Robert Holdstock – Der Geisterbeschwörer. Die Verlockung der Sünde.

Der Fluch der Druiden: der entfesselte Dämon

„Vor vielen Jahrhunderten verehrten die Menschen von Higham den Geist der Steine. Heute beten sie, dass der Schrecken ein Ende nehmen möge. In einer kleinen Stadt westlich von London stehen die Ruinen einer ausgebrannten Kirche. In den Ruinen befindet sich ein steinernes Taufbecken, um das sich dunkle Legenden ranken – Legenden von Blut, Selbstmord und Wahnsinn.

Für eine junge Mutter bedeuten die Ruinen ein Gefängnis, in dessen Mauern die Seele ihres Sohnes gefangen gehalten wird. Für einen ehrgeizigen Wissenschaftler bedeuten sie ein Forschungsobjekt, eine Herausforderung. Für eine französische Hellseherin sind sie ein Schlüssel in die Vergangenheit. Für alle aber birgt dieses alte Gemäuer eine tödliche Gefahr!“ (Verlagsinfo)

Der Autor

Robert Paul Holdstock, geboren 1948, begann mit dem Schreiben schon 1968, machte sich aber erst 1976 als Schriftsteller selbständig und schrieb daraufhin eine ganze Menge Genre-Fantasy. Dabei entstanden wenig interessante Trilogien und Kollaborationen an Sword and Sorcery-Romanen, u.a. mit Angus Wells.

Erst 1983 und 1984 taucht das für die Ryhope-Sequenz wichtige Motiv des Vater-Sohn-Konflikts auf. Beide Seiten werden getrennt und müssen wieder vereinigt werden. Das Besondere an dieser emotional aufgeladenen Konstellationen ist jedoch, dass die Bewegung, die dafür nötig ist, in einer Geisterwelt stattfindet: dem Ryhope-Forst.

Der MYTHAGO-Zyklus bis dato:

1. Mythago Wood (1984; Mythenwald)
2. Lavondyss (1988; Tallis im Mythenwald)
3. The Bone Forest (1991; Sammlung)
4. The Hollowing (1993)
5. Merlin’s Wood (1994, Sammlung inkl. Roman)
6. Ancient Echoes (1996)
7. Gate of Ivory (2000)
8. Avilion (2008)

Der MERLIN CODEX-Zyklus:

1. Celtika (2001)
2. The Iron Grail (2002)
3. The Broken Kings (2007)

Der BERSERKER-Zyklus

1) Odins Wolf / Shadow of the Wolf (1977)
2) Die Jägerinnen von Connacht / The Bull Chief (1977)
3) The Horned Warrior (1979, nicht übersetzt)

Weitere Werke:

1) Der Geisterbeschwörer
2) Das Tal der Statuen
3) Erdwind
4) Zeitwind

Handlung

Lee Kline ist Amerikaner, hat aber als Historiker eine Stelle in England gefunden. Natürlich beschäftigt er sich hier mit den Besonderheiten, die ihm seine Umgebung zu bieten hat. Bei der Zeitungsrecherche stößt er auf das südenglische (fiktive) Städtchen Higham, in dem sich um die ausgebrannte Kirche St. Mary’s sonderbare Geschichten ranken, genauer gesagt: um ihren Taufstein. Dieser werde als „Selbstmörderbrunnen“ bezeichnet, liest er. Von diesem Objekt hat er bereits einen mit zeichen beschrifteten Brocken zugeschickt bekommen, und die Sache fasziniert ihn so, dass er sich vor Ort umsieht.

Der Taufstein ist erst von Christen zu diesem Zweck geformt und benutzt worden, sieht er. Aber wozu diente er jenen Leuten, die man gemeinhin als Heiden bezeichnet, also den keltischen Ureinwohnern? Als Kline die Ruine, von der nicht einmal die Außenmauern den Brand überstanden haben, betritt, findet er eine Frau vor, die Mitte dreißig zu sein scheint. Sie gefällt ihm, und sie kommen ins Gespräch. Was sucht sie an diesem verlassenen, zerstörten Ort, wundert er sich.

Sie heißt June Hunter und hat hier auf diesem Taufstein miterleben müssen, wie ihr kleiner Sohn Adrian einen Unfall erlitt, indem sein Köpfchen auf die Kante des Beckens aufschlug – der Priester hat ihn fallenlassen. Seit diesem Unglück ist sein Geist anderswo. Deshalb trifft es sie wie ein Donnerschlag, als Kline ihr von einem denkbaren Gedächtnis des kristallinen Steines erzählt. Was einem anderen Zuhörer als Humbug erscheinen könnte, trifft sie ins Mark. Existiert Adrians Geist hier noch?

Als ein katholischer Priester in schwarzem Habit an der ehemaligen Tür erscheint, beginnt June bei seinem Anblick zu erzittern. Der erstaunte Kline würde June wirklich zu gerne helfen, doch allein schon ihre Andeutungen verblüffen ihn derart, dass sie sein Schweigen für eine Ablehnung ihrer Verschrobenheit auffasst und schleunigst das Weite sucht. Als Kline den Stein genauer untersucht, merkt er, dass die Kirche um das Artefakt herumgebaut wurde: Der Stein war zuerst da, und er steckt noch tief im ursprünglichen Erdreich.

Ein kleiner Junge sitzt plötzlich fröhlich auf dem Becken und redet Kline mit Namen an. Der Historiker ist verblüfft. Woher kennt das Kind seinen Namen? Der Junge nennt sich Cru und sagt, er sei froh, dass Kline gekommen sei. Dann rennt er um den Stein herum und verschwindet spurlos. Das ist aber nicht die einzige seltsame Erscheinung, die Kline hier erleben soll.

Als er den Priester, der June Hunter so erschreckt hat, in der neuen Kirche von Higham fragt, was es mit dem ausgebrannten St. Mary’s auf sich habe, erzählt ihm John Alexander, dass sich dort schon etliche Menschen umgebracht hätten, vor allem Leute, die schon seit vielen Generationen am Ort leben und nicht wegziehen wollen: die Belsaints. Es sei aber June Hunter gewesen, die die Kirche angesteckt hätte – aus Rache dafür, dass er ihren Sohn Adrian bei der Taufe habe fallen lassen. Sie sei die Inkarnation des Bösen, die er, der Priester, sündhafterweise bis aufs Blut hasse, weil er ihr ihre Brandtat nicht vergeben könne. Im 18. Jahrhundert habe einer seiner Vorgänger versucht, die Geister auszutreiben, und ein anderer wollte den Taufstein gewaltsam entfernen. Alles vergebliche Mühe.

Lee Kline wundert sich ein ums andere Mal über die Bewohner dieses Ortes. Etwas lässt ihre Emotionen sehr intensiv werden, und es hat etwas mit dem Stein zu tun, den offenbar ein gefährliches Geheimnis umgibt…

Mein Eindruck

Der Einbruch eines uralten Verbrechens in die Gegenwart – das ist der Stoff, aus dem der übliche Horror gemacht ist. Aber Dämonen und Flüche sind nur Metaphern für psychische Kräfte, die in allen Menschen angelegt sind. Dämonen sind die zerstörerischen Kräfte, die Neigung zu Gewalt, und Bannflüche und Zauberformeln die zerbrechlichen Versuche, dieses Böse wieder in den Griff zu bekommen. Als Dämon kann auch moderne Technik wie etwa die Nanotechnologie, Cyberwaffen oder biologische Kampfstoffe auftreten. Wer zwingt den Dschinn wieder zurück in die Flasche?

Im Fall von Higham ist es das unwahrscheinliche Paar eines amerikanischen Historikers und einer französischen Parapsychologin. Ausgerechnet sie wollen den urbritischen Teufel austreiben, dabei hat sie doch keiner gefragt (außer vielleicht June). Dass ihnen die betroffenen Engländer aus der Hunter-Familie dabei nicht ganz grün sind, ist nur allzu verständlich. Alle reagieren auf sie der Reihe nach mit Misstrauen, Eifersucht, Wut und schließlich sogar Mordlust. Alle diese Reaktionen beruhen auf Angst, und Angst ist die ideale Nahrung für einen Dämon wie Cruachan.

Egal, wie die Natur der Katastrophe aussieht – sei es Dämon, sei es Atomunfall usw. – Angst tritt immer als Erstes auf. Doch wie lässt sie sich bekämpfen? Einigkeit scheint nicht zu funktionieren. Aber wie wäre es mit Liebe? Doch Liebe ist eine so zerbrechliche Angelegenheit, dass ihre drei Formen stets nur auf Missverständnis stoßen. Eros ist die Liebe des Begehrens, und Junes Eifersucht tritt ihr sofort entgegen. Agape ist die selbstlose, nicht-erotische („platonische“) Liebe. Doch auch sie hat nicht die geringste Chance, denn die einzige Form dieser Liebe in einer Welt voller Angst ist die Selbstopferung, siehe Jesus von Nazareth. Und wer würde sich heutzutage noch für die anderen bzw. den Rest der Welt opfern?

Nein, die stärkste Form von Liebe, die in Higham wirksam werden kann, ist die Liebe zwischen Eltern und Kind. Sie setzt geradezu Himmel und Erde in Bewegung, hebt die Welt aus den Angeln. June und Edward Hunter unternehmen wirklich alles, um ihren achtjährigen Sohn Adrian aus den Klauen des Dämons zu befreien. Natürlich fällt es dem Mediziner und Wissenschaftler Edward Hunter am schwersten, die Existenz einer übernatürlichen macht überhaupt erst einmal zu akzeptieren. Allerdings der Gedanke erscheint ihm lächerlich und macht ihn wütend. Nur ein zynischer „Scheißkerl“ wie Lee Kline kann ihn vom Gegenteil überzeugen.

Vorbilder

Wer nun an Filme wie „Das Omen“ denkt, liegt sicher nicht verkehrt. Alle Schriftsteller, die etwas erfolgreich verkaufen wollen, müssen auf einer Marketingwelle mitschwimmen – was man heute einen „Hype“ nennt. Auch der „Exorzist“ spielt eine überragende Rolle für das Auftreten und die Bekämpfung des Bösen. Doch bei Holdstock treten niemals Priester als Heilsbringer auf, denn da ist der Autor ganz Protestant. Ganz im Gegenteil: Pater John Alexander ist eine Verkörperung der Sünde und findet spätestens in der Mitte des Buches sein verdientes Ende.

Und schließlich: Waren es nicht erst Priester, die das Böse in diese Welt brachten? Es war die vor den Römern geflohenen Druiden, die „Schwarzen Priester“, die Satan mit Beelzebub austreiben wollten. Das konnte ja nicht gutgehen. Und so bannten sie den Dämon mit Ach und Krach, indem sie der Nachwelt für alle Zeiten ein Blutopfer auferlegten: das Blutopfer der Belsaint-Wächterfamilie.

Wie man sieht, hat der Horror einige unerwartete Wendungen aufzuweisen. Nicht nur der Dämon selbst, sondern auch sein Bann und sogar seine Wächter stellen potenzielle Gefahrenquellen dar. Daher ist es umso erstaunlicher, dass zwei nicht-religiöse, ja, sogar atheistische Figuren es mit diesem Bösen aufnehmen. Weiter kann man nicht vom „Exorzisten“ entfernt sein.

Starke Frauen

Wie so oft bei Holdstock ist es wieder mal die starke Rolle der Frauen, die den Leser fasziniert und für das Drama einnimmt. Da ist zunächst June Hunter, deren beträchtliche weibliche Reize Lee Kline gefangennehmen und ihn an den Fall von Higham fesseln. Doch Francoise Jeury ist viel stärker als die einseitig körperlich attraktive June. Francoise verfügt nicht nur über Intellekt, sondern ein überragendes Einfühlungsvermögen, das sie jeder Nebenbuhlerin überlegen macht – und so auch Kline in ihren Bann schlägt.

Der Titel

Der Witz beim Titel „Necromancer“, der in der Übersetzung völlig verlorengeht, besteht nämlich darin, dass „der Geisterbeschwörer“ auch weiblich sein kann, und Francoise ist dessen Verkörperung. Da ist das Englische ganz neutral. Das Deutsche aber nicht, das den Leser zwingen will, den „Geisterbeschwörer“ als Mann aufzufassen. Doch Lee Kline ist alles andere als ein Nekromant – diese zweifelhafte Stellung ist nur Francoise vorbehalten.

Die Übersetzung

Die Übersetzung von Wolfgang Lotz liest sich sehr flüssig und erfreut mit etlichen Kraftausdrücken wie „Scheißkerl“ und „Arschloch“, also Umgangssprache. Leider haben sich besonders gegen Ende zu einige Flüchtigkeitsfehler eingeschlichen, die den Leser verwirren könnten. Da steht auf S. 285 etwa „besteht“ statt „versteht“, und auf S. 265 ist von „Jahr-ZEHNTEN“ die Rede, wo doch kurz zuvor die Distanz von zwei Jahr-TAUSENDEN überwunden wurde.

Es ist kein korrektes Deutsch, was wir auf S. 209 vorfinden: „Innerhalb triumphierend“ sollte korrekt „Innerlich triumphierend“ heißen. Flüchtigkeitsfehler wie auf S. 207 „das Stahlseil (b) und zitterte“ sind dagegen schon fast zu vernachlässigen. Es gibt aber noch fünf weitere davon, und das ist schon etwas ärgerlicher.

Unterm Strich

Ich habe den Horrorroman in nur zwei Tagen gelesen. Er ist spannend, aufregend, wendungsreich, mit sinnlichen und dramatischen Szenen gespickt, die an „Exorzist“, „Omen“ und „Damien“ erinnern. Nur mit dem Unterschied, dass die Bekämpfung des Bösen nicht irgendwelchen „Experten“ von der Kirche überlassen wird (was diese in ihrer Stellung indirekt affirmiert), sondern vielmehr zwei mehr oder weniger gewöhnliche Bürger das Böse bekämpfen.

Dass es sich dabei um einen Amerikaner und eine Französin handelt, gibt dem Autor Gelegenheit zu einigen Seitenhieben gegen die britische Coolness, Korrektheit und Höflichkeit – Kline ist nichts davon. Die Französin obsiegt in Liebesdingen gegenüber der „üppigen“ Britin, und auch sonst ist sie die zweite, ebenbürtige Heldin – ja, sogar die Titelfigur! Etwas, das uns der deutsche Buchtitel unbedingt vorenthalten will.

Werkkontext

„Necromancer“ erschien 1978 genau zwischen dem zweiten und dem dritten Band von Holdstocks BERSERKER-Saga (siehe meine drei Berichte dazu). Im dritten Band „The Horned Warrior“ schildert der Autor die Eroberung und zerstörung des Druidenheiligtums auf der Insel Mona (= Angelesey). In „Necromancer“ wird dieser Faden insofern weitergesponnen, als einige entkommene Duiden in den Untergrund gegangen sind, um sich an den Römern zu rächen und sie zu bekämpfen, selbstverständlich mit Mitteln der Druidenmagie: Sie riefen den Dämon Cruachos – und der Rest ist Geschichte.

Mit diesen Handlungsverläufen und -ansätzen belegen die beiden Bücher die weitreichenden geschichtlichen Kenntnisse des Autors Holdstocks. Kenntnisse, die er in seinen späteren Büchern noch weiter in die Vergangenheit ausweitete, um sich mit der Bronzezeit und der Jungsteinzeit zu beschäftigen. Daraus entstand dann die preisgekrönte Serie um den „Mythago Wood“.

Für wen sich das Buch eignet

Nun, dieser Horror ist nichts für zartbesaitete Leser, denen es angesichts von Szenen von keltischen und modernen Blutopfern ganz flau im Magen wird. Immerhin werden von Bildern sexueller Gewalt verschont; selbst Andeutungen von Sex sind sehr dezent und geradezu jugendfrei. Deshalb halte ich das Buch bereits ab zwölf Jahren für durchaus lesbar. Allerdings erschließen sich die unterschwelligen Spannungen zwischen den Erwachsenen eben nur Lesern, die schon selbst entsprechende Erfahrungen mitbringen.

Taschenbuch: 300 Seiten
Info: Necromancer, 1978
Aus dem Englischen von Wolfgang Lotz
www.heyne.de

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