Reichs, Kathy – Knochenarbeit

Sie ist eine viel beschäftigte Frau, diese Temperance Brennan: Als Dozentin lehrt sie Anthropologie an der Universität von Charlotte in North Carolina, einem der US-amerikanischen Südstaaten, in den Semesterferien arbeitet sie als forensische Anthropologin für die Provinz Quebec, d. h. am gerichtsmedizinischen Institut der kanadischen Metropole Montréal – jedes Mal eine Reise von mehr als 2000 Meilen. Als bekennender Workaholic nimmt Frau Doktor aber auch dazwischen noch allerhand Knochenarbeit an. Gerade gräbt sie z. B. für die Erzdiözese Montréal nach den Überresten der wohl- und womöglich wundertätigen Ordensschwester Maria, die Anfang des 20. Jahrhunderts verstarb und nun zur Heiligsprechung ansteht.

Aber schon bald ruft wieder die Alltagspflicht. In St. Jovite, einem Vorort von Montréal, ist ein Wohnhaus in einem wahren Höllenfeuer niedergebrannt. In den ausgeglühten Trümmern findet die Polizei die Leichen von sieben Menschen, die sämtlich schon tot waren, als der Brand gelegt wurde, um die Bluttaten zu vertuschen. Unter den Opfern sind auch zwei Säuglinge, die nicht „nur“ ermordet, sondern regelrecht geopfert wurden: Man hat ihnen die Herzen herausgeschnitten. Treiben womöglich Satanisten ihr Unwesen im kalten Winter Nordamerikas? Dr. Brennan holt sich Rat bei einer Spezialistin. Daisy Jeanotte ist Professorin für religiöse Studien an der örtlichen Universität. Ihr Fachwissen ist enorm, ihr Verhalten merkwürdig. Ihren studentischen Hilfskräfte ist sie unumschränkte, gefürchtete Herrin. Einige von ihnen, die Jeanottes Unwillen erregten, scheinen sogar spurlos verschwunden zu sein.

Inzwischen steht für Tempe Brennan ein neuer Lehrturnus in Charlotte an. Wie es der Zufall will, stolpert sie während eines Wochenendausflugs mit Tochter und Freunden über zwei neue Leichen. Die Polizei identifiziert sie mit Brennans Hilfe als Mitglieder einer obskuren Sekte, die offensichtlich ihre Abtrünnigen nicht ziehen zu lassen gedachte. Bald stellen sich sogar Verbindungen zum Massenmord von Montréal heraus. Anscheinend plant die nordamerikaweit operierende Sekte nach dem Vorbild der Schweizer Sonnentempler den kollektiven Selbstmord. Professor Jeanotte scheint das heimliche Oberhaupt zu sein. Die Zeit läuft den Ermittlern davon. Ganz besonders betroffen ist Tempe Brennan, die feststellen muss, dass die eigene Schwester der Sekte beigetreten und inzwischen ebenfalls verschwunden ist. Ein Wettlauf mit der Zeit und mit dem Tod beginnt, dessen Regeln die Sektenfanatiker festlegen, denen jedes Mittel recht ist, sich den Weg ins Jenseits notfalls zu erzwingen …

Zum zweiten Mal lassen Kathy Reichs und Temperance Brennan (die reale Person geht nahtlos in die fiktive Figur über, wie wir weiter unten erfahren werden) wieder Knochen sprechen. Das mag der Purist als allzu ernstes, geradezu anrüchiges Thema für die Feierabend-Lektüre werten; er (oder sie) sei an dieser Stelle verabschiedet und auf die Lagunen-Schmachter der Donna Leon verwiesen.

Wer nicht so zart besaitet ist, sich aber ein gesundes Maß kindlicher Neugier bewahren konnte, erlebt einen nicht gerade realistischen, aber höchst turbulenten, an alten und frischen Leichen reichen Thriller vor der eindrucksvollen Winterkulisse Kanadas. Während die Handlung vom Leser hier und da fordert, sich mit einem Knüppel kräftig auf den Kopf zu schlagen, um so die gar zu offensichtlichen Löcher besser ignorieren zu können, lässt sich Verfasserin Reichs das Heft nicht mehr aus der Hand nehmen, sobald sie ihr eigentliches Reich der Gräber, Mordschauplätze und Leichenhallen betritt. Hier kennt sie sich aus, hier stimmt jedes Detail, und es lässt sich nicht leugnen: Der Tod ist ein faszinierendes Thema, so lange es nicht der eigene ist.

In den Lesegenuss mischen sich leider mehr als nur ein paar Wermutstropfen. Da ist zum einen der allzu gekünstelte Plot. An einem Ende der Stadt gräbt Tempe Brennan eine potenziell heilige Nonne aus, während am anderen Sekten-Strolche losschlagen. Die Nichte einer der lebenden Ordensschwestern ist Adeptin dieser Sekte und arbeitet für genau jene Hochschul-Dozentin, die Tempe bei ihren Nachforschungen über Schwester Marie befragt. Aus dem Süden reist Tempes Schwesterlein an, die gerade von besagter Sekte rekrutiert wurde. Diese treibt ihr mörderisches Unwesen auch in den USA und „versteckt“ – hübsch schlampig, damit die Entdeckung nur ja gelingt – ihre gemeuchelten Untertanen exakt dort, wo Tempe das amerikanische Lager ihres Nomadenlebens aufschlägt. Damit wird das Phänomen des Zufalls ein wenig zu heftig strapaziert. Tatsächlich wollen sich die Subplots dieses Romans im Finale gar nicht recht zu einer Geschichte mischen lassen, deren Auflösung den Leser wirklich zufrieden stellt. Dass die im Mainstream-Thriller der Gegenwart obligatorischen, Reichs aber nicht gerade gelungenen und aufgesetzt wirkenden Seifenoper-Elemente (wirrköpfige Schwester, eigensinnige Tochter, liebeskranker Kollege etc.) verwässern die Handlung zusätzlich.

Ein weiterer Kritikpunkt richtet sich gegen den plakativen, nein inflationären Einsatz aufdringlicher Gewalt- oder Ekeleffekte. Auf dem Markt des modernen Kriminalromans bilden die Leichenhallen-Thriller nur eine kleine Nische, die inzwischen recht gut besetzt, vielleicht sogar überbelegt und daher heiß umkämpft ist. Neben Patricia Cornwell, der Königin dieses Subgenres (Kay Scarpetta), warten z. B. auch Nigel McCrery (Sam Ryan) oder Sharyn McCrumb (Elizabeth MacPherson) regelmäßig mit Pathologen-Spektakeln auf. Da ist es nicht leicht, die Konkurrenz auszustechen. Nicht von ungefähr werden die Schilderungen immer bizarrer und drastischer. Das ist durchaus vergnüglich, denn seit jeher ist die Leichenhalle die natürliche Heimat des schwarzen Humors. Aber Reichs übertreibt es, indem sie auf Nummer Sicher gehen will. Von religiösen Fanatikern herausgeschnittene Herzen scheinen ihr nicht genug zu sein – es müssen auch noch kleine Kinder die Opfer sein. Damit schreiben sich die entsprechenden Szenen wie von selbst, und Entsetzen und Wut und damit die ungeteilte Aufmerksamkeit des Lesers stellen sich ebenfalls automatisch ein. Aber das ist ein billiger, unredlicher Trick, der in einem reinen Unterhaltungsroman wie „Knochenarbeit“ nichts verloren hat.

Über Leben und Werk der Kathy Reichs informiert eine geradezu opulente Website: http://www.kathyreichs.com – hier gibt es sogar eine Einführung in die Welt der pathologischen Anthropologie. (Ich verweise besonders auf den Link „HBO’s Interactive Autopsy“, der uns zu einer Website bringt, auf der Dr. Michael Baden uns das Privileg gönnt, der digitalen Zerlegung eines Menschenkörpers beizuwohnen; wem das zu theoretisch bleibt, darf sich des reichen Farbfoto-Materials einer richtiger Sektion erfreuen.) Die erfolgreiche Schriftstellerin scheint ein Workaholic zu sein; sie schreibt ihre Thriller, während sie weiterhin ihrem ohnehin aufreibenden Vollzeit-Job als Mitarbeiterin des „Office of the Chief Medical Examiner“ in North Carolina und des „Laboratoire de Sciences Judiciaires et de Medecine Legale“ in Quebec nachgeht und außerdem als Dozentin für die Fachbereiche Soziologie und Anthropologie an der Universität von North Carolina-Charlotte lehrt (von ihren zahlreichen Auslands-Einsätzen – z. B. im afrikanischen Ruanda, wo sie die Knochenlager diverser Völkermorde untersuchte – oder ihrer Beratertätigkeit für das FBI ganz abgesehen); diese Parallelen lassen vermuten, dass Reichs Recherche-Zeit spart, indem sie die Figur der Tempe Brennan sehr dicht am eigenen Leben ausrichtet. Dieser Trick versagt allerdings, wenn es darum geht, nackte Fakten mit einer durchdachten Handlung zu einem wirklich überzeugenden Roman zu kombinieren, zu dem sich „Knochenarbeit“ trotz aller Bemühungen nur bedingt fügen will.