Léone ist fünfzehn, sie ist ein hübsches Mädchen, lebhaft, frech und mutig, und sie ist verliebt. Zärtlich und leidenschaftlich verliebt – in Mélie – ihre Mitschülerin, die fünfzehn ist wie sie. Die Jungen verschmäht sie. Einer von ihnen stiehlt aus Wut und Eifersucht ihr Tagebuch, dem sie ihre geheimsten Sehnsüchte und Phantasien anvertraut hat, und entfesselt damit in der französischen Kleinstadt einen ungeheuerlichen Skandal… (Verlagsinfo)
Die Autorin
Régine Deforges (* 15. August 1935 in Montmorillon, Département Vienne; † 3. April 2014 in Paris) war eine feministische französische Schriftstellerin und Erotikliteratur-Verlegerin. Sie begann als Journalistin in Paris, bevor sie mit ihren Büchern „Zärtliches Tagebuch“ (rororo Nr. 4493) und „Der schwarze Milan“ (rororo Nr. 4926) als Autorin erotischer Romane Aufsehen erregte. (Wikipedia & Verlagsinfo)
Das Buch wurde 1992 von Christine Lipinska mit Elodie Bouchet verfilmt.
Biografischer Hintergrund
Schon früh wollte Deforges aus der Kleinstadt Montmorillon im Poitou weg, wo sie auf diverse katholische Schulen wie die École Saint-Martial geschickt wurde. Als sie 15 Jahre alt war, wurde ihr intimes Tagebuch gestohlen, das sie über ihre Liebesbeziehung zu einer gleichaltrigen Mitschülerin geführt hatte. Die Publikation verursachte einen Skandal.[1] Der 1978 erschienene Band mit Erzählungen, Le Cahier volé (wörtlich: Das gestohlene Heft, auf Deutsch verlegt mit dem Titel Zärtliches Tagebuch. Roman), macht diese Ereignisse von 1950/51 zum Thema. (Wikipedia.de)
Handlung
Leone liebt die blonde, schlanke Mélie und Mélie liebt ihre rothaarige Mitschülerin Leone. Beide Mädchen sind 15 Jahre jung und Schüler an der École Saint-Martial (s.o.) in ihrem kleinen Städtchen Montmorillon. Sie lieben es, ihre jungen Körper gegenseitig zu Ekstase zu treiben. Aber Leone ist auch neugierig darauf, wie es wohl mit einem Mann ist und trifft sich zu einem Stelldichein mit Jean-Claude. Der ist allerdings der 19-jährige Freund von Alain, der in Frauen generell eine untergeordnete Spezies sieht. Als er mit Leone tanzt, drängt sie sich an ihn, und prompt nennt er sie ein „Hürchen“ und „Flittchen“. Leone, die nicht ohne Grund von den Schülern als „Wildkatze“ verspottet wird, hört das gar nicht gern und rennt voll Wut weg. Sie wird bald wieder von Alain hören.
Das Verbrechen
Ihre Eltern werden nämlich alsbald zur Polizeiwache zitiert. Der Grund scheint Leone zu sein. Was hat sie jetzt wieder ausgefressen, will die Mutter wissen. Leone weiß es nicht. Und warum will ausgerechnet der Abbé Anzeige erstatten?! Da Leone noch minderjährig ist, werden ihre Eltern bestraft, sobald ein Urteil gesprochen worden ist. Urteil wegen was? Keiner rückt mit der Sprache heraus, so dass sich Leone noch einen Tag in Sicherheit wiegen kann. Oben ohne provoziert sie auf einer Bootstour ihren sittenstrengen Onkel, der wie erwartet gleich ausrastet. Wie lustig ist das denn!
Jean-Claude beschwert sich, dass Leone ihn zurückweist. Das nützt Alain aus, um Leone als Lesbe anzuprangern. Er treibt einen Keil zwischen sie und Mélie, zögert aber auch nicht, Leone einen Fausthieb zu verpassen. Wütend geht Leone nach Hause, Steine fliegen ihr an den Kopf. Ihr blutendes Haupt löst bei ihrer Mutter und der Großmutter, die bei ihnen wohnt, Entsetzen aus. Was soll noch werden? Ausgerechnet jetzt muss der Vater nach Afrika reisen, um sich dort für eine Stelle zu bewerben. Und als ihre Mutter zu Alain und seiner Mutter zur Fürbitte geht, wird sie verspottet und ausgelacht.
Entwendet
Leone will wieder mal in ihr Notizbuch schreiben. Hier legt sie ihre intimsten Gedanken nieder, hält sie ihre Gefühle für ihre geliebte fest, vergisst aber auch nicht, Gerüchte festzuhalten. Das letzte Notizbuch fehlt! Sie hatte gedacht, das Versteck in einer Vase auf dem Dachboden sei sicher. Falsch gedacht. Das Grinsen auf dem Gesicht ihrer Schwester Catherine ist verräterisch genug. Aber Catherine hat die Kladde gar nicht mehr. Einer der älteren Jungs habe sie genommen und so sei sie bei Alain gelandet. Nun wird Leone einiges klar.
Alain stellt ihr auf Anfrage ein Ultimatum: Sie bekäme das Notizbuch zurück, wenn sie Jean-Claude heirate und sich bei ihm, Alain, entschuldige. Leone weigert sich zunächst, doch als Alain eine öffentliche Notizbuch-Lesung in einem Café anberaumt, sieht sie ein, dass sie einen Gang nach Canossa machen müssen. Sie bittet ihn untertänigst um das Notizbuch. Alains Mutter sieht sie finster an, als sei sie eine Hexe und gehöre auf den Scheiterhaufen. Doch Alain verlangt im Gegenteil noch die anderen vier Notizbücher. Von denen weiß er also auch!
Inzwischen ist es Herbst. Der Sommer, von dem Leone so viel Schönes für sie und Mélie erwartet und der mit Blut und Schrecken geendet hatte, ist vorüber. Trübe Novembertage ziehen übers Land und Weihnachten rückt näher. Mélie darf Leone nicht mehr sehen, also geht sie zu ihr. Papa ist zurück und sagt, er könne die Stelle in der Elfenbeinküste antreten und wolle seine Familie mitnehmen. Mélies Vater, ein gebildeter Mann mit großem Ansehen, redet mit Alain und seiner Mutter und bewirkt nahezu ein Wunder.
Alain und seine Mutter bringen endlich das gestohlene Notizbuch zurück. Doch Leone freut sich zu früh. Die Bedingung für die Rückgabe lautet, dass Leone alle ihre Notizbücher verbrennen müsse, auch das gestohlene…
Mein Eindruck
Leone, die Erzählerin, ist das Opfer, doch alle tun so, als wäre sie eine Verbrecherin. Nicht nur das: Sie muss wohl auch eine Hexe, mit dem Teufel im Bunde und eine teuflische Verführerin der unschuldigen Mélie sein. Schon ihr rotes Haar weist sie als Teufelsbrut aus, und dazu kommen noch ihre lesbischen Aktivitäten. „Abstoßend! Schmutzig!“, hört Leone ihre eigene Mutter sich entrüsten. Dabei war es doch ihre Mutter selbst, die ihr, Leone, so viele Freiheiten gelassen hat, dass sie „über die Stränge schlug“. Wie verlogen kann man als Erwachsener eigentlich werden, fragt sich Leone.
Freiheitskampf
Ihr Kampf um Selbstbehauptung und Freiheit wird mit harten Bandagen gekämpft. Sie bekommt nicht nur Steine an den Kopf geworfen, sondern auch eine Flasche über den widerspenstigen Schädel geschlagen. Auf dem Jahrmarkt wird sie von den Frauen zusammengeschlagen. Diese äußere Gewalt wird begleitet von innerer Gewalt: Sie wird der Schule verwiesen und auf dem Gymnasium abgewiesen. Selbst ihre ehemaligen Mitschüler, die sich ihre Freunde nannten, wollen oder dürfen nicht mehr mit ihr reden.
Doppelmoral
Doch Leone lässt sich nicht unterkriegen. Allmählich geht ihr ein Licht auf. De eigentliche Grund, warum man sie so demütigt, ist nicht ihre abweichende Sexualität, sondern vielmehr die Bloßstellung ihrer Mitbürger. Da hat eine Ehemann seine Frau mit einer anderen betrogen, ein Mann hat heimlich einen anderen Mann getroffen und so weiter. Es sind diese beschämenden Geheimnisse, die nun ans Licht kommen, die sie, quasi als Whistleblowerin, an den Pranger bringen. Folgerichtig landet nicht sie selbst auf einem Ersatz-Scheiterhaufen, sondern ihre Notizbücher. Denn in denen könnten ja noch viel schlimmere Indiskretionen stehen. Merke: Es sind nicht die Eide und Gelöbnisse, die eine Gemeinschaft zusammenhalten, sondern ihre Geheimnisse. Und in diesem Punkt gedenkt sich Leone bitter zu rächen. (Die Autorin schrieb 480 Seiten Autobiographie.)
Der Schauplatz
Es ist, wie oben erwähnt Anfang der fünfziger Jahre, als für Leone die Jugend abrupt endet und das Erwachsenendasein beginnt. Viele Male verweist Leone als Erzählerin auf Parallelen und Analogien aus jener versunkenen Ära. So erwähnt sie auf die Angriffe der befreiten Franzosen auf die sogenannten Kollaborateure. Besonders die Frauen unter diesen Opfern wurden gedemütigt, etwa indem man ihnen den Schädel kahlrasierte.
Es ist immer noch, als befände sich das Dorf unter der deutschen Besatzung und müsse ganz besonders moralisch integer sein. Das scheint besonders die Kirche und ihre Vertreter zu betreffen: Der Abbé und die Nonnen von der Schule brandmarken Leone und verstoßen sie. Die Frauen schließen sich dem unverzüglich an, mit Ausnahme von Leones Mutter und Mélies Mutter. Sie wollen offenbar jede, die nicht mit ihrer eigenen katholischen Moral konform geht, bestrafen und dann verstoßen. „So eine“ soll keinen Sohn einen „rechtschaffenen“ Mutter heiraten dürfen. Bemerkenswert, dass die Männer an dieser moralischen Bewegung gegen ein Mädchen kaum teilnehmen, es sei denn, sie seien Amtsträger.
Naturkind
Diese schrecklichen Vorgänge, die die Erzählerin minutiös und bewegend berichtet, finden in der denkbar idyllischsten Landschaft statt, die man sich vorstellen kann. Hier im westfranzösischen Poitou gibt es keinerlei Industrie, und die Gegend ist vor allem für ihren Käse berühmt. Leone kann sich problemlos am Fluss ausstrecken und oben ohne sonnen, wo keiner sie sehen kann (außer dem fiesen Onkel). Sie genießt die lebendige Natur und begreift ihren Körper als einen Teil davon: lebendig, wachsend, voller Energie. Kein Wunder also, dass sie die Freuden, die ihr das Liebesspiel mit dem eigenen und Mélies Körper spendet, genießen will. Doch das ist eine Freiheit, die manchen Leuten offenbar ein Dorn im Auge ist, als sie davon in ihrem Tagebuch lesen.
Die Übersetzung
Ich konnte nur einen Fehler finden:
S. 111: „Philos[o]phieregal“. Das O fehlt.
Unterm Strich
Ich habe dieses spannende, fesselnde und anrührende Buch in nur wenigen Stunden verschlungen. Es ist die lebhafte Schilderung des Befreiungskampfes einer jungen Frau, die bevorzugt eben ein anderes Mädchen liebt. Dabei fiel mir immer wieder auf, wie deplatziert doch die Illustration auf dem Cover ist. Die beiden Grazien mit dem verträumten Blick sind das genaue Gegenteil der beiden Freundinnen, die im Buch um ihr leben und ihre Freiheit kämpfen müssen.
Auch der deutsche Titel selbst führt den Leser in die Irre, denn er suggeriert die Preisgabe schlüpfriger „Stellen“ lesbischer Liebe. Die gibt es zwar sehr kurz auch, aber das gemeinte Tagebuch ist viel stärkerer Toback: Es ist die Chronik einer unfreiwilligen Whistleblowerin. Hinter dieser romantischen Aufmachung steckt das PR-Konzept, aus allem, das Anstoß erregen könnte, etwas Romantisches und somit Harmloses zu machen. Diese Aufmachung macht das Buch zu einer Mogelpackung.
Doch es zählt der Inhalt, und der lässt so gar nicht als schlüpfrige Ansammlung leckerer Sexszenen goutieren. Vielmehr stößt der Leser hier auf den Freiheitskampf einer jungen Frau, die von einer bigotten Gesellschaft ausgegrenzt, gebrandmarkt und schließlich vertrieben wird. Selbstbehauptung und Vergeltung sind fortan die Ziele der jungen Heldin. Mit einer Art „Scheiterhaufen“ muss sie durch Verbrennen ihrer Notizbücher nicht nur sich selbst demütigen, sondern auch einen großen Teil ihrer Kindheit und Jugend auslöschen, also ihre bisherige Identität. Für so ein schmales Büchlein ist diese Geschichte eine großartige Leistung.
Taschenbuch: 126 Seiten
Originaltitel: Le cahier volé
Aus dem Französischen von Ulrike Wiesenmeyer.
ISBN-13: 978349914496x
www.rowohlt.de
Der Autor vergibt: