Verzeihung oder Rache, Erinnern oder Vergessen
England, 1660. König Karl II. erlässt mit einer Akte der Verzeihung ein Generalpardon. Ausgenommen sind die Königsmörder, jene Hochverräter, die das Urteil zur Enthauptung seines Vaters Karl I. unterzeichnet haben. Dazu gehören auch die Oberste Whalley und Goffe, die im Bürgerkrieg auf der Seite Oliver Cromwells kämpften. Sie können rechtzeitig in die neuen Kolonien in Amerika fliehen. Die Flüchtlinge treffen dort auf eine Gesellschaft, die durch einen pietistischen Fanatismus geprägt ist und sich gerade vom Mutterland jenseits des Atlantiks abspaltet. Hier könnten sich die beiden unter Gleichgesinnten in Sicherheit wiegen, wären ihnen nicht ebenso fanatische Häscher auf den Fersen. (Verlagsinfo)
Der Autor
Robert Harris wurde 1957 in Nottingham geboren und studierte in Cambridge. Seine Romane »Vaterland«, »Enigma«, »Aurora«, »Pompeji«, »Imperium«, »Ghost«, »Titan«, »Angst«, »Intrige«, »Dictator«, »Konklave«, »München«, »Der zweite Schlaf« und zuletzt »Vergeltung« wurden allesamt internationale Bestseller. Seine Zusammenarbeit mit Roman Polański bei der Verfilmung von »Ghost« (»Der Ghostwriter«) brachte ihm den französischen »César« und den »Europäischen Filmpreis« für das beste Drehbuch ein. Die Verfilmung von »Intrige« – wiederum unter der Regie Polańskis – erhielt auf den Filmfestspielen in Venedig 2019 den großen Preis der Jury, den Silbernen Löwen. Robert Harris lebt mit seiner Familie in Berkshire. (Verlagsinfo) Inzwischen hat Harris zwei weitere Romane vorgelegt, zuletzt „Abgrund“ (2024). Die Verfilmung von „Konklave“ ist im Herbst 2024 in unsere Kinos gekommen.
Handlung
England, 1660. König Karl II. erlässt mit einer Akte der Verzeihung ein Generalpardon. Ausgenommen sind die Königsmörder, jene Hochverräter, die das Urteil zur Enthauptung seines Vaters Karl I. unterzeichnet haben. Dazu gehören auch die Oberste Edward Whalley und William Goffe, die im Bürgerkrieg auf der Seite des Lordprotektors Oliver Cromwells kämpften. Doch sie müssen ihre Familien zurücklassen, und das trifft besonders Will hart: Er lässt Katherine Whalley, seine Schwiegermutter, sowie Frances, seine Frau, und die Kinderschar zurück.
Sie können rechtzeitig in die neuen Kolonien in Amerika fliehen. Die Flüchtlinge treffen dort auf eine Gesellschaft, die durch einen pietistischen Puritanismus geprägt ist und sich gerade vom – nun wieder katholisch regierten – Mutterland jenseits des Atlantiks abspaltet. Hier könnten sich die beiden unter Gleichgesinnten wie dem Kaufmann Gookin in Sicherheit wiegen, wären ihnen nicht ebenso fanatische Häscher auf den Fersen. Als ein Schiff mit schottischen Matrosen in Boston anlegt, das vier Meilen von Cambridge entfernt liegt, zeigt sich, dass das Obdach, das ihnen der Gouverneur gewährt hat, brüchig ist: Die Matrosen kennen die beiden Oberste noch als Cromwells Schlächter und greifen sie an.
Die Matrosen bringen auch Kunde, dass der neue König die Cromwell-Getreuen geächtet hat und die Jagd auf sie eröffnet ist. Fortan verstecken sich die beiden Oberste in Cambridge bei Gookin und machen sich nützlich, indem sie auf der Farm helfen. Doch bis der lange Arm des Königs und seines Geheimdienstes sie erreicht, ist nur eine Frage der Zeit.
Der Leiter dieses dem Kronrat unterstellten Geheimdienstes ist Richard Nayler, und er hat einen guten Grund, um die beiden Oberste mit aller Hartnäckigkeit zu suchen: Er gibt ihnen die Schuld am Verlust seiner Familie, von seiner eigenen Verwundung im Bürgerkrieg ganz zu schweigen. Doch wie auch die anderen Cromwell-Getreuen, die seinerzeit das Todesurteil für Karl I. unterzeichnet haben, sind auch Whalley und Goffe wie vom Erdboden verschluckt. Nach Monaten der Jagd sind nur noch sie unauffindbar. Da trägt ihm einer seiner Vertrauten zu, dass ein Schiff namens „Prudent Mary“ unter Kapitän Pierce nach Boston ausgelaufen sei. An Bord hätten sich zwei Männer unter den Decknamen Mr. Stephenson und Mr. Richardson. Die Namen passen zu nahen Verwandten der Gesuchten. Aber weil Frances Goffe ihn belogen hat, steht nun auch sie auf Naylers Todesliste. Als hätte sie die Gefahr gewittert, ist sie mit ihrer Familie untergetaucht.
Cambridge bei Boston
Die Monate des Winters gehen vorüber, doch das ist für Whalley kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen. Sie sind notgedrungen in den kühlen Kuhstall umgezogen, umgeben von sehr „würzigen“ Düften. Und sie haben sich einen Hund angeschafft. Aber ihre Vorsicht zahlt sich aus, denn ein Pfarrer namens Mitchell schaut immer wieder bei den Gookins vorbei.
Am Ende des Winters bringt ein Schiff aus England den Haftbefehl des Königs, versehen mit einer fürstlichen Belohnung pro Kopf. Vier Gestalten nähern sich im Morgengrauen Gookins Hof, doch der kläffende Hund verrät sie. Whalley und Goffe haben ihre Musketen, Pistolen, Degen und Dolche parat. Es kommt zu einem ersten Feuergefecht. Danach ist klar, dass sie verschwinden müssen: ins hundert Meilen entfernte Tal des Connecticut Flusses. Sie müssen quer durch Indianerland. Nur Gookin kann sie dorthin führen, und seine Frau Mary ringt bang die Hände.
Während in London Richard Nayler an Bord des ersten Schiffes geht, das der Kronrat für ihn buchen konnte, brechen die Oberste mit ihrem Gastgeber in die Wildnis Neuenglands auf…
Mein Eindruck
Die Überschriften der vier Buchteile lauten Suchen“, „Jagen“, „Verstecken“ und „Morden“. Das suggeriert dem Leser, der einen Thriller klassischen Zuschnitts erwartet, jede Menge spannende Action und mindestens ein packendes Finale. Andererseits setzt die Jagd Richard Naylers auch voraus, dass sich sein menschliches Wild stets auf der Flucht oder in diversen Verstecken befindet. Und das sind die Buchpassagen, die weitaus weniger spannend sind. Der Leser muss eben beides mitnehmen. So viel lässt sich jedoch verraten: Es beleibt spannend bis zur letzten Seite des erzählenden Textes.
Das britische Reich ist nicht nur durch den Bürgerkrieg gespalten, den Oliver Cromwell, wie wir aus Whalleys Memoiren erfahren, sehr erfolgreich führte, sondern hinsichtlich Macht und Religion. Unter Cromwell hatte das Parlament die Macht, bis es dem Rebellen selbst zu bunt wurde, und er sich zum allein herrschenden „Lord Protektor“ aufschwang. Cromwell war ein glühendes Verfechter des Protestantismus und bekämpfte nicht nur die katholischen Schotten, sondern auch die besonders katholischen Iren – mit ziemlich blutigen Ergebnissen, die ihm nie verziehen wurden.
Aber er tolerierte oder förderte auch die puritanische Variante des Protestantismus, und die puritanischen geistlichen sollten sich als die standfestesten Widersacher des neuen Königs und seines Agenten Richard Nayler erweisen. Insgesamt also breitet der Autor das Panorama einer entscheidenden historischen Epoche aus: Nach dem Ende des Bürgerkrieg dauerte es nur noch rund hundert Jahre, bis die Kolonisten in Neuengland dem König die Gefolgschaft aufkündigten und das Reich verließen, um ihre eigene Nation zu gründen, nämlich die Vereinigten Staaten von Amerika.
Die Anfänge dieser Abspaltung lassen sich bereits zu Whalleys und Goffes Lebzeiten beobachten, und die Geschichte dieses titelgebenden Mörderpaares führt den Leser Verlauf von zwanzig Jahren zu den bekanntesten Schauplätzen des Unabhängigkeitskrieges, also nach Boston, Cambridge (mit dem Harvard College), Springfield (Connecticut), New Haven (dito) und anderen Orten.
Die Landkarte, die auf der Innenseite des Einbandes abgedruckt ist, vereinfacht das Territorium stark, denn nirgendwo sind Indianersiedlungen eingetragen, die durchaus eine Rolle spielen. Auch stößt der Leser erstaunt auf den Namen „New Amsterdam“. Im Verlauf der rund zwanzig Jahre, die hier erzählt werden, zwingt eine Flotte von Briten die Holländer, diese Stadt zu verkaufen bzw. gegen eine der südostasiatischen Gewürzinseln einzutauschen. Der Kommandant der britischen Flotte tauft die Stadt in „New York“ um, zu Ehren eines Herzogs oder der gleichnamigen Stadt in Yorkshire.
Ein Geheimauftrag
Doch der Kommandant hat noch einen zweiten Auftrag, der ultrageheim ist: Er soll die letzten beiden Königsmörder ausfindig machen und zur Strecke bringen. Damit beginnt der letzte, spannende Teil des Buches. Hier darf nicht verraten werden, ob die Marineinfanteristen Erfolg haben. Aber nicht ohne Grund macht sich auch Richard Nayler danach auf die lange, beschwerliche Seereise in die Neue Welt, dabei lebt er in Paris doch recht angenehm mit seiner Mätresse zusammen.
Die Seereise ist einfach grauenhaft, die Zustände an Bord spotten jeder Beschreibung, doch Nayler wird von einem unauslöschlichen Feuer angetrieben: dem Feuer des Hasses und dem Durst nach Rache. Er macht Whalley und Goffe nicht nur für den Tod seines Königs verantwortlich – die Liste der Verurteilenden ist 50 Namen lang – sondern auch ganz direkt für den Tod seiner geliebten Frau. So wird plausibel, dass Nayler sich nicht nur solchen Unannehmlichkeiten aussetzt (und ganz nebenbei einen weiteren Mord begeht), sondern sich auch in die Semi-Wildnis der neuenglischen Kolonien wagt, wo man von Annehmlichkeiten noch nie gehört hat.
Niemals vergessen
Der Grund für Richard Nayler für diese Reise: Er kann nicht vergessen, was die Königsmörder seiner Frau und damit ihm angetan haben. Vergessen oder erinnern – das ist das zentrale Thema der Geschichte. Schon der Originaltitel „Act of Oblivion“, Gesetz des Vergessens bzw. Verzeihens legt dies nahe. Das Problem: Die Königsmörder sind vom Verzeihen ausdrücklich ausgenommen. Das ist ungefähr so, als würden die Nachkriegsdeutschen alle Nazis mit einem entlastenden „Persilschein“ versehen, Adolf Hitler aber auf keinen Fall. Die Wunde bleibt also offen, und das ist auch im England der Post-Bürgerkriegszeit, der Restauration, der Fall.
Die Frage, die der Autor offenbar stellt, könnte lauten: Wie kann ein Volk wieder ein Ganzes werden, wenn ein Teil davon ausdrücklich von Vergebung ausgenommen ist? Der lange Arm der Vergeltung, die der König via Nayler übt, reicht bis nach Lausanne und ins hessische Hanau. Keiner der Königsmörder soll sich sicher fühlen, nirgendwo auf der Welt. Dieses Vorgehen zeugt keineswegs von moralischer Qualität, sondern allein von Machterhalt.
Erinnern und seine schlimmen Folgen
Oberst Whalley schreibt in Neuengland, wo er oftmals in Kellerlöchern oder Hinterzimmern lebt, seine Erinnerungen auf. Er erinnert sich und führt so den Leser in die ersten Tage zurück, als Oliver Cromwells Rebellion begann und zu einer Revolution führte. Soll der Erfolg der Rebellion den Mord an einem König rechtfertigen, fragt sich der Leser. Ist dies die notwendige Bedingung für den Erfolg der Revolution, wie man ja später in Frankreich gesehen hat? Bemerkenswert ist daher, zu welchem Schluss Whalley in seinem Manuskript kommt.
Kurz vor seinem Schlaganfall, der ihn auf Dauer ans „Bett“ fesselt und ihn der Pflege seines Schwiegersohns Goffe ausliefert, zweifelt er an der Sinnhaftigkeit der protestantischen Revolution und ihrer Folgen. Ob die Umwälzung das Opfer so vieler leben rechtfertigt, bezweifelt er. Und als sich Cromwell in seiner Geschichte praktisch zum Alleinherrscher aufschwingt, indem er das Parlament entmachtet, können wir diese Zweifel nachvollziehen.
Leider kann Goffe, als ihm das Manuskript nach Whalleys Tod in die Hände fällt, nichts mit solchen Haarspaltereien anfangen. Er ist ein standfester Puritaner, für den es nur einen strengen Gott gibt – und der lässt Zweifel nicht zu: Er verbrennt alle Blätter in Bausch und Bogen. Das bedeutet das Ende des Erinnerns, was vielleicht eine notwendige Bedingung für den Neuanfang darstellt, den Goffe mit seiner Frau Frances unternimmt. 1679 verliert sich seine Spur irgendwo im Tal des Flusses Hudson.
Fatale Ironie
Die Ironie dabei ist unübersehbar: Es war ja Goffe selbst, der, nach jahrelangem Verstecken in einem Keller, durch seinen plötzlichen Auftritt während eines Angriffs durch Indianer und sein anschließendes erneutes Verschwinden als eine Art Engel des Herrn erschien. Als „Engel von Hadley“ (jenem Dorf im Tal des Hudson) geht er in die Geschichte ein, findet seinen Weg in die Gazetten und Nachrichtendienste seiner Zeit – und wird so zur Zeitungslektüre von Richard Nayler in Paris, der sich fatal an Goffe erinnert fühlt.
Er bricht an der Seite von Frances Goffe aus London nach Neuengland auf, in der richtigen Annahme, dass sie seiner – sehr kunstvoll gefälschten – Nachricht Folge leisten und zu ihrem Mann reisen werde. Einmal gefunden, könne nichts Goffe vor einer Pistolenkugel durch Nayler bewahren. Der letzte der Königsmörder soll von seiner, Naylers, Hand sein Ende finden – und die ganze Geschichte dem Vergessen anheimfallen. Man sieht: Erinnern und Vergessen haben viele Seiten, und so bleibt es spannend bis zum Schluss. Mehr darf nicht verraten werden.
Die Übersetzung
S. 43: Die „Akte der Verzeihung“ anstelle von „Gesetz des Vergessens“, wie es „Act of Oblivion“ entspräche.
S. 168: “Der Vorschlag muss von ihnen kommen, nicht vor (!) dir.“ Statt „vor“ sollte es korrekt „von“ heißen.
S. 172: “…schon wieder zu[r] einer Atlantiküberquerung aufzubrechen.“ Das R ist überflüssig.
S. 238: “…war diese Episode zu aufschlussreich, [um] nicht erzählt zu werden.“ Das Wörtchen „um“ fehlt.
S. 286: “Der Bauer ist ein alter Rundkopf.“ Der Begriff „Rundkopf“ wird nirgendwo erklärt, dabei handelt es sich um einen Anhänger bzw. Soldaten Oliver Cromwells, einer zentralen Figur aus der Vorgeschichte der im Buch erzählten Ära zwischen 1660 und ca. 1680.
326: “Am selben Sonntag, wo Hooke [der Schwager von Oberst Edward Whalley] die vier Männer aus Amerika empfing…“ Das ist kein korrektes Deutsch. Statt „wo“ sollte es richtig „an dem“ heißen.
Anhänge
Dem Buch ist eine Vorbemerkung vorangestellt, der ein Personenverzeichnis folgt, welches sich als Gedächtnisstütze als sehr nützlich erweist, obwohl das Personal pro Buchteil relativ begrenzt ist. Eine ausführliche Bibliografie und ein erhellendes, dankbares Nachwort schließen das Buch ab.
Unterm Strich
Ich habe unerwartet lange Zeit für diesen mutmaßlichen Historienthriller gebraucht, denn ich brach die Lektüre an der Stelle ab, als Whalley wieder einmal eine seiner Erinnerungen formuliert. Diese sind zunächst völlig ohne Action, sondern berichten lediglich zwei Lebenswege, nämlich Whalleys eigenen und den seines Vetters Oliver Cromwell. Monate gingen ins Land, und es gab viele interessantere Bücher. Glücklicherweise ergab es sich auf einer Reise nach London – ausgerechnet! – dass ich den Rest des Buches in den Wartepausen und auf den Fahrten und Flügen bewältigen konnte.
So sollte man seine Lektüre möglichst nicht gestalten. Viel nützlicher wäre es, die Lektüre in einem Rutsch zu bewältigen, damit alle Namen noch frisch im Gedächtnis bleiben. Einige der eindrücklichsten Szenen finden sich im letzten Drittel der Geschichte: Szenen der großen Pest, die London zwischen 1660 und 1666 heimsucht, sowie die grandiose Szene, in der London 1666 dem Großen Brand zum Opfer fällt.
Beide Male folgen wir dem Erleben von Frances Goffe, die um das Leben ihrer Familie bangt. Die Puritaner reden von den vier Reitern der Apokalypse: Krieg (Bürgerkrieg), Pest, Weltenbrand und Hunger. Der Leser kann leicht nachvollziehen, welche Umwälzungen in England zu jener Zeit vor sich gegangen sein müssen: Es war wohl doch die „Apokalypse“. Eine Mörderjagd? An die erinnert sich kaum noch einer, sie ist vergessen. Oder doch nicht?
Unterm Strich lohnt sich die Lektüre trotz der bremsenden Erinnerungspassagen durchaus, dafür sorgt schon der Rachedurst des Richard Nayler, der zu einem unerwarteten Finale führt.
Gebunden: 544 Seiten
O-Titel: Act of Oblivion. 2022
Aus dem Englischen übersetzt von Wolfgang Müller.
ISBN-13: 978-3453273719
www.heyne.de
Der Autor vergibt: