Robert B. Parker – Doppeltes Spiel. Ein Fall für Jesse Stone (Band 9)

Zwischen Liebe und Doppelmoral: Chief Stone gegen die Sexschwestern

Cheryl ist von zu Hause abgehauen. Für eine 18-Jährige nichts Ungewöhnliches. Gefährlich wird es, als die junge Frau aus gutem Hause Zuflucht bei der »Kirche der Erneue­rung« sucht. Der charismatische Sektenführer verspricht seiner Gefolgschaft das Paradies auf Erden. Zwischenzeitlich haben Cheryls Eltern die Privatdetektivin Sunny Randall damit beauftragt, ihre Tochter aufzuspüren und nach Hause zu bringen, aber Cheryl möchte nicht zurück. Doch dann geht dem Guru das Geld aus, und er zwingt die jungen Frauen zur Prostitution. Hier kommt Jesse Stone ins Spiel. Zugleich hat er es mit zwei geheimnisvollen Zwillingen zu tun, die der besseren Gesellschaft angehören. Aber warum passieren so viele Verbrechen in ihrer Nähe? (Verlagsinfo)

Der Autor

Der US-Autor Robert B. Parker, geboren 1932, gehörte zu den Topverdienern im Krimigeschäft, aber auch zu den fleißigsten Autoren – er hat bis zum seinem unerwarteten Tod im Januar 2010 über 50 Romane veröffentlicht. Am bekanntesten sind neben der Spenser-Reihe wohl seine etwa acht Jesse-Stone-Krimis, denn deren Verfilmung mit Tom Selleck in der Titelrolle wird gerade vom ZDF gezeigt. Der ehemalige Professor für Amerikanische Literatur Robert B. Parker lebte mit seiner Frau Joan in Boston, Massachusetts, und dort oder in der Nähe spielen viele seiner Krimis.

Jesse-Stone-Krimis:

1) Night Passage (1997)
2) Trouble in Paradise (1998)
3) Death in Paradise
4) Stone Cold (2003)
5) Stranger in Paradise (2008)
6) Sea Change
7) High Profile
8) Night and Day
9) Split Image

Die Sunny-Randall-Reihe:
1) Family Honor
2) Perish Twice
3) Shrink Rap
4) Melancholy (2004)
5) Blue Screen (2006)
6) Spare Change (2007)

Die Spenser-Reihe (die bei weitem umfangreichste)
1) Widow’s Walk
2) Potshot
3) Hugger Mugger
4) Walking Shadow
Und viele weitere.

Außerdem schrieb Parker ein Sequel zu Raymond Chandlers verfilmtem Klassiker „The Big Sleep“ (mit Bogart und Bacall) und mit „Poodle Springs“ einen unvollendeten Chandler-Krimi zu Ende. „Gunman’s Rhapsody“ ist seine Nacherzählung der Schießerei am O.K. Corral mit Wyatt Earp und Doc Holliday, ein klassischer Western.

Handlung

Polizeichef Jesse Stone erhält Besuch von der Bostoner Privatdetektivin Sunny Randall, der er in Liebe zugeneigt ist. Auch ihr Privat- und Liebesleben ist nicht einfach: Während sich seine Ex Jenny aus dem Staub gemacht hat, hat Sunnys Ex Richie von seiner neuen Frau einen Sohn geschenkt bekommen und ist total happy. Das baut Sunny nicht unbedingt auf, wenn sie daran denkt, was hätte sein können. Hoffentlich bringt die Psychotherapie bei Dr. Susan Silverman etwas mehr Licht in Sunnys Problem.

Unter Patriarchen

Doch deswegen ist Sunny nicht nach Paradise gekommen: Sie hat den Auftrag, eine junge Frau namens Cheryl DeMarco alias Markham zu suchen und zurückzubringen, die sich offenbar einer religiösen Sekte angeschlossen hat – oder entführt worden ist. Die Sekte hat in Paradise ihr Hauptquartier und trägt den hochtrabenden Namen „Bund der Erneuerung“, angeführt von einem „Patriarchen“. Soweit Jesse weiß, hat die Sekte bislang keinen Ärger gemacht.

Sunny macht sich auf den Weg, um Cheryl zu ihren Eltern zurückzubringen. Doch es stellt sich heraus, dass sich die junge Frau im Schoß ihrer neuen Kirche vollkommen wohlfühlt. Sie denkt gar nicht daran, zu ihren Eltern zurückzukehren. Sunny kehrt unverrichteter Dinge zu den Eltern zurück. Diese sind jedoch überhaupt nicht niedergeschmettert, sondern sagen bloß, sie würden die Sache in die eigenen Hände nehmen, bevor sie die Detektivin entlassen. Am nächsten Tag ist Cheryl spurlos verschwunden…

Unter Ganoven

Unterdessen findet Jesses Mitarbeiter Luther „Suit“ Simpson im Kofferraum eines am Dammweg zwischen Paradise und der Paradise-Insel abgestellten Wagens einen sehr toten Mann. Dessen Führerschein – mit kriminologischem Know-how im Handschuhfach gefunden – weist die Leiche als die von Petrov Ognowski aus. Laut Captain Healy von der Staatspolizei handelt es sich dabei um einen Knochenbrecher, der sowohl für Francis „Knocko“ Moynihan als auch dessen Schwager Reggie Galen arbeitete, die beide früher Dreck am Stecken hatten. Und die wohnen jetzt beide nebeneinander auf dem exklusivsten Fleckchen des exklusiven Paradise. Was geht dort vor?

Sowohl Galen als auch Moynihan sagen, sie wüssten von nichts. Petey konnte keiner Fliege etwas zuleide tun, glaubt man ihnen oder ihren verblüffend ähnlich aussehenden Gattinnen, die Schwestern Roberta und Rebecca. Kein Wunder: Robbie und Becky sind eineiige Zwillinge. Sie kleiden sich nicht nur identisch, sondern schminken sich auch so, dass man sie glatt verwechseln kann. Vielleicht ist das der Sinn der Sache, fragt sich Chief Stone, als er Galen und Moynihan besucht.

Am nächsten Tag wird Knocko Moynihan tot am Paradise Beach aufgefunden, ein unschönes Loch im Kopf. Sein Leibwächter Ray Mulligan ist verschwunden, so dass der Verdacht sofort auf diesen fällt. Doch Stone ist vorsichtig mit solchen Vorverurteilungen. Als ein Riese in sein Büro stürmt, nehmen die Dinge eine dramatische Wendung. Der Riese ist der Vater von Petrov Ognowski und die hübsche Frau neben ihm ist Natalya, Ognowskis Witwe: Sie suchen den Mörder, um ihn für den Mord bezahlen zu lassen.

Nun hat Stone alle Hände voll zu tun, um sowohl einen Lynchmord zu verhindern als auch eine entführte Sektenangehörige zu finden. Schnell fangen die Dinge, aus dem Ruder zu laufen…


Mein Eindruck

Das Motiv der jungen Frau, die sich einer Sekte anschließt, hat Parker bereits 1984 in seinem Spenser-Krimi „Valediction“ („Spensers Abschied“) erfolgreich verwendet. Dort hatte sich allerdings noch eine Querverbindung zwischen dem Sektenführer und dem organisierten Verbrechen ergeben. Das ist in „Doppeltes Spiel“ nicht der Fall, weshalb man sich fragen kann, warum die beiden Ermittlungen parallel zueinander herlaufen. Der Grund ist einfach: Auf diese Weise bekommt Sunny Randall wieder Kontakt zu Jesse Stone, und beider Privat- und Seelenleben (beide sind in Therapie) profitiert davon.

Außerdem ist das Grundthema dieses Romans Liebe in all ihren Erscheinungsformen. Sunny und Jesse vertreten die geschlechtliche, erwachsene Liebe, Cheryl und ihre Eltern die missratene Kind-Eltern-Liebe. Die Ognowskis stehen für die Vater-Sohn- und eheliche Liebe. Die Beziehung zwischen dem Schläger Norman Salerno und der Witwe Natalya Ognowski ist sowohl käufliche Liebe als auch Racheakt, denn sie sucht den Mörder ihres Mannes.

Der Patriarch meint, er vermittle Cheryl und ihres Sektenangehörigen göttliche Liebe und Spiritualität, doch es stellt sich heraus, dass er dabei auf Abwege geraten ist: Daraus wurde verratene und verkaufte Liebe. Sunny nimmt sich Cheryls an und spannt als Aufpasser ihren Kumpel Spike ein, der die homosexuelle Liebe vertritt (und dabei sehr maskulin auftritt).

Die Bang-Bang-Schwestern

Der eigentliche Clou dieses Romans und die Rechtfertigung für seinen interessanten Titel sind jedoch die beiden Zwillingsschwestern Roberta und Rebecca. Nach außen hin vermitteln sie – wie auch Cheryls Eltern und der Patriarch – das Image der Wohlanständigkeit. Auf den ersten Blick stellen sie für Jesse Stone den Inbegriff der hingebungsvollen Gattin dar, die ihren Mann verwöhnt. Aus Neid darauf und Frust darüber, dass ihm Jenny dies nicht mehr gab, trinkt sich Jesse ins Koma. Kein gutes Zeichen, sondern eine Warnung. Zum Glück hat er Mitarbeiter wie Molly Crane, die ihn als fähigen Polizisten lieben – auch eine Form der Zuneigung – und für ihn eine Notlüge erfinden, bevor er den Fernsehkameras gegenübertreten muss.

Zurück zu den Zwillingen. Da es keinen offensichtlichen Mörder für Knocko Moynihan gibt, geht Jesse wie gewohnt vor: Er bohrt in der Vergangenheit der nächsten Verwandten, und das sind nun mal die beiden Schwestern. Sie stammen aus dem wohlhabenden Hempstead bei Boston, Töchter eines zwielichtigen Bauunternehmers und einer tiefgläubigen, aber begüterten Mutter, die sie auf ein katholisches College schickte. Klar, dass sie dort zu rebellieren anfingen.

Als Jesse mit Simpson den Polizeichef von Hempstead besucht und nach den Moynihans fragt, verweist dieser ihn an seinen Neffen Mike. Der ging mit den beiden Schwestern zur Schule. Schon damals waren sie als die Bang Bang Twins bekannt und bei den Jungs beliebt. Denn sie trieben es nicht nur wild, sondern auch gemeinsam. Der Junge musste raten, mit wem er es gerade getan hatte – und wehe, er lag falsch! Dann lachten sie ihn aus. Am College trieben sie das gleiche Spiel. Und Jesse würde einen Monatslohn verwetten, dass sie es immer noch treiben – liegen doch ihre Häuser direkt nebeneinander. Es stellen sich viele Rätsel. Diesen muss Jesse auf den Grund gehen. Auf die Gefahr hin, von den Schwestern ein höchst unmoralisches Angebot zu bekommen…

Tabubruch

Der Original-Titel des „Split Image“ bezieht sich sowohl auf die Doppelmoral und Fassade der Figuren, auf die Jesse und Sunny stoßen, als auch auf die Zwillinge, die moralisch wie auch körperlich ein doppeltes Abbild präsentieren. Lässt sich Jesse wirklich hinters Licht führen? Er fragt seinen Psychotherapeuten Dix, was hinter der Sexualität der Zwillinge stecken könnte. Dix fördert Erstaunliches zutage: Inzest. Ebenfalls eine Form der Liebe, diese Geschwisterliebe, und eines der größten Tabus unserer Gesellschaft. Parker erstaunt mich mit seiner Tabubehandlung immer wieder.

Unterm Strich

Nur für den Parker-Kenner, der das ganze Oeuvre des Meisters aus 38 Jahren überblickt, ergibt sich ein Deja-vu-Erlebnis, weil Parker mit der jungen Frau, die sich einer Sekte anschließt, ein Motiv wiederverwendet, das er schon 1984 in „Valediction“ einsetzte. Andererseits hat Parker schon aus Prinzip mehrere seiner Figuren wieder auftreten lassen, so etwa April Kyle und Spensers Ziehsohn Paul Giacomin. Sehr schön finde ich, dass er hier Sunny Randall und Jesse Stone zusammengebracht hat. Sie erinnern sich zweimal unter Kichern an ihren Sex-Stunt in einer Nobel-Boutique auf dem Rodeo Drive in Los Angeles (erzählt in dem 5-Sterne-Krimi „Blue Screen“).

Das Generalthema des Krimis ist die Liebe in all ihren Erscheinungsformen. Sie hat mit der Doppelmoral einer puritanischen Gesellschaft in Neu-England zu kämpfen, die auf Wohlanständigkeit bedacht ist, hinter der Fassade aber einen Sumpf aus Amoralität und Egozentrik verbirgt. So schreckt Cheryls Vater keineswegs davor zurück, seine eigene Tochter entführen und in eine Besserungsanstalt stecken zu lassen, wo man sie unter Beruhigungsmittel setzt, als wäre sie der Insasse einer Irrenanstalt.

Selbst eine Sekte ist für Parker nichts Ehrwürdiges oder Nobles, sondern wie so häufig das egozentrische Unternehmen eines Anführers, der mit seinen „Schäfchen“ macht, was er will, beispielsweise Prostitution. (Dieses Motiv hat Parker in „Valediction“ bitterböse umgekehrt.) Den Vogel in Sachen Doppelmoral schießen zweifellos die Bang Bang Twins Roberta und Rebecca ab. Aus den katholischen Zöglingen ist ein sexhungriges Pärchen geworden, das mit den Männern seiner Umgebung Spielchen treibt – tödlich endende Spielchen.

Parker hat das Kunststück versucht, viele disparate Entwicklungen, Motive und Ereignisse in seinem Roman angemessen zu behandeln. Meisterlich versteht er es, die Verknüpfungen herbeizuführen und parallele Handlungsstränge zu führen. Der kurz nach seinem Tod – er starb im Januar 2010, der Roman erschien im Februar – veröffentlichte Krimi bietet auch eine Menge Emotionen und Humor auf.

Die Human-touch-Story um Cheryl DeMarco gleicht die harte Ermittlung um die Gangster in Paradise einigermaßen aus. Dennoch waren mir homogene Romane wie „Blue Screen“ (Sunny Randall 5) oder „Verfolgt in Paradise“ (Jesse Stone 8) lieber: Sie warten entweder mit einem emotionalen Drama auf oder mit einem humorvoll-ironisch dargebotenen sozialen Drama. Und nicht mit einem Mischmasch aus beidem.

Taschenbuch: 301 Seiten
ISBN-13: 978-3865325495

www.pendragon.de

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