Robert Silverberg – Tom O’Bedlam oder: Der Arme Tom von Bethlehem

Der Heiland wird kommen – um jeden Preis

Man schreibt das Jahr 2103: In Kalifornien breitet sich eine neue Sekte aus wie ein Buschfeuer. Die Menschen haben Visionen von fremden Welten, von deren Bewohnern sie Rettung und Heil erwarten.

Unter den Menschenmassen, die nach Norden strömen, um die Ankunft der Außerirdischen zu erwarten, ist Tom O’Bedlam, ein friedfertiger Mensch, ein Tor, ein Tölpel, aber irgendwie scheint er das Auftreten der seltsamen Visionen zu verstärken. Jedenfalls behauptet er, Leute, die willens sind, in eine jener geschauten Welten befördern zu können. Ist er ein Geisteskranker mit latenten PSI-Kräften, der mit seiner Ausstrahlung die Hysterie auslöst?
Ist er ein gefährlicher Irrer, der mit Geisteskraft töten kann ?

Die Ärzte und Wissenschaftler sind sich uneins, was es mit den Visionen anderer Welten auf sich haben könnte. Da treffen die ersten Fotos einer Landesonde von Proxima Centauri ein, vier Lichtjahre entfernt – und sie stimmen bis ins Detail mit einer dieser Visionen überein !


Handlung

Beim Lesen fühlt man sich fast ins Mittelalter zurück versetzt: Die Erde ist nach Kriegen im Jahre 2103 durch radioaktiven Staub fast völlig entvölkert – wie Europa 1348 nach der Pest. Die paar Millionen Überlebenden, ständig bedroht von Winden aus der radioaktiven Staubwüste, die halb Amerika bedeckt, würden am liebsten gleich sterben. Eine Hoffnung scheint sich jedoch in dem Kult des Chungira-er-wird-kommen zu bieten, dessen Prophet die Ankunft der heilbringenden Aliens in Kalifornien verheißt.

Und in der Tat: Die Gesichte, die den Charakter von Marienerscheinungen haben, zeigen den verzückten Chungira-Anhängern strahlende Welten von verlockender Schönheit, voll Glück und Freude. Jaspin, ein kalifornischer Anthropologe, der wie weiland Carlos Castaneda in so einen Kult gerät, macht sich eines Tages auf die Socken zu dem Ort, wo die Aliens landen sollen: Der Kreuzzug in das gelobte Land beginnt.

Tom

Der „arme Tom“ (jene Gestalt aus Shakespeares „King Lear“?) ist der typische ahnungslose Tor, unschuldig, lieb, doch zugleich der stärkste Empfänger für die Visionen, die Gedankenbotschaften von den Alien-Welten. Er könnte ein telepathischer Mutant sein, meinen die Wissenschaftler – jedenfalls scheint er gefährlich zu sein. Nach einer Weile des Umherziehens stößt Tom auf eine Klinik für geistige Rehabilitation, wo psychisch Behinderten jeden Morgen die Erinnerungen gelöscht werden – auch eine Methode, Weltschmerz zu kurieren.

Mit Toms Auftauchen treten bei Patienten und Pflegern verstärkt die Fremdwelt-Träume auf. Aus lauter Menschenliebe schickt Tom auch noch die Seele desjenigen, der als einziger keine Träume hat, auf die Reise zu den Sternen – ohne sterbliche Hülle, versteht sich, denn die Himmelfahrt hat ihren Preis.

Die Sonde

Die hübsche Klinikdirektorin, geplagt von Weltschmerz und verlockenden Visionen, erfährt durch Bilder einer Sonde über der Sonne Proxima Centauri, dass die von ihr geschaute Grüne Welt wirklich existiert. Es erscheint ihr nun nur folgerichtig, daß sie sich an dem Tag, als der Zug Chungiras mit ausgeflippten Fanatikern über ihr Lebenswerk, die Klinik, hereinbricht und diese vernichtet (Apokalypse!), dafür entscheidet, von Tom, ihrem persönlichen Erlöser, auf die Grüne Welt versetzt zu werden…

Mein Eindruck

Die großen Mythen haben es Robert Silverberg offenbar angetan. Trat in „König Gilgamesch“ einer der ersten Großen Mythen auf, der übermenschliche Held, der nach dem Mittel strebt, den Menschen vom Tod und aus der Abhängigkeit vom Willen der Götter zu befreien, so besteht der große Mythos Nr. 2, den der Autor verarbeitet, darin, dass der Menschheit das Kommen eines Erlösers, eines Messias, verheißen wird.

Die Frage, wie ein solcher Heiland in der modernen Zeit aussehen könnte und wie er wohl aufgenommen werden würde, steht im Mittelpunkt von „Tom O’Bedlam“, verknüpft mit dem alten SF-Motiv der ersehnten Kontaktaufnahme mit fremden Wesen aus dem All.

The Second Coming

Was wäre, wenn auf einer ausgepowerten Welt ein Erlöser auftauchen würde? Könnten Psychologie und Anthropologie ihn erkennen, geschweige denn mit ihm umgehen? Wäre es verwerflich, wenn viele an ihn (oder sie!) glaubten und ihm folgen würden? Und was würde dann mit denen geschehen, die zwischen Wissenschaft und Glauben schwanken?

Dies sind einige der Fragen, die Silverberg in „Tom O’Bedlam“ (Bedlam entspricht Bethlehem, bedeutet aber auch Irrenanstalt) zu behandeln versucht. Dass beim Thema des Second Coming vieles Bekannte aus dem Mittelalter auftaucht, dürfte kein Zufall sein – in kritischen Epochen der Geschichte wiederholen sich eben diese Phänomene. Das war auch vor dem Jahreswechsel zum Jahr 2000 weltweit zu beobachten: Allerorten wurde der Weltuntergang verkündet.

Doch anders als Walter M. Miller, der ebenfalls an eine Wiederholung der Geschichte glaubte, bleibt Silverberg durch und durch Optimist: Er glaubt an den ultimativen Sieg des Guten, die Möglichkeit eines „last escape“. Sein Buch ist kein „Lobgesang“ für Leibowitz“, an dessen Schluss sich der atomare Holocaust erneut ereignet.

Die Übersetzung

Dass fast alle Romanfiguren durch die Eigenart ihrer Sprechweise so lebendig erscheinen, ist nicht zuletzt auch das Verdienst einer adäquaten Übersetzung durch Roland Fleissner. Nicht zu Unrecht erscheint er hier wohl als erster Science-Fiction-Übersetzer bei Heyne schon auf dem Tielblatt des Buches.

Der Autor

Robert Silverberg, geboren 1936 in New York City, ist einer der Großmeister unter den SF-Autoren, eine lebende Legende. Er ist seit 50 Jahren als Schriftsteller und Antholgist tätig. Seine erste Erfolgsphase hatte er in den 1950er Jahren, als er 1956 und 1957 nicht weniger als 78 Magazinveröffentlichungen verbuchen konnte. Bis 1988 brachte er es auf mindestens 200 Kurzgeschichtenund Novellen, die auch unter den Pseudonymen Calvin M. Knox und Ivar Jorgenson erschienen.

An Romanen konnte er zunächst nur anspruchslose Themen verkaufen, und Silverberg zog sich Anfang der 60er Jahre von der SF zurück, um populärwissenschaftliche Sachbücher zu schreiben: über 63 Titel. Wie ein Blick auf seine „Quasi-offizielle Webseite“ www.majipoor.com enthüllt, schrieb Silverberg in dieser Zeit jede Menge erotische Schundromane.

1967 kehrte er mit eigenen Ideen zur SF zurück. „Thorns“, „Hawksbill Station“, „The Masks of Time“ und „The Man in the Maze“ sowie „Tower of Glass“ zeichnen sich durch psychologisch glaubwürdige Figuren und einen aktuellen Plot aus, der oftmals Symbolcharakter hat. „Zeit der Wandlungen“ (1971) und „Es stirbt in mir“ (1972) sind sehr ambitionierte Romane, die engagierte Kritik üben.

1980 wandte sich Silverberg in seiner dritten Schaffensphase dem planetaren Abenteuer zu: „Lord Valentine’s Castle“ (Krieg der Träume) war der Auftakt zu einer weitgespannten Saga, in der der Autor noch Anfang des 21. Jahrhunderts Romane schrieb, z.B. „Lord Prestimion“.

Am liebsten sind mir jedoch seine epischen Romane, die er über Gilgamesch (Gilgamesh the King & Gilgamesh in the Outback) und die Zigeuner („Star of Gypsies“) schrieb, auch „Tom O’Bedlam“ war witzig. „Über den Wassern“ war nicht ganz der Hit. „Die Jahre der Aliens“ wird von Silverbergs Kollegen als einer seiner besten SF-Romane angesehen. Manche seiner Romane wie etwa „Kingdoms of the Wall“ sind noch gar nicht auf Deutsch erschienen.

Als Anthologist hat sich Silverberg mit „Legends“ (1998) und „Legends 2“ einen Namen gemacht, der in der Fantasy einen guten Klang hat. Hochkarätige Fantasyautoren und –autorinnen schrieben exklusiv für ihn eine Story oder Novelle, und das Ergebnis kann sich durchaus sehen lassen. Der deutsche Titel von „Legends“ lautet „Der 7. Schrein“ bzw. „Legenden“.

Taschenbuch: 460 Seiten
Originaltitel: Tom O’Bedlam, 1985
Aus dem Englischen von Roland Fleissner
ISBN-13: 978-3453009691

www.heyne.de

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