Robert B. Parker – Tod im Hafen. Ein Fall für Jesse Stone

Porno, Video, Mord: verhängnisvolle See

Die Leiche einer geschiedenen Millionenerbin aus Florida wird an den Stränden von Paradise, Massachusetts, angespült. Nachdem die Identität der von Meeresgetier verunstalteten Frau festgestellt worden ist, beginnt Chief Jesse Stone die perversen Geheimnisse des Opfers zu entdecken – und die einer Vergangenheit, die jeden, der sie kannte, in ein verdächtiges Zwielicht rückt, von ihren Freunden bis hin zu ihrer Familie. Leider ist keiner bereit zu reden, und so ist es Stones Aufgabe, für die Tote zu sprechen. Was er zu sagen hat, gefällt ihm mit jeder Wendung der Ermittlung immer weniger …

Der Autor

Der US-Autor Robert B. Parker, geboren 1932, gestorben 2010, gehörte zu den Topverdienern im Krimigeschäft, aber auch zu den fleißigsten Autoren – er hat bis zum seinem unerwarteten Tod im Januar 2010 über 50 Romane veröffentlicht. Am bekanntesten sind neben der Spenser-Reihe wohl seine etwa acht Jesse-Stone-Krimis, denn deren Verfilmung mit Tom Selleck in der Titelrolle wird gerade vom ZDF gezeigt. Parker lebte in Boston, Massachusetts, und dort oder in der Nähe spielen fast alle seine Krimis.

Jesse-Stone-Krimis:

1) Night Passage (1997, „Das dunkle Paradies“)
2) Trouble in Paradise (1998, „Terror auf Stiles Island“)
3) Death in Paradise (2001, „Die Tote in Paradise“)
4) Stone Cold (2003, „Eiskalt“)
5) Sea Change (2006, „Tod im Hafen“)
6) Stranger in Paradise (2007)
7) High Profile (2008)
8) Night and Day (2009)
9) Split Image (2010)

Handlung

PROLOG

Es ist bereits Nacht geworden, als das Segelboot Anfang Juni vor der Bucht von Paradise, Massachusetts, kreuzt und an Stiles Island entlanggleitet. Florence Horvath ist mit der Person am Steuer allein an Bord, um einen schönen Tag mit ihr zu verbringen und sich auszusprechen. Sie soll etwas an der Reling überprüfen, und sie begibt sich hin. Da vollführt die Person ein Wendemanöver, der Mastbaum trifft Florence am Körper, sie fällt über Bord.

Obwohl es dunkel ist, kann sie doch die Lichter des Bootes sehen, sobald sie wieder auftaucht. Sicher nur ein Unfall, und die Person wird sie gleich wieder an Bord holen, oder? Doch als das Boot zurückkehrt, dreht es nicht bei, sondern pflügt Florences Körper geradewegs unter Wasser …

HAUPTHANDLUNG

Mehrere Wochen später beginnt im Juli die Paradise Rennwoche, die jährliche Segel-Regatta in Paradise. Sie dauerte früher mal zwei Wochen, eine für die kleinen Boote, die zweite für die großen Jachten. Doch seit einigen Jahren dauert sie vier Wochen, und die Segler nehmen die Gelegenheit wahr, sich zu besaufen, die Sau rauszulassen und aus Paradise einen Saustall zu machen.

Die Leiche

Kaum hat Chief Jesse Stone ein paar junge Typen wegen ihres Urinierens in einen städtischen Brunnen in die Ausnüchterungszelle gesteckt, als er von der Frauenleiche erfährt, die im Hafenbecken angespült wurde. Weil die Meerestiere sie angeknabbert haben, lässt sie sich nicht identifizieren. Wenig später meldet ein Liegeplatzvermieter ein fremdes Boot, und an Bord dieses Bootes findet sich der Führerschein der Unbekannten: Florence Horvath. Sie stammt aus Fort Lauderdale bei Miami, Florida.

Auf seine Bitte hin nimmt Kelly Cruz, eine Polizistin, die Ermittlung dort auf. Und Captain Healy von der Mordkommission der Staatspolizei von Massachusetts hilft ihm, weil Stone nur so eine kleine Dorftruppe hat. Cruz stellt sich als erstaunlich fähig heraus. Florence E. Horvath stammt aus einer Milliardärsfamilie, der eine Handelskette von Bioläden gehört. Ihr Geburtsname lautete Florence Plum. Sie hat zwei Geschwister, Corliss und Claudia, die nach Angaben der Eltern in Europa herumreisen.

Das Video

Und Cruz schickt Stone eine Videokassette mit brisantem Inhalt: einen Heim-Porno. Dieses Video habe sie in Florences Wohnung in Fort Lauderdale gefunden. Es zeigt Florence beim Sex mit zwei Männern zugleich. Sie bilden ein sogenanntes Sandwich. Die Frau schaut der Kamera direkt in die Linse – sie will, dass ihr Gesicht zu sehen ist. Was Chief Stone aber mehr interessiert: Wo, wann und von wem wurde dieses Vdeo gedreht?

Zum Glück braucht Stone nur zwei und zwei zusammenzuzählen. Die Millionenerbin kam wahrscheinlich an Bord einer Segeljacht aus Florida nach Paradise, mit einem ebenso betuchten Kapitän. In der Liste der an der Regatta teilnehmenden Boote finden sich nur drei Kandidaten, und die klappert Stone nacheinander ab. An Bord der Jacht von Harrison Darnell kommt es zu einem Zwischenfall.

Der Playboy

Der weithin als Playboy bekannte Besitzer der „Lady Jane“ weigert sich, den Cops den Zutritt zu den Räumen unter Deck freizugeben. Stone lässt ihm Handschellen anlegen und schaut sich dennoch kurz um. Er bemerkt die Sitzbank mit den gelben und blauen Streifen, die er auf dem Video gesehen hat – und einen Messingaffen. Dessen langer Schweif ist auf dem Video ebenso zu sehen. Nun braucht Stone nur noch eine Gelegenheit, um das Boot genauer unter die Lupe zu nehmen. Die gegenwärtige „Mätresse“ Darnells bestätigt Stones Verdacht: Florence Horvath war an Bord. Doch was stieß ihr zu – Unfall oder Mord – und von wem?

Die Schwestern

Unerwartet tauchen die beiden 20-jährigen Zwillingsschwestern der Toten bei ihm auf. Corliss und Claudia Plum sind bildhübsch, aufreizend gekleidet – und strohdumm. Sie bewegen sich nicht etwa wie angegeben in Europa, sondern in den gleichen Kreisen wie Florence, hier an der amerikanischen Ostküste, auf Partys, wo es viel Koks gibt und noch mehr Sex.

Als sie behaupten, sie wollten herausfinden, wer Florence auf dem Gewissen habe, gibt er ihnen die Nummer von Staatsanwältin Rita Fiore (mit der Stone schon mal ein paar Nächte verbracht hat), die die beiden Schnepfen an einen bekannten Privatdetektiv in Boston weitervermitteln könne (Stone denkt an Spenser). Allerdings wird nichts aus der Sache, denn sie weigern sich, den Namen des Verdächtigen rauszurücken, den der Detektiv suchen soll. Das ist natürlich wenig hilfreich.

Allerdings verplappern sie sich und verraten den Namen derjenigen Person, durch die sie überhaupt von Florences Tod erfahren haben wollen: Kimmie Young. Diese frühere Jugendfreundin will von den zwillingen nichts mehr wissen und erweist sich in Kelly Cruz’ Ermittlungen als Goldgrube, allerdings auch als Fährte ins Herz der Finsternis …

Mein Eindruck

Was läge für den Polizeichef eines Hafenstädtchens näher, als auf Verbrechen an Bord von Booten zu stoßen? Das dürfte auch den Leser nicht verwundern. Was jedoch das Besondere an diesem Fall ausmacht, ist die vielfältige Art der Verbrechen. Dass an Bord eines Bootes ein Porno gedreht wird – na, wenn schon? Dass der Bootsbesitzer sämtliche Räume an Bord verkabelt hat und die Fahrgäste heimlich beim Duschen, Ausziehen und Vögeln filmen lässt, das ist ja nichts Ungesetzliches. Heikel und relevant wird die Sache erst, als eine Minderjährige (also unter 16 Jahren) aus Paradise vergewaltigt und dabei gefilmt wird. Das gibt Jesse Stone einen Anlass, gegen den Täter einzuschreiten.

Herz der Finsternis

Aber Stone hat die Chance, einen viel dickeren Fisch zu fangen: Er könnte diesen Bootsbesitzer – Harrison Darnell oder seinen Playboy-Kumpel Tom Ralston – auch wegen Mordes an Florence Horvath drankriegen. Das ist er dem Opfer schuldig. Doch erstens kommt es anders und zweitens als man denkt: Die Ermittlung, die Kelly Cruz vorantreibt, führt zu weitaus überraschenderen Ergebnissen als der Fall der vergewaltigten Minderjährigen. In Fort Lauderdale findet Jesse endlich seinen Mörder. Mehr darf nicht verraten werden.

Jesse hat ein echtes Problem mit den Sexorgien an Bord der Playboy-Jachten. Nicht etwa, weil die Superreichen und ihre Tussis auf ihn an Dorfpolizist („Provinzdödel“ lautet die charmante Bezeichnung) herabblicken, wie sie es nun mal tun, sondern weil in den Aktivitäten an Bord regelmäßig Mädchen verwickelt sind, die dazu verführt werden: Ausreißerinnen, Abenteurerinnen, aber auch brave Dorfmädchen aus Paradise. Kelly Cruz deckt eine ganze Szene bzw. Industrie für diese Aktivitäten auf, bei denen nicht bloß Pornos gedreht werden und Kokain geschnupft wird. Es kommen auch Menschen dabei um.

Falltüren

Wurde mir allmählich schon ein wenig mulmig angesichts dieser Erkenntnisse Stones, so öffnet sich im Anschluss eine Falltür nach der anderen, als sich Stone der beiden Schwestern von Florence annimmt. Corliss und Claudia haben weitaus mehr Dreck am Stecken, als sie zugeben würden: Sie waren es, die das Pornovideo mit ihrer Schwester gedreht haben – und finden das auch noch sehr witzig. Aber worin der Zweck dieser Übung bestand und wem Florence es zuschickte, verschweigen sie hartnäckig. Als Jesse es ihnen sagt, brechen sie zusammen. Was haben sie zu verbergen und wovor haben sie Angst?

Die furchtbare Geschichte der drei Plum-Geschwister gelangt schließlich an einen Punkt, an dem ich tatsächlich Angst vor weiteren entsetzlichen Enthüllungen hatte. Die Spirale des Grauens war schon weit fortgeschritten, aber die Wahrheit über Florences Tod immer noch nicht erreicht. Dieser Spannungsbogen bleibt bis zum Schluss erhalten. Bemerkenswert gestaltet Parker diesen Moment: Stone und Cruz lassen das erdrückende Schweigen, in das sie sich hüllen, so lassen wirken, bis sich die beiden Plum-Eltern gegenseitig befragen.

Gegenbewegung

Der einzige Grund, warum diese zunehmend finsterer werdende Geschichte erträglich ist, besteht in dem positiv aufsteigenden Handlungsstrang um Jesse und seine Exfrau Jenn, die wieder bei ihm eingezogen ist. Die beiden scheinen sich wieder zu verstehen. Seit Jesse regelmäßig zum Psychotherapeuten Dix (im TV-Film von Filmlegende William „Familiengrab“ Devane gespielt) geht, traut Jenn ihrem Ex auch zu, dass er nicht wieder dem Alkohol verfällt und schlimme Dinge tut. Nur hat Jesse damit ein Problem: Kann er seiner Exfrau, die ihn schon mehrfach betrogen hat, überhaupt noch vertrauen? Dix bringt ihn in einer bemerkenswerten Sitzung dazu, selbst zur richtigen Erkenntnis zu gelangen.

Die Übersetzung

Bernd Gockel sorgt auch diesmal dafür, dass sich die geschichte wie von selbst liest. Er ersetzt das Original mit so vielen idiomatischen Redewendungen, dass sich der Text wie deutsche Umgangssprache liest. Allerdings kann es auch ins Auge, wenn er nämlich mal das falsche Sprachbild wählt. Ein Polizeichef, der „mit Akten nichts am Hut“ hat, ist nicht etwa einer, die damit nichts zu tun hat, sondern einer, der darauf keine Lust hat. Aber die Wirkung dieses Idioms hängt vom jeweiligen Sprachgefühl des Lesers ab.

S. 15: „so sensibel wie ein Stacheltier“. Der Haken an diesem Vergleich ist, dass „Stacheltier“ eine generische Bezeichnung ist: Es gibt eine Klasse von Stacheltieren. Das macht den Vergleich abstrakt anstelle von konkret. Viel besser wäre es daher, „Stachelschwein“ zu sagen. Das ist dann wieder konkret, und jeder Leser kann sich etwas darunter vorstellen.

S. 76: Es ist OK, wenn „das Heck [eines Bootes] an einer Klampe“ mittels eines Taus festgemacht wird. (Merke: Hier wird Seglersprache gesprochen!) Aber es ist nicht so toll, wenn der Übersetzer „vertauen“ statt dem korrekten „vertäuen“ schreibt.

Unterm Strich

Die TV-Version reicht nur im Ansatz an die Qualität dieser Vorlage heran. Das Buch gehört mit Sicherheit zu den besten Stone-Krimis, die Parker veröffentlicht hat, und für mich hat der Krimi die volle Punktzahl verdient. Er ist enorm spannend, menschlich anrührend und weckt wie kein anderer Parker-Krimi, den ich kenne, ein tiefes Grauen, wie es nur ein guter Horrorroman vermag. Denn alle drei Plum-Schwestern sind Opfer, auch wenn sie als leichtlebige Partygirls auftraten und Sex nur zum Vergnügen betrieben. Doch wird ihre Fassade erst einmal durchbrochen, erweisen auch sie sich als menschliche Wesen, voll Angst und Schrecken.

Das den Roman durchziehende Thema ist die Frau als Objekt und als Subjekt. Als Objekt wird sie zu einem Stück Fleisch degradiert, das im Sex seine Erfüllung findet – und das auf Pornos leicht konsumier- und kommerziell verwertbar wird. Die drei Plum-Schwestern gehören zu dieser Kategorie, aber auch viele Blondinen, die Stone auf den Yachten antrifft. Als Subjekt tritt JennStone auf, eine liebende und geliebte Frau, die sich eine eigene Existenzgrundlage schafft statt sich von älteren Männern aushalten zu lassen.

Die traurige Geschichte, die der Roman erzählt, wäre nicht auszuhalten, gäbe es nicht Anlass zu Hoffnung und Amüsement. Jenn ist zu ihrem Exgatten Jesse Stone zurückgekehrt und darf nicht bloß als Wetterfee auftreten, sondern diesmal sogar eine richtige Reportage über die Regatta drehen. Dabei liefert sie Jesse einen wertvollen Hinweis: einer der beiden Männer vom Pornovideo ist an Bord der „Lady Jane“.

Und der Polizeichef kabbelt sich wie stets mit seinen zwei Lieblingskollegen, dem ehrgeizigen Suit Simpson und der resoluten Molly Crane, einer Mutter von drei Kindern. Molly Crane ist eine der besten Nebenfiguren, die Parker je erschaffen hat. Sie ist das moralische Gewissen der geschichte und als Frau von den Vorgängen selbst betroffen. Als weibliche Polizistin steht sie Stone in allen Verhören von weiblichen Bürgern Paradises zur Seite. Absolut köstlich ist die Szene, in der die beiden „Bad cop, good cop“ spielen.

Nebenhandlung

Dies ist auch der erste der Stone-Krimis, in dem mindestens ein Drittel der Handlung nicht von Stone & Co. bestritten wird, sondern von einer hinzugezogenen Hilfskraft. Die Polizistin Kelly Cruz macht allerdings in Fort Lauderdale einen so guten Job, dass sie Stones Ermittlung eine entscheidende Wendung verleiht.

Am Schluss, als Stone sie endlich mal trifft, lobt er sie in den höchsten Tönen – was bei einem Melancholiker wie ihm stets ein wenig gedrückt klingt. Wegen dieser Kooperation verwundert es nicht, dass Jesse, über die Vermittlung von Anwältin Rita Fiore, auch mit dem privatdetektiv Spenser Teamarbeit leistet, einem weiteren von Parkers Serienhelden. Allerdings wird Spensers Name nie genannt.

Sprachliche Hinweise

Der Titel des Originals lautet „Sea Change“. Das englische Wort „sea change“, das Shakespeare erfand, bezeichnet eine profunde oder merkliche Transformation.

Der Bootsname „Lady Jane“ ist ein sehr versteckter, aber für Kenner umso schlüpfrigerer Fingerzeig auf den Charakter des Bootsbesitzers Harisson Darnell. Denn „Lady Jane“ ist spätestens seit Anfang des 20. Jahrhunderts als Umschreibung für das weibliche Geschlechtsteil bekannt; das männliche wurde als „John Thomas“ umschrieben. Die beiden Namen bilden den Titel von D. H. Lawrences Roman „John Thomas und Lady Jane“, der eine frühe Fassung seines 1916 indizierten Klassikers „Lady Chatterley’s Liebhaber“ darstellt.

Der Autor vergibt: (5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Broschiert: 328 Seiten
Originaltitel: Sea Change (2006)
Übersetzt von Bernd Gockel.
ISBN-13: 978-3865324160

www.pendragon.de