Raphael, Frederic – Eyes Wide Open. Eine Nahaufnahme von Stanley Kubrick

Als Stanley Kubrick den Entschluss fasste, Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“ zu verfilmen, brauchte er einen kundigen Autor, der das Drehbuch verfasste. Er suchte lange und sorgfältig. Seine zögerliche Wahl fiel auf Frederic Raphael. Dies sind die Protokolle und Erlebnisse des Autors mit einem Genie des Filmemachens.

|Der Autor|

Frederic Raphael lebt als Autor, Feuilletonist und Dramaturg in Frankreich und Großbritannien. Sein Drehbuch für „Darling“, das 1965 mit Julie Christie verfilmt wurde, wurde mit einem Oscar ausgezeichnet. In den beiden Jahren 1995 und 1996, als er für und mit Kubrick an dem Drehbuch für „Eyes Wide Shut“ (1999) schrieb, beschreibt er sich selbst als „um die sechzig Jahre alt“ – er wurde 1931 in Chicago geboren. Er gehört der |Royal Society for Literature| an. Seine Fernsehserie „After the War“ wurde weltweit ausgestrahlt.

Ich setze Stanley Kubrick als bekannt voraus. Wer Infos braucht, lese meine Artikel zu
[„2001: Odyssee im Weltraum“]http://www.powermetal.de/video/review-294.html
[„Eyes Wide Shut“]http://www.powermetal.de/video/review-297.html
[„Full Metal Jacket“.]http://www.powermetal.de/video/review-296.html

_Inhalte_

Stanley Kubrick starb bekanntlich am 7. März 1999. Die Erleichterung über die wohlwollende, um nicht zu sagen: enthusiastische Aufnahme seines neuesten, letzten Films „Eyes Wide Shut“ bei den Studiobossen und den ersten Kritikern hatte ihm eine derartige Last von der Seele gewälzt, dass offenbar eine körperliche Reaktion einsetzte. Sein Film hatte noch nicht das Stadium des allerletzten Schnitts erreicht, und so kam in die Kinos eine Fassung, die unfertig war. Sie ist die Fassung letzter Hand, wie man in der Literatur sagt.

Nichtsdestotrotz stellt sie das Ergebnis von zwei Jahren Arbeit am Drehbuch und noch einmal zweieinhalb Jahren bei Dreharbeiten und Schnitt dar. Frederic Raphaels Buch beschreibt lediglich die Arbeit am Drehbuch und stoppt vor den Dreharbeiten, die im November 1996 begannen.

Schon lange hatte Kubrick nach Raphaels Worten den Plan, einen Kunstporno zu drehen. Den entsprechenden Versuch seines Drehbuchautors an „Dr. Seltsam“, Terry Southern, mit „Candy“ fand er erbärmlich misslungen. Er selbst nutzte die liberale Kunstzensur der USA, die nach einem Urteil seit 1966/67 bestand, ebenfalls aus, und zwar mit „Uhrwerk Orange“. Darin waren schon eine Menge leicht bekleidete Damen zu sehen, ja sogar eine Massenvergewaltigung. Der Skandal nach dem Film war so enorm, dass die Kubricks Morddrohungen erhielten und ans Auswandern dachten. Fortan verschanzte sich der Maestro in seinem Landhaus und gestaltete seine Kontakte zur Umwelt sehr umsichtig und mit größter Vorsicht.

Aber Kubrick wollte noch weiter gehen als in „Orange“ und eine richtige Orgie zeigen. In Schnitzlers „Traumnovelle“ fand er eine, die ihm zusagte. Sie fand natürlich nicht bei den ollen Römern statt, sondern im dekadenten Wien um die Jahrhundertwende von 1900. Und durch die Qualität eines Traums ließ sich das Gezeigte a) leicht als Produktion der Einbildung entschuldigen und b) ohne Schwierigkeiten stilisieren und zu etwas anderem überhöhen. Zu Kunst eben.

Allerdings brauchte er einen Schreiberling, der ihm Schnitzlers Prosa in kompetente Szenen eines dramaturgischen Mediums transformierte. Deshalb bekam Raphael über seine Literaturagentur William Morris im Frühjahr und Sommer 1994 rätselhafte Anfragen, ob er eventuell verfügbar sein. Noch war nicht ganz klar, von wem sie ursprünglich stammten, denn natürlich hatte auch Kubrick seine Agentenscharen.

Als Raphael und seiner Frau endlich klar wird, wer dahintersteckt, erinnern sie sich an einen Filmemacher, den sie 1972 auf einer von Stanley (noch ein Stanley) Donens Partys kennengelernt hatten. Raphael bewunderte „Wege zum Ruhm“ und bis zu einem gewissen Grad auch „Spartacus“, den Kubrick für Kirk Douglas drehte, seinen Hauptdarsteller aus „Wege zum Ruhm“. Raphael hingegen hatte immerhin einen Oscar errungen, für sein Drehbuch zu „Darling“ (1967), und er hatte ein witziges Skript für Donens „Two for the Road“ mit Audrey Hepburn und Albert Finney geliefert (der kaum je im Free-TV gezeigt wird).

Und nun sollte Raphael für das Filmgenie einen Kunstporno schreiben? Nun ja, sagt sich Raphael, es kommt drauf an, wie es gemacht wird. Doch genau da liegt der Hase im Pfeffer.

_Mein Eindruck_

Raphael hat seine detaillierten Schilderungen der Arbeit mit den Protokollen seiner Dialoge mit Kubrick aufgelockert. Da ruft meist der Regisseur an: „Freddie, stör ich gerade?“ Und Raphael verneint natürlich stets. Schließlich ist Kubrick der Auftraggeber. Doch obwohl dieser nach den ersten 40 Seiten entzückt über das Gelieferte ist, scheint der weitere Verlauf in eine andere Richtung zu gehen. Zunächst ist Raphael froh, ein absolut traditionelles Skript geliefert zu haben, das hohen Ansprüchen genügt. Nach einer Verschnaufpause meldet sich Kubrick wieder, um etwas anderes zu verlangen. „Schreiben Sie alles in Prosa und mit genauen Anweisungen.“ Also keine Dialoge.

|Vercingetorix vs. Caesar|

Das findet Raphael sehr merkwürdig. Und in der Tat kommt auch diese Version nicht gut an. Allmählich macht sich der Autor Sorgen über das, was zwischen ihm und Kubrick läuft. Was ist das für eine Art Verhältnis? Er zieht Parallelen und stößt – als Franzose – auf Gaius Julius Caesar und Vercingetorix, den letzten Feldherrn der Gallier. Dieser musste 52 v. Chr. bei Alesia kapitulieren, nachdem Caesar ihn wochenlang in seiner Bergfestung belagert und auch den Ersatz ausgesperrt hatte.

|Just like Sisyphos|

Immer weitere Änderungswünsche von Seiten Kubricks treiben Raphael, der ein kluger, intelligenter Mann ist, keineswegs in den Wahnsinn. Schließlich gibt es noch anderes und Wichtigeres auf der Welt, als für einen englischen Regisseur zu arbeiten. Doch nachdem das erste Jahr verstrichen ist, denkt Raphael das erste Mal an Sisyphos. Der griechischen Sage nach straften die Götter den überheblichen König, indem sie ihn einen Felsen einen Berg hochwälzen ließen. Sobald er fast den Gipfel erreicht hatte, ließen sie den Felsen wieder hinabrollen. Doch Sisyphos‘ Strafe dauerte ewig, und so musste er den Felsen wieder und wieder hochwälzen.

Allmählich kam sich Raphael wie ein moderner Sisyphos vor. „All diese Monate der Arbeit für Stanley wirkten wie Einzelhaft ohne den Trost des Alleinseins.“ (228) Er änderte hier, er änderte dort. Doch was bezweckte Kubrick mit diesen Änderungen? Warum konnte es ihm Raphael nie recht machen? Nach einer ganzen Weile kommt er zu einer Erkenntnis, dass es für ein Genie wie Kubrick ganz einfach notwendig ist, nichts zu akzeptieren, das man ihm fix und fertig vorsetzt. Er muss einfach alle Möglichkeiten austesten und Untaugliches eliminieren, bis er einen gangbaren Weg gefunden hat. Niemals darf sich ein Autor anmaßen, ihm vorzuschreiben, was er zu drehen habe.

|Der Prozess|

So kommt ein Prozess wie in einer Werkstatt in Gang. Vorsichtig besucht Raphael den Meister, seinen Meister und diskutiert, aber nicht rechthaberisch, sondern konziliant. Die meiste Zeit telefonieren sie, dargestellt in Dialogform. Das sieht mitunter recht komisch aus, mit einer Menge ironischer Untertöne. Sie erörtern die Situation eines jüdischen Menschen um 1900 und heute. Gibt es Unterschiede? Und wenn ja, welche? Welche Filme sind misslungen, welche gut? Heikle Fragen, doch Raphael spricht mit Kubrick auf der gleichen Augenhöhe. Er ist ein enorm gebildeter und auf der Höhe der Zeit befindlicher „homme des lettres“.

Während diese Dialoge kurzweilig zu lesen sind, sind es die – zum Glück wenigen – langen Passagen leider nicht, in denen sich der Autor Überlegungen darüber hingibt, in welcher psychologischen Lage sich er (Sisyphos, Vercingetorix) und Kubrick (Caesar, das Genie, die Diva, der Mann im Käfig) befinden. Danach sollte sich der Leser eine Ruhepause gönnen. Verschnaufen lässt sich auch bei Schilderungen der geschäftlichen Abläufe – ist der Scheck eingetroffen? – und der gesellschaftlichen Ablenkungen wie etwa Urlaub, Partys und Feiertage.

|Ein begnadeter Schweinehund|

Am interessantesten sind vielleicht Kommentare über Kubricks Filme: welche zum Beispiel als misslungen zu betrachten sind, wie Raphael meint. Dazu zählt er eindeutig „Lolita“ und wohl auch „Full Metal Jacket“. Zahlreiche Informationen über Schauspieler wie James Mason oder Kirk Douglas bleiben im Gedächtnis. Douglas, der Produzent von „Spartacus“, sagt auf der Rückseite des Buches: „Stanley Kubrick ist ein begnadeter Schweinehund.“ Voilà, ein Filmfan oder Cineast kann hier einige Funde machen. Über Cruise & Kidman wird man allerdings kaum ein Wort finden. Um die Dreharbeiten kümmerte sich der Autor nicht. Über diesen Aspekt gibt es andere Bücher.

_Unterm Strich_

„Eyes Wide Open“ ist keine populärwissenschaftliche Behandlung des Themas „Wie aus Schnitzlers ‚Traumnovelle‘ ein Kubrick-Film namens ‚Eyes Wide Shut‘ wurde“, auch kein rezensierendes Resümee von Kubricks Werk. Es handelt sich vielmehr um eine intellektuell anspruchsvolle Auseinandersetzung mit einem außergewöhnlichen Regisseur und dessen allerletztem Film. Cruise: „There will never be another Kubrick movie, ever.“

Die Sicht auf diesen zweijährigen Prozess ist durchweg subjektiv, sie kann auch nichts anderes sein. Dadurch aber erringt der Prozess eine menschlich anrührende Dimension: ein Zweikampf und Dialog, eine Auseinandersetzung und ein Austausch.

Der Leser wird Zeuge eines Dramas und eines Einfühlungsvorgangs, einer Analyse. Ob der Autor diesen Regisseur in seiner Gänze erfasst hat, darf bezweifelt werden, aber ich habe bislang keine tiefer schürfenden Analysen der Psyche des Genies Kubrick, des Menschen Stanley, gefunden. Insofern ist das Buch für mich eine Bereicherung gewesen. Aber ich möchte die Mühe nicht noch einmal aufbringen müssen, es zu lesen. Jedenfalls nicht so bald.

|Originaltitel: Speaking with Kubrick, 1999
Aus dem Englischen übersetzt von Johannes Sabinski.|