Robert Holdstock – Celtika. Book One of The Merlin Codex

Argonauten reloaded: Merlin, der unglückselige Weltenretter

Das legendäre Abenteuer Jasons und seiner Argonauten endete in einer Tragödie, als Jason seine Gattin Medea betrog und sie sich bitter dafür rächte. Jason hat nur noch sein magisches Schiff Argo, das vom Geist der Göttin Hera erfüllt ist. 700 Jahre später kommt der potentiell unsterbliche Zauberer Merlin in den Norden Finnlands, um dort die Argo und ihren darin eingeschlossenen Kapitän Jason aus einem vereisten See zu heben.

Das magische Unternehmen gelingt mit Hilfe einer Schamanin namens Niiv und ihrer Verwandten. Als Merlin Jason berichtet, dass dessen zwei Söhne nicht, wie Jason glaubte, tot seien, sondern im Land der Geister, Alba (Britannien), am Leben, sammelt Jason erneut Argonauten um sich, um die verloren Geglaubten zu finden. Es wird ein magisches Abenteuer.

Der Autor

Robert Paul Holdstock, geboren 1948, begann mit dem Schreiben schon 1968, machte sich aber erst 1976 als Schriftsteller selbständig und schrieb daraufhin eine ganze Menge Genre-Fantasy. Dabei entstanden wenig interessante Trilogien und Kollaborationen an Sword and Sorcery-Romanen, u.a. mit Angus Wells.

Erst 1983 und 1984 taucht das für die Ryhope-Sequenz wichtige Motiv des Vater-Sohn-Konflikts auf. Beide Seiten werden getrennt und müssen wieder vereinigt werden. Das Besondere an dieser emotional aufgeladenen Konstellationen ist jedoch, dass die Bewegung, die dafür nötig ist, in einer Geisterwelt stattfindet: dem Ryhope-Forst.

Der MYTHAGO-Zyklus bis dato

1. Mythago Wood (1984; Mythenwald)
2. Lavondyss (1988; Tallis im Mythenwald)
3. The Bone Forest (1991; Sammlung)
4. The Hollowing (1993)
5. Merlin’s Wood (1994, Sammlung inkl. Roman)
6. Ancient Echoes (1996)
7. Gate of Ivory (2000)
8. Avilion (2009)

Der MERLIN CODEX-Zyklus:

1. Celtika (2001)
2. The Iron Grail (2002)
3. The Broken Kings (2007)

Vorgeschichte: Die Argonautenfahrt und ihre Folgen

Jason ist der vertriebene und enterbte Königssohn, der von dem Thronräuber Pelias sein Erbe zurückfordert. Dieser verspricht ihm, es zurückzugeben, wenn er ihm das sagenhafte Goldene Vlies bringt. Das ist zwar eine List, aber wer weiß, vielleicht schafft Jason diese Heldentat ja doch. In der überlieferten Fassung schließen sich Jason zahlreiche Helden und eine Heldin (die Jägerin Atalante) an, um auf der von Hera gesegneten Argo (= die Schnelle) zahlreiche Abenteuer zu bestehen. Sie leben etwa eine Generation vor den Helden, die in den Trojanischen Krieg ziehen.

Schließlich gelangen sie nach Kolchis in der Nähe des heutigen Georgien, wo König Aietes, der vom Sonnengott Helios abstammt, über das Goldene Vlies eines Widders mit Hilfe eines hundertäugigen Drachen wacht. Er stellt Jason zwei schwierige Aufgaben, die er unmöglich bewältigen kann, nämlich einen feuerspeienden Stier zu besiegen und gegen Krieger zu bestehen, die aus Drachenzähnen gezeugt wurden. Doch Medea, die Tochter des Königs, verliebt sich in Jason und hilft ihm mit ihren Zauberkünsten. Jason siegt auf ganzer Linie und fordert das Vlies als Lohn.

Als ihm und Medea in der folgenden Nacht klar wird, dass der König sie lieber töten lässt, als seinen Schatz herauszurücken, raubt er das Vlies vom Drachen, flieht mit Medea, ihrem Bruder und seinen Mannen und sticht mit der Argo in See. Den wütend sie verfolgenden König schüttelt Medea dadurch ab, dass sie einen Frevel begeht und ihren Bruder tötet und zerstückelt. Die ins Wasser geworfenen Körperteile muss der König erst auffischen, damit er seinen Sohn ordnungsgemäß bestatten kann. Inzwischen entkommen die Schatzräuber.

Alles scheint in Iolkos gutzugehen, wo sich Medea und ihr Gatte Jason darauf vorbereiten, seinen Thron zu erben. Doch König Pelias hat Jasons Verwandte in den Tod getrieben. Nun nimmt Medea im Auftrag Jasons blutige Rache an Pelias. Mit ihren Zauberkünsten überzeugt sie dessen Töchter davon, dass es ein Leichtes sei, erst den Vater zu zerstückeln und ihn dann zwecks Verjüngung wiederzusammenzusetzen. An einem Widder hat sie das ja erfolgreich demonstriert. Natürlich denkt sie nicht daran, den Zauber diesmal bei Pelias anzuwenden.

Nachdem dessen Sohn sie vertrieben hat, lassen sich Medea und Jason in Korinth nieder. Aus der glücklichen Ehe gehen zwei Söhne hervor, Thesokorus und Kinos. Später verstößt Jason die „Barbarin“ (= Nichtgriechin) Medea, um die Töchter des Königs von Korinth, Glauke, zu heiraten. Medeas Rache für Jasons Verrat ist fürchterlich. Sie sendet Glauke ein kostbares Gewand, aus dem Flammen emporschlagen, so dass der König mit seiner Tochter verbrennt. Um ihre Rache vollständig zu machen, tötet sie sogar ihre beiden Söhne und bestattet sie in einem Heiligtum auf der Burg. Sie selbst flieht vor Jasons Vergeltung in einem Wagen nach Athen, nur um auch dort ihre zauberischen Machenschaften zu betreiben.

Handlung

Finnland, Reich der Zauberer

Um das Jahr 280 v.Chr. herum gelangt der Geisterbeschwörer Antiokus, genannt Merlin, nach Nordfinnland, in die Gegend namens Pohjola. Hier liegt ein großer See, der von einem Dämon namens Ennaki bewohnt wird. Mehrere Schamenen und viele Besucher haben sich hier eingefunden und frieren sich fast zu Tode. Sie sind Visionen und Weissagungen gefolgt. Auch Merlin ist deshalb hier.

Der beinahe unsterbliche Zauberer hat auf seinen Wanderungen kürzlich ein Orakel besucht und dort Thesokorus, den einen Sohn seines alten Freundes Jason, angetroffen. Merlin war sehr bestürzt, denn er und Jason waren vor 720 Jahren absolut überzeugt davon, dass Jasons verstoßene Frau Medea (siehe „Vorgeschichte“) ihre beiden Söhne Thesokorus und Kinos vor ihrer beider Augen getötet habe – und nun steht Thesokorus vor ihm! Er nennt sich nun Orgetorix, König der Mörder, und sucht seinen verschollenen Bruder Kinos. Das Orakel antwortet ihm, dass Kinos auf einem wellenumspülten Eiland sei: Alba alias Britannien.

Merlin ist nach Finnland gekommen, um hier die Leiche Jasons wiederzubeleben, die in seinem berühmten Schiff Argo bestattet ist. Die Argo liegt am Grunde des verzauberten Sees. Merlin hatte hier einmal mit einer Finnin namens Meerga eine Affäre. Mit Hilfe der jungen Schamanin Niiv und ihren Verwandten gelingt ihm das schier Unmögliche: nämlich den Dämon Ennaki zu überlisten, Jason und Argo zu heben sowie Jason wiederzubeleben.

Jason und Argo

Doch Jason war noch nie sonderlich sentimental. Er bedankt sich nicht mal für die Rückkehr in diese Welt. Erst als er erfährt, dass seine Söhne noch am Leben sein sollen, fasst er wieder Lebensmut und macht sich sogleich mit Merlin daran, eine zweite Argonautenfahrt zu organisieren. Natürlich muss auch die Argo wiederhergestellt werden, an deren Holz 700 Jahre genagt haben. In ihre wohnte einst die Göttin Hera, in einem Stück von der heiligen Eiche von Dodona. Doch nun beschwören Merlin und Niiv die lokale Waldgöttin Mielikki in das Schiff, damit sie ihnen beisteht. Für diesen Dienst verlangt die listenreiche Niiv, mitgenommen zu werden. Ihr Hintergedanke, der Merlin völlig klar ist: Sie will seine Tricks abschauen, um selbst eine mächtige Zauberin zu werden.

Unter den Besuchern des Sees lernt Merlin zunächst König Urtha kennen, der aus dem nebligen Alba aufgrund einer Vision hierhergekommen ist. Er sucht einen verschwundenen Schatz. Doch Merlin überzeugt ihn davon, dass er ihn hier nicht finden werde und er besser in seine heimatliche Festung zurückkehren solle, denn wer weiß, was dort passiert ist. Krieger und Barden aus anderen Gegenden Europas schließen sich Urthas Leuten an, sowie eine kriegerische Amazone namens Ullanna aus Vorderasien.

Alba, der Reich der Heldenschatten

Die Reise mit der Argo führt die Reisenden zurück in ein verwüstetes und leeres Land, in dem niemand zu sehen ist. Großes Statuen aus Weidengeflecht verströmen Furcht über die Neuankömmlinge, die sich kaum in die Flussmündung wagen. Dies hätte Merlin zu denken geben sollen, doch er ignoriert die Ursache – ein schwerer Fehler.

Auch Urthas große Festung Taurovinda, im Stammesgebiet der Cornovidii, ist völlig verlassen, wenn auch nicht zerstört. Was mag hier geschehen sein? Urtha trauert nun neben seinem Sohn Urien um seine Familie. Sein Schwiegervater, der sich aus dem Wald hervorwagt, erzählt, dass die königliche Garde, die Urtha zum Schutz der Festung zurückgelassen hatte, eines Tages abzog, um sich einem Feldzug des Kelten Brennos anzuschließen, den dieser gegen Griechenland führen will. Die versprochenen Schätze waren ihnen mehr wert als ihre Pflicht. Die schutzlose Festung wurde aber nicht nur von sterblichen Krieger bestürmt – diese Angriffe wurden abgewehrt -, sondern auch von einer wilden Kriegergruppe, die Magie einsetzte. Die treuen Hunde wandten sich plötzlich gegen ihre Herren, von denen viele starben.

Nach einem Besuch bei den Toten im angrenzenden Wald, wo die Schatten von Helden im Geisterland leben, beschließen Merlin, der Geisterseher, und Urtha, nach Brennos zu suchen und die Garde zur Rechenschaft zu ziehen. Jason hat nichts dagegen, nach Griechenland zu reisen, denn dort – möglicherweise sogar in Brennos’ Heerschar – erwartet er, den ersten seiner beiden Söhne zu finden.

Doch weder Merlin noch Jason haben damit gerechnet, dass noch eine Gestalt aus der gemeinsamen Vergangenheit sie begleitet – und ihrer aller Verderben vorbereitet…

Mein Eindruck

Robert Holdstock, der inzwischen verstorbene Autor der gelungenen Mythago Wood-Reihe, hat bereits darin Jason auftreten lassen, einen der typischen Abenteurer und Irrfahrer. Auch arthurische Krieger-und-Retter-Gestalten kommen darin immer wieder mal vor. Der Autor macht aber stets klar, dass solche Figuren im menschlichen Unterbewusstsein verankert sind und dort mit immer neuem Leben versehen werden. Die daraus entstehenden flüchtigen Bewohner des Mythenwaldes nennt der Autor bzw. seine Erzählerfiguren „Mythagos“ (siehe oben).

Auch Merlin, der seherisch begabte Zauberer aus fast jeder bekannten Artussage, ist eine Art Mythago, nur stammt er nicht aus dem Mythenwald. Jedenfalls soweit Merlin das selbst weiß. Er ist uralt, ist vor 720 Jahren mit den Argonauten nach Kolchis und wieder zurückgefahren, nur um dann das schreckliche Drama um Medea mitzuerleben. Er ist also von Anfang an in diese verzwickte Familiengeschichte verwickelt und nicht etwa ein kühl daneben stehender Beobachter. Ob er sich dann später als Lehrer des jungen Artus gut eignet, kann sich hier ablesen lassen.

Betriebsblind

Selbst wenn er sich immer bemüht, seinem Freund Jason zu helfen, so gelingt ihm dies doch nicht immer. Nicht etwa, weil es ihm an gutem Willen mangeln würde, sondern daran, dass er selbst immer wieder überlistet wird, ohne dass er es merkt. Er entwickelt eine Art Betriebsblindheit während all seiner Geisterseherei und seiner Geistreisen und merkt dabei gar nicht, wo sein eigener blinder Fleck liegt. Als er diesen dann ebenso wie dessen Ursache entdeckt, ist es bereits zu spät, um den entstandenen Schaden zu reparieren. Jason betrachtet ihn als Verräter. Nun hat Merlin keine Autorität, um Jason gegen Thesokorus zu helfen, der aufgrund Medeas Lügen seinen Vater hasst. Das Verhängnis ist unaufhaltsam.

Die Erzählung hält sich nicht lange mit umständlichen Beschreibungen von Landschaften und Personen auf, sondern charakterisiert die Figuren durch deren Dialoge. Das ist schlau gemacht und sehr unterhaltsam. Jason beispielsweise bedient sich einer nicht immer feinen Ausdrucksweise, besonders dann, wenn er betrunken ist. Urtha hingegen ist meist der noble König, der zu Merlins Freund wird. Niiv, die junge Schamanin, erscheint teils kindlich, teils hinterlistig. Sie will mit Merlin nicht bloß schlafen, sondern auch seiner magischen Kräfte teilhaftig werden – bis sie einen Fehler macht und von ihm geschnitten wird.

Die Realität, die uns meist durch Merlins subjektiven Blickwinkel gezeigt wird, ist durchweg trügerisch. Nicht etwa, weil Merlin Geister beschwören und mit seinem eigenen Geist reisen kann, sondern weil er seine Wirklichkeit nicht zur Gänze wahrnehmen kann. Wie gesagt ist er betriebsblind – und getäuscht worden. Die Täuscherin ist Medea, eine furchteinflößende und höchst mächtige Zauberin, die Männer quasi als Spielbälle benutzt. Das gilt nicht nur für Merlin und Jason, ihr Ziel, sondern leider auch für ihren Sohn Thesokorus. Als Merlin ihr diesen Missbrauch vorwirft, weist sie diesen Vorwurf entrüstet zurück. Sie bringt Merlin dazu, auch ihren Blickwinkel zu verstehen. Am Ende steht er zwischen allen Standpunkten, von zuviel Wissen entmachtet.

Merlin

Merlin ist, so wird dem Leser erst schrittweise klar, ein tragischer Held. Er will ein Weltenlenker sein und sich ordnend in die Jason-Familie einbringen, quasi als Therapeut. Das geht jedoch gründlich schief, und am Ende sieht er sich selbst für fremde Zwecke missbraucht. Doch auch viele andere Männer wollen Helden sein, aus vielerlei Gründen: Brennos und seine Feldherren, Thesokorus, der „König der Mörder“, und die Argonauten natürlich. Es kommt zu guten Kämpfen und zu einigen tragisch endenden, es kommt zu glorreichen Schlachten auf dem Weg nach Griechenland und zu weniger glorreichen Eroberungen.

Unbesungene Helden

Am eindrucksvollsten unter diesen Nebenschauplätzen fand ich die Geschichte jenes makedonischen Wachpostens, der nicht einmal einen Namen hat. Er ist schon 80 Jahre alt, seit den Tagen von Alexander dem Großen (ca. 340 v.Chr.) auf diesem einsam gelegenen und im Wald versteckten Posten und noch nie gab es größere Gefahr. Die Geschichte, wie die Dienstzeit dieses Wächters durch die Ankunft von Brennos’ Heerschar schmachvoll endet, macht aus diesem unbesungenen Helden eine tragische Gestalt, an die man sich auch noch nach dem Ende des Buches gerne erinnert. Das ist große Erzählkunst.

Unterm Strich

Die Romane Robert Holdstocks sind seit „Mythago Wood“ (1984) für mich immer ein aufregender Genuss gewesen, nicht nur wegen der mystischen Atmosphäre in diesen Welten, sondern auch wegen der Action unter der genau und glaubhaft beschriebenen Figuren. Die Action muss nicht immer in Kampf bestehen, obwohl dies unterhaltsamer erscheint, sondern auch in Liebesszenen stattfinden. Und häufig blitzt ein verschmitzter Humor durch, der mir typisch für einen Mann aus Kent zu sein scheint. Sehr britisch ist er jedenfalls nicht, sondern eher schelmisch.

Wie schon zuvor ist auch dieser erste Band des „Merlin-Codex“ – ein fiktives Dokument, wie man am Ende von Band drei erfährt – eine Erkundung des Themas, wie es gelingen kann, anderen Menschen zu helfen, wenn man über besondere Kräfte wie etwa Geisterbeschwörung verfügt. Wie schon die junge Heldin Tallis in „Lavondyss“ erfahren musste, verlangt der Einsatz von Magie bzw. Geisterbeschwörung immer einen Preis, um das Gleichgewicht wiederherzustellen.

Merlin zahlt den Preis in Lebensjahren. Deshalb mag er es gar nicht, wenn er, um richtig wirkungsvoll helfen zu können, älter werden muss. Er zieht deshalb die den Normalsterblichen zur Verfügung stehenden Methoden vor, doch damit gerät er schwer auf den Holzweg, als er von Medea ausgetrickst wird. Seine Bemühungen führen nicht zum erhofften Erfolg, sondern enden in einer Tragödie.

Merlin ist somit keineswegs der über alle Zweifel erhabene Übervater aus den Arthur-Sagen, sondern quasi ein besonders begabter Junge, der schon viel zu lange lebt. Der Spitzname „Merlin“, so der Ich-Erzähler, bezeichnet nicht nur die kleine Falkenart, sondern auch „Kann seine Schnürsenkel nicht binden“. Durch Humor wird der Übervater vom Sockel geholt und zu einem menschlichen Wesen, an dessen Schicksal wir teilhaben können. Deshalb will ich wissen, wie es mit seinen Abenteuern weitergeht und ob er es schafft, den von ihm angerichteten Schaden wiedergutzumachen.

Taschenbuch: 448 Seiten
Sprache: Englisch

Der Autor vergibt: (5.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)