Remy, Maurice Philip – Mythos Bernsteinzimmer

Ein kundiger Blick auf das Bernsteinzimmer bzw. den Mythos, der sich nach dessen von Geheimnissen umwitternden Verschwinden in den letzten Tagen des II. Weltkriegs darum entwickelt hat, präsentiert in fünf Kapiteln:

„Spuren“ (S. 7-18) leitet mit der aktuellen Geschichte des Bernsteinzimmers ein. Um die Jahrtausendwende schien es, als ob dieser Schatz nicht nur noch existiere, sondern die Wiederentdeckung unmittelbar bevorstehe. Plötzlich tauchten diverse Bestandteile des komplexen Meisterwerks auf dem (schwarzen) Kunstmarkt auf und fügten dem bizarren „Nachleben“ des Bernsteinzimmers ein neues Kapitel an. Alte und neue Legenden schossen ins Kraut – für Maurice Philip Remy der Anstoß den Versuch zu wagen, den Mythos zu entkleiden und dahinter die Realität zum Vorschein zu bringen.

Er beginnt mit der gesicherten Geschichte: „Das Kunstwerk“ (S. 19-74) zeichnet den Weg des Bernsteinzimmers nach: Entstanden um 1705 im Auftrag des Preußenkönigs Friedrichs I., schmückte es die Wände des Schlosses Charlottenburg. Sein sparsamer Sohn, der „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I., schenkte es mit diplomatischen Motiven dem Zaren Peter I., der es einlagern ließ, bis es seine Tochter und Nachfolgerin Katharina die Große endlich einbauen ließ. 1755 landete es in ihrem Sommersitz in Zarskoje Selo, dem Zarendorf vor den Toren von St. Petersburg. Dort blieb es und verfiel allmählich, überlebte den Untergang des Zarenreiches und den Bildersturm der Bolschewisten

„Der Ortswechsel“ (S. 75-136) rekonstruiert den letzten Weg des Bernsteinzimmers. 1941 fiel es nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion den Nazis in die Hände, die es in die Ordensburg von Königsberg, der Hauptstadt Ostpreußens, schafften. Dort verliert sich in den Wirren der letzten Kriegswochen 1945 seine Spur. Die viel versprechenden Fährten greift der Verfasser auf, der die lückenhaften, einander oft widersprechenden Belege so interpretiert, dass die Bernstein-Kleinodien mit dem Königsberger Schloss zu Grunde gingen.

„In eigener Sache“ (S. 183-202) nennt Remy das letzte Kapitel, in dem er seine eigene Verwicklung in die „Geschichte“ des Bernsteinzimmers nach 1945 darlegt. Seine Erlebnisse, Fehlschlüsse und Erkenntnisse spiegeln die bizarre „Schatzsuche“ wider, die seit sechs Jahrzehnten von gestandenen Historikern, Lokalpolitikern, Träumern und Spinnern betrieben wird. Jeder versunkene Nazibunker, jeder gesprengte Stollen, jeder staubige Keller zwischen St. Petersburg und den Alpen wurde ausgegraben und durchwühlt – vergeblich, da vom originalen Bernsteinzimmer nur der Traum geblieben ist. Der ist freilich unverwüstlich.

Ein ausführlicher Anhang listet Fußnoten auf und legt die Quellen offen, aus denen Autor Remy schöpfte. Ein nützliches Register fehlt ebenso wenig wie ein Abbildungsverzeichnis und eine Karte. Zahlreiche, oft großformatige und farbige Abbildungen – moderne und zeitgenössische Fotos, Wiedergaben alter Stiche, Karten etc. – illustrieren den Text und ergänzen ihn gleichzeitig.

Das Bernsteinzimmer ist also dahin – wer dieses Buch liest, wird daran kaum mehr zweifeln – solange er oder sie sich offenen Geistes dem heiklen Thema widmen möchte oder kann. Wie der Titel des hier vorgestellten Buches deutlich macht, ist das Bernsteinzimmer nicht nur ein historisches Kunstobjekt hohen Ranges. Mehr noch ist es inzwischen ein Mythos geworden, von dem viele Mitmenschen nicht lassen können oder wollen. So schön ist es gewesen, dass es einfach nicht zerstört sein d a r f.

Die Wirren der Vergangenheit kommen dieser Sichtweise entgegen. Obwohl das Zimmer erst vor sechs Jahrzehnten verschwand, geschah dies auf eine Weise, die praktisch jeglicher Spekulation Tür & Tor öffnet. Dazu kommen die geeigneten Finsterlinge: die Nazis, hier verkörpert durch den dämonischen Gauleiter Erich Koch und seine Schergen. Aber auch in den Jahrhunderten zuvor tummelte sich allerlei Prominenz in den geschnitzten Bernsteinwänden. Friedrich Wilhelm I. von Preußen, sein Sohn – der „Alte Fritz“ -, Peter der Große, Katharina die Große – gekrönte Häupter und zwielichtige Gestalten verkörpern lebendige Geschichte sowie den Hang des Menschen zum romantischen Goldfieber!

Die historische Realität sieht weniger glanzvoll aus. Das prächtige Bernsteinzimmer wurde quasi auf Sand erbaut – Material sparend schnitt man den kostspieligen Bernstein in Scheiben und klebte ihn ganz prosaisch auf Gipsplatten. Außer hui, innen pfui, denn für das raue Klima Preußens oder gar Russlands war solch’ filigrane Kunst definitiv zu empfindlich. Schon kurze Zeit nach Fertigstellung fing das schöne Werk zu bröckeln an, was es fortan bis zu seinem Untergang fortsetzte. Die Ironie dabei: Das Bernsteinzimmer, das 1945 verschwand, war längst nicht mehr das Bernsteinzimmer von 1705 – man hatte es bereits mehrfach zur Gänze restaurieren müssen und dabei ständig verändert.

Nicht einmal eine Spitzenposition unter den Meisterwerken der Kunstgeschichte wollte man ihm zubilligen. Die Zeitgenossen gingen jeweils recht rüde mit dem Bernsteinzimmer um. Erst als es verloren war, wollte es jede/r haben. Dabei weiß Remy anschaulich zu machen, dass es egal ist, ob es nun verbrannt ist oder in einem Versteck überdauert hat: Feuchtigkeit und Kälte haben ihm ohne ständige Pflege längst den Garaus gemacht. Doch die Beweise für die Vernichtung im Königsberger Schloss sind überzeugend. Remy hat sich die Mühe gemacht, hinter Gerüchte und Legenden zu blicken. Vor allem ging er an die Originalquellen und förderte dabei Erstaunliches zutage. Es sind halt doch nicht alle Unterlagen verschwunden. Man muss sie nur suchen – und finden wollen! Dann verkünden sie die traurige Wahrheit, dass das Bernsteinzimmer nicht mehr existiert.

Was wiederum auch nicht stimmt: Im Katharinenpalast zu Zarskoje Selo kann es seit 2003 in seiner vollen Pracht besichtigt werden. Mehrere Jahre der Planung, der Arbeit und der Finanzkrisen hat es gekostet, aber dann war es wiedererstanden: das neue Bernsteinzimmer, eine Eins-zu-eins-Kopie des Originals, das selbst die meiste Zeit so großartig nicht ausgesehen hat.

Doch weiterhin wird viel Zeit und Geld in die Suche nach dem „richtigen“ Zimmer investiert. Jeder Strohhalm wird ergriffen. Ist Schliemanns Schatz von Troja, ebenfalls 1945 verschwunden, nicht unlängst unversehrt in russischen Museumsarchiven zum Vorschein gekommen? Ist das nicht der „Beweis“ dafür, dass es dem Bernsteinzimmer ebenso ergangen ist? Und so geht die Jagd weiter – mit neuen komischen und tragischen Kapiteln, die sich nahtlos an die Historie und die Histörchen reihen, die Verfasser Remy mit bewundernswerter Sachlichkeit zu präsentieren weiß.

Maurice Philip Remy wurde 1962 in München geboren. Nach Abitur und dem Studium der Kommunikationswissenschaften leistete er Pressearbeit für das Volkstheater München und arbeitete als freier Journalist. Später wechselte er zum Dokumentarfilm, wurde Redakteur, Aufnahmeleiter, dann Redaktionsleiter bei „Top Video Film- und Fernsehproduktion“. Der nächste Schritt: Remy schrieb und inszenierte selbst. Ihm verdanken wir u. a. Episoden unsterblicher (bzw. nicht umzubringender) TV-Dauerbrenner wie „Vorsicht Kamera“ und „Verstehen Sie Spaß?“

Für das Öffentlich-Rechtliche Fernsehen dreht Remy aber auch historische Dokumentationen, wobei er seine Themen meist im Umfeld des „Dritten Reiches“ und des II. Weltkriegs findet. Darüber hinaus veröffentlichte Remy diverse Publikationen; neben „Mythos Bernsteinzimmer“ die Bücher „Mythos Rommel“, „Mythos Widerstand“ und „Dimension PSI“.