Reginald Hill – Mord auf Widerruf

Hill - Mord auf Widerruf Cover kleinDas geschieht:

Nicht von ungefähr kam Eileen Chung, Regisseurin am Kemble-Theater zu Mid-Yorkshire im Norden Englands, auf die Idee, in dem von ihr geplanten mittelalterlichen Mysterienspiel die Rolle Gottes mit Detective Superintendent Andrew Dalziel zu besetzen. Sein gewaltiges Ego, übertroffen nur vom Leibesumfang, und seine kaum vorhandenen Manieren werden vom Mid-Yorker Stadtklüngel und den eigenen Kollegen ertragen, weil Dalziel ein fabelhafter Polizist mit erstaunlicher Aufklärungsquote ist.

Dennoch überspannt er dieses Mal den Bogen. In schlafloser Nacht schaut Dalziel aus dem Fenster und wird Zeuge eines Mordes. Er stellt den Bauunternehmer Philip Swain mit rauchendem Revolver über der Leiche seiner Gattin Gail. Ebenfalls anwesend: Hausherr Gregory Waterson, der sich als Liebhaber der Verstorbenen entpuppt.

Dalziel nimmt Swain fest. Der Fall scheint klar, obwohl der Unternehmer leugnet. Seine Frau sei depressiv gewesen und habe Selbstmord begangen, so seine Aussage. Dumm für Dalziel, dass Waterson dies bestätigt. Der Superintendent rückt nicht von seiner Mordtheorie ab, nach der beide Männer sich abgesprochen haben. Aussage steht gegen Aussage. Selbst in Inspector Peter Pascoe, Dalziels rechter Hand und Freund, und dem treuen Sergeanten Wield steigen leise Zweifel auf. Steigert sich ihr Chef in eine fixe Idee hinein, die sogar ihn zu Fall bringen könnte?

Nebenbei beunruhigen auch die Briefe der „dunklen Lady“, die Dalziel anonyme Briefe schickt, in denen sie ihren baldigen Selbstmord ankündigt. Das Mysterienspiel wird alle Beteiligten zusammenführen. Neben Dalziel als Gott soll Waterson als Luzifer auf die Bühne treten – ein Streich des Schicksals, der den Superintendent erst recht erbost und anstachelt, worunter seine Leute und der brandneue Parkplatz der Polizeiwache heftig zu leiden haben …

Mord-Rätsel vor Mysterienspiel

Mid-Yorkshire ist auf den ersten Blick die typische Provinzstadt des englischen Landhaus-Krimis. Wir befinden uns in einer beschaulichen und überschaubaren kleinen Welt, bevölkert mit skurrilen oder exzentrischen Gestalten, die sich auch durch Mord & Totschlag nur marginal aus dem üblichen Trott werfen lassen. Doch riskieren wir lieber einen zweiten Blick, denn so einfach strickt Hill seine Krimis nicht: Tatsächlich ist Mid-Yorkshire eine moderne Schlangengrube, bevölkert von ehrgeizigen Politikern, skrupellosen Geschäftsmachern, korrupten Künstlern, die untereinander kräftig mauscheln und schieben.

Diese Filzokratie wird von Hill mit viel Sarkasmus bloßgestellt. Deshalb darf man sich auf das Hill-typische, d. h. fein gesponnene Vergnügen eines kniffligen Plots mit zahllosen Haken und Ösen freuen, das der Verfasser mit dem nötigen Ernst und trockenem Witz – Könnern gelingt es, beides zu verknüpfen – dargeboten wird. (Die Übersetzung ist dieser Herausforderung gewachsen.)

Weil Hills literarischer Spieltrieb stark ausgeprägt ist, erfolgt die Auflösung im Verlauf des finalen Mysterienspiels. Hinter diversen Masken kommt allerlei Unerwartetes zum Vorschein: ein großartiges Vexierspiel doppelter und dreifacher Täuschungen, das Hill hier entwirft, sowie ein würdiger Höhepunkt für einen wunderbaren Thriller, der mit einem unerwarteten, die eigentliche Aufklärung des Falles tragisch überschattenden Tragödie endet: kein angeklebter Twist, der eine Überraschung herbei zwingen soll, sondern die traurige Quintessenz einer bemerkenswerten Nebenhandlung.

Die Dampfwalze und das Skalpell

„Chef der Kripo von Mid-Yorkshire; der Dicke, das Ekelpaket, das Genie vom CID“: So stellt uns Reginald Hill Andrew Dalziel vor, der diesen Roman stilvoll von einer Liste der auftretenden Figuren einleitet – einer der vielen eleganten Scherze des belesenen Verfassers, der uns seine Geschichte als Freiluft-Schauspiel präsentiert, wie Eileen Chung es zu inszenieren gedenkt. Hill doppelt gern seine Handlung bzw. spiegelt sie spielerisch in diversen literarischen Formen und Vorbildern. So haben wir Dalziel bereits in einem früheren Leben als den sagenhaften Odysseus erlebt (s. „Das Haus auf der Klippe“), während ein anderer Fall (s. „Die rätselhaften Worte“) damit endet, dass ihn die Mordopfer im Jenseits klären; in „Der Tod und der Dicke“ wird er mit Gott persönlich um sein Leben schachern. Der leibhaftige Dalziel lehnt sich in Gestalt und Lebensart zudem eng an Shakespeares tragikomischen Falstaff an.

Dalziel balanciert haarscharf auf dem schmalen Grat zur Karikatur. Da ist es gut, dass uns Hill immer wieder an eines erinnert: Der Dicke kultiviert sein Image als grobianischer Bürgerschreck. Dahinter verbirgt sich ein hochintelligenter Skeptiker, der eingleisiges Denken sowie verkrustete Strukturen hasst, und ein komplexer, durchaus menschenfreundlicher, lebenslustiger Charakter. Um Dalziel wenigstens zeitweise aufs Glatteis zu führen, bedarf es schon eines besonderen Gegners. Hill findet ihn in Gestalt eines jämmerlichen Feiglings und Blenders, der indes kein Dummkopf ist und seinen unerbittlichen Verfolger immer wieder mit Finten und Hakenschlägen übertölpeln kann.

Für alle Fälle gibt es Peter Pascoe, den Hill deutlich realistischer zeichnet. Er leistet die Fußarbeit, während Dalziel sich klugerweise auf gelegentliche Auftritte beschränkt, sodass sich seine Figur nicht abnutzt. (Wenn wir in diesem Buch lesen, dass Pascoe nach einer Zwangspause von drei Monaten zum Dienst zurückkehrt, so bezieht sich das auf frühere Ereignisse, die in dem hierzulande bereits 1989 erschienenen „Unter Tage“ geschildert wurden und auch dem Hill-Fan nicht unbedingt präsent sind.)

Das Spiel mit der Wirklichkeit

Sergeant Wield kämpft weiterhin mit den Konsequenzen seines Outings. Ein homosexueller Polizist in der englischen Provinz darf sich keinen Beförderungswünschen hingeben. Die daraus entstehenden Konflikte sorgen in vielen weiteren Bänden der Dalziel/Pascoe-Serie für einen „human touch“, der mindestens ebenso wichtig wie die eigentliche Kriminalhandlung ist, ohne dabei in den für das Genre so typisch gewordenen Seifenoper-Trash abzugleiten.

Die „dunkle Lady“, welche hier natürlich nicht enttarnt werden soll, ist in das eigentliche Geschehen nicht verwickelt aber stets präsent, bis sie zu schlechter Letzt ihren dramatischen Auftritt hat. Sie lässt den Triumph der Gerechtigkeit schal werden, ohne dass dies einen Missklang in das ausgeklügelte Geschehen bringt. Die Lady bringt es selbst auf den Punkt: „I think also that our bodies are in truth naked. We are only lightly covered with buttoned cloth; and beneath these pavements are shells, bones and silence“, zitiert sie aus „The Waves“ der ebenfalls unglücklich geendeten Dichterin Virginia Woolf (1882-1941); die letzten drei Wörter bilden übrigens den eleganten englischen Originaltitel dieses Buches. In seiner deutschen Übersetzung trägt es gleich zwei Titel, die nicht nur banal klingen, sondern den Leser verwirren, der womöglich zu seinem Missfallen entdecken muss, denselben Roman zweimal erworben zu haben.

Autor

Reginald Hill wurde 1936 in Hartlepool im Nordosten Englands geboren. Drei Jahre später zog die Familie nach Cumbria, wo Reginald seine gesamte Kindheit verbrachte. Später studierte er an der University of Oxford und arbeitete bis 1980 als Lehrer in Yorkshire, wo er auch seine beliebte Reihe um die beiden Polizisten Andrew Dalziel und Peter Pascoe ansiedelte.

Deren Abenteuer stellen nur eine Hälfte von Hills Werk dar. Der Schriftsteller war fleißig und hat insgesamt mehr als 40 Bücher verfasst: nicht nur Krimis, sondern auch Historienromane und sogar Science Fiction. Einige Thriller erschienen unter den Pseudonymen Dick Morland, Charles Underhill und Patrick Ruell.

Erstaunlich ist das trotz solcher Produktivität über die Jahrzehnte gehaltene Qualitätsniveau. Dies schlug sich u. a. in einer wahren Flut von Preisen nieder. Für „Bones and Silence“ (dt. „Die dunkle Lady meint es ernst“ bzw. „Mord auf Widerruf“) zeichnete die „Crime Writers‘ Association“ Hill mit dem begehrten „Gold Dagger Award“ für den besten Kriminalroman des Jahres 1990 aus. Fünf Jahre später folgte ein „Diamond Dagger“. Reginald Hill lebte mit seiner Frau Pat in Cumbria. Dort ist er am 12. Januar 2012 den Folgen einer schweren Krankheit erlegen.

Taschenbuch: 556 Seiten
Originaltitel: Bones and Silence (London : HarperCollins 1990)
Übersetzung: Xenia Osthelder
http://www.droemer-knaur.de

eBook: 700 KB
ISBN-13: 978-3-426-41481-1
http://www.droemer-knaur.de

Der Autor vergibt: (5.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (1 Stimmen, Durchschnitt: 5,00 von 5)