, stellen nicht die Sorge um den Geist an die Spitze, sondern missverstehen die Weihnachtstagung.

Generell erscheinen in anthroposophischen Verlagen sehr anspruchsvolle und gute Titel, mitunter aber auch endlos sich Wiederholendes. Das Buch von Prokofieff nimmt dabei einen ganz besonderen Stellenwert ein. Vielleicht die wichtigste Arbeit innerhalb der Anthroposophie der letzten Jahrzehnte.

Die einzigen ernstzunehmenden Vorgänger, die einen Weg zum Verständnis der Weihnachtstagung bereiten wollten, waren:

Frederik Willem Zeylmans van Emmichoven: Der Grundstein
Rudolf Grosse: Die Weihnachtstagung als Zeitenwende
Bernard Lievegoed: Mysterienströmungen in Europa und die neuen Mysterien

Sergej O. Prokofieff wurde 1954 in Moskau geboren. Er studierte Malerei und Kunstgeschichte an der Kunsthochschule in Moskau. Zur Zeit ist er als Vortragsredner und Schriftsteller tätig. Im |Verlag Freies Geistesleben| sind von ihm erschienen: „Rudolf Steiner und die Grundlegung der neuen Mysterien“, „Der Jahreskreislauf als Einweihungsweg zum Erleben der Christus-Wesenheit“, „Die okkulte Bedeutung des Verzeihens“ und „Der Jahreskreislauf und die sieben Künste“. (Verlagsinfo)

_Aus dem Inhalt:_

Der Lebensweg Rudolf Steiners im Lichte der Weihnachtstagung
Die Mysterienhandlung der Grundsteinlegung am 25. Dezember 1923
Die Rhythmen der Weihnachtstagung
Die Grundsteinmeditation in der Eurythmie
Das esoterische Urbild des Gründungsvorstands
Die Anthroposophische Gesellschaft als Tempel der neuen Mysterien
«Die Philosophie der Freiheit» und die Weihnachtstagung
Rudolf Steiner und das Karma der Anthroposophischen Gesellschaft
Die Grundsteinmeditation. Karma und Auferstehung.

[Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft]http://www.goetheanum.ch/
[Rudolf Steiner]http://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Steiner (|wikipedia|)