Ruth Rendell – Dunkle Wasser

Das geschieht:

Kingsmarkham ist eine Kleinstadt in der britischen Grafschaft Sussex. In diesem Spätherbst haben sintflutartige Regenfälle den Kingsbrook und die anderen Flüsse über die Ufer treten lassen. Ganze Landstriche versinken in den Fluten, ein Ende der Wolkenbrüche ist nicht abzusehen. Auch dem Haus von Chief Inspector Reginald Wexford droht die Überflutung. Der Kriminalist ist daher abgelenkt, als dem Dezernat für Kapitalverbrechen ein seltsames Vorkommnis gemeldet wird: Die Geschwister Giles (15) und Sophie (13) Dade sind verschwunden. Ebenfalls vermisst wird Joanne Troy, eine Freundin der Familie, die ein Auge auf sie halten sollte.

Während Vater Roger, ein strenger und humorloser Mann, das Verschwinden seiner Kinder vor allem als Ärgernis zu betrachten scheint, verfällt Mutter Katrina der Hysterie und vermutet Sohn und Tochter irgendwo ertrunken in den Hochwasserfluten. Ein bei der Suche angeschwemmtes Shirt von Sophie könnte dies bestätigen, aber Wexford glaubt eher an eine Entführung.

Der Geschäftsmann Peter Buxton entdeckt auf seinem weitläufigen Landgut ein gutes Stück außerhalb von Kingsmarkham in einem Steinbruch ein abgestürztes Auto, dem ein verdächtiger Gestank entweicht. Aber Buxton fürchtet um seinen Ruf und beschließt, die Polizei außen vor zu lassen. Als er sich endlich eines Besseren besinnt, ist diese Spur längst so kalt wie die Leiche von Joanna Troy, die in dem Wagen gefunden wird.

Sind die Kinder wirklich entführt worden? Giles ist Mitglied der obskuren „Church of the Good Gospel“, die mit pathologischem Eifer der Sünde nachspürt. Joanne war ausgesprochen sündig, wie Wexford und seine Leute herausfinden. Hat Giles sie zur Rechenschaft gezogen, wie es ihn gelehrt wurde? Ist er dann geflohen, begleitet von seiner Schwester, die womöglich von ihrem Vater missbraucht wurde ,,,?

Hochwasser & niedere Gelüste

Was nach der Inhaltsangabe die solide Variante eines urbritischen Kriminalromans zu sein scheint, entpuppt sich bei der Lektüre als etwas schwammige Mischung aus Krimi und Psychothriller. Weil Ruth Rendell als Meisterin des Letzteren gilt, vergehen viele Seiten darüber, das Denken und Handeln der Figuren zu analysieren. Das geht dort in Ordnung, wo es der Geschichte dienlich ist. Leider schießt die Autorin oft und im Finale auf jeden Fall übers Ziel hinaus.

Die Ausgangssituation ist eine Krise. Kingsmarkham steht unter Wasser, was Rendell Stoff für ausführliche Stimmungsbilder liefert und tatsächlich für Atmosphäre sorgt. Fragt sich nur wofür, da die Flut mit der eigentlichen Handlung erst nur am Rande und bald schon gar nichts mehr zu tun hat.

Die Verfasserin verliert das Interesse an den dunklen Wassern, deren Bedeutsamkeit ohnehin nur der deutsche Titel suggeriert. Rendell geht es um anderes: „Die Kinder im Wald“ nannte sie selbst ihr Werk. Damit meint sie zum einen die Dade-Brut, die Opfer und Täter eines Familiendramas sind, das sich in einem der im englischen Krimi so beliebten abgelegenen Landhäuser abspielt. Hier läuft Rendell zu großer Form auf. Was zunächst eine vom Schicksal verfolgte brave Familie zu sein scheint, entpuppt sich nach und nach als Höllenpfuhl unbewältigter Konflikte, enttäuschter Hoffnungen und Lügen.

Familien & Fundamentalisten

Wie eine Seuche breitet sich dies über Handlung und Figuren aus. Rendell führt geradezu Buch darüber, wie viele Ehen im Laufe ihrer Geschichte zu Bruch gehen. Überall tun sich Abgründe auf, die so tief klaffen, dass sich Inspektor Wexford und sein Team immer wieder in die Rolle des Psychotherapeuten gezwungen sehen, statt normaler Polizeiarbeit nachzugehen.

Ob die Verfasserin von diesen Routinen besonders viel versteht, muss bezweifelt werden. Noch einmal: „Dunkle Wasser“ ist kein „Police Procedural“, sondern lotet lieber seelische Abgründe aus. Das gilt als schwierig und wird von der Literaturkritik höher bewertet. Es kann aber auch leichter schief gehen. Hier ist es die Auflösung der verwickelten Geschichte, die eher für Stirnrunzeln als für Überraschung sorgt.

Die ‚anderen‘ Kinder im Wald müssen buchstäblich als deus ex machina den Kopf hinhalten. Eine fundamentalistische Sekte versammelt sich zu merkwürdigen ‚Reinigungsriten‘, die vor allem dem bösen Teufel Weib gelten. Überrascht es, dass die Finger dieser gehirngewaschenen Spinner tief im Getriebe unserer Geschichte stecken? So tief, dass Rendell ihre offensiv abstoßend frömmelnden Unsympathen tauglich für einen Finaltwist findet, der das rekonstruierte Geschehen quasi binnen weniger Absätze über den Haufen wirft: Ätsch, eigentlich war alles ganz anders!

Klappt nicht wirklich, weil der Fall bereits zufriedenstellend und logisch gelöst war. Nun verrät Rendell um des Effekts willen die eigene Geschichte. Sehr ärgerlich, zumal die Verfasserin hier offensichtlich versucht, ‚modern‘ zu wirken. Das hat sie bereits versucht, als sie Wexford im Verhörduell mit Sophie Dade schilderte. Ergebnis: die übliche peinliche Konfrontation altmodischer, die Welt nicht mehr verstehender Erwachsener mit abgebrühten, offenbar außerirdischen oder mindestens eine fremde Sprache sprechenden Teenies, wie sie uns der deutsche Fernsehkrimi gern zumutet. (Die deutsche Übersetzung schlägt hier ein eigenes Kapitel peinvoller Jungsprech-Plattheiten auf.)

Fast eine Familie – oder besser

Die Mittelmäßigkeit des Kriminalplots ist bedauerlich, weil Rendells Figurenzeichnungen fast durchweg überzeugen und unterhalten. Das betrifft den Entwurf diverser Ehepaare, Familien, Individuen in der Krise. Die manchmal unheilvollen Mechanismen des menschlichen Zusammenlebens hat die Autorin im Griff, auch wenn sie gern dogmatisch urteilt. So wirkt ein ausgedehnter Handlungsstrang, der sich um Wexfords in einer unglücklichen Beziehung gefangenen Tochter Sylvia dreht, wie einem Handbuch über prügelnde Männer und paralysierte Frauen entnommen.

Erfreulich liest sich die Interaktion der Polizisten um Inspektor Wexford. In den vier Jahrzehnten, die es auf Verbrecherjagd geht, hat sich das Team verändert. Geblieben ist der treue Michael Burden, der längst vom geplagten Untergebenen zum gleichgestellten Kollegen und Freund befördert wurde. Mit an Bord sind für die notwendige Fußarbeit inzwischen Sergeant Barry Vine und – die Gleichberechtigung hat sowohl die englische Polizei als auch den Kriminalroman erreicht – Constable Lynn Fancourt. Sobald diese Personen auftreten, strömen die „Dunklen Wasser“ gleichmäßig der Auflösung entgegen. Rendell kennt ihre alten Kämpen in- und auswendig. Perfekt trifft sie den Ton zwischen professioneller Kollegialität und freundschaftlicher Verbundenheit.

Das tröstet über Flaches hinweg. Mit Religion hat Rendell offenkundig wenig am Hut. Wexford ist Atheist und stellt das gleich mehrfach heraus. Intensiv gelebter Glauben ist für die Verfasserin vor allem wider die menschliche Natur und folglich eine Quelle allgemeinen Ungemachs. Angesichts der Gefahr, die von fehlgeleiteter Frömmigkeit ausgeht, kann man Rendell Recht geben. Die Schilderung der „Church of the Good Gospel“ weist nichtsdestotrotz ärgerliche Klischees auf.

„Dunkle Wasser“ liest sich flüssig, kann aber nicht wirklich zufriedenstellen. Weiterhin wirkt der Wexford-Zauber, aber er dient zunehmend dem Zweck, die Mattigkeit des Krimi-Plots auszubügeln. In diesem Fall schlägt das Finale trotzdem arge Falten. Nach 19 Wexford-Episoden bedeutet das angesichts einer weiterhin produktiven Schriftstellerin nicht das Ende der Welt: Es kann beim schon nächsten Mal wieder besser werden.

Autorin

Ruth Rendell wurde 1930 in South Woodford/London geboren. Sie arbeitete zunächst als Journalistin, bevor sie sich als Schriftstellerei selbstständig machte. Hier schreibt sie als Ruth Rendell die seit vier Jahrzehnten bei Kritik und Publikum ungemein beliebten Inspektor-Wexford-Romane. Unter dem Pseudonym „Barbara Vine“ verfasst Rendell serienungebundene Bücher, die weg vom klassischen Krimi eher psychologisch die menschlichen Abgründe ausloten.

Rendell hat bisher mehr als fünfzig Romane sowie unzählige Kurzgeschichten vorgelegt. Ihr erstaunliches Arbeitstempo geht mit einer bemerkenswerten Niveaustabilität einher. Nicht nur Verlage und Medien feiern sie deshalb als „Königin der Kriminalliteratur“. Auch ihre Kolleginnen und Kollegen zollen ihr Anerkennung: Allein drei Mal wurde Rendell mit einem „Edgar Allan Poe Award“ ausgezeichnet. Königin Elizabeth II., die auch einen guten Krimi schätzt, hat sie in den Adelsstand erhoben. Dame Ruth Rendell lebt und arbeitet in London.

Taschenbuch: 448 Seiten
Originaltitel: The Babes in the Wood (London : Hutchinson/The Random House Group Limited 2002)
Übersetzung: Eva L. Wahser
http://www.randomhouse.de/goldmann

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