Robert Silverberg – Zeit der Wandlungen


Das verbotene Wort *Ich*

Der SF-Roman wurde 1971 mit dem Nebula Award, dem wichtigsten Kritiker-Preis des Science-Fiction-Genres, ausgezeichnet. Dennoch ist das Thema doch etwas bitter und deprimierend: Es geht um die seelischen Herausforderungen, die ein hochrangiger Angehöriger einer kollektivistischen Gesellschaft (nur das Ganze zählt, der Einzelne nichts) auszustehen hat, sobald er mit dem „Virus“ des Selbst-Bewusstseins infiziert worden ist. Er wird zum Ausgestoßenen, doch es erweist sich, dass sich an der Frage des Individualismus der Fortbestand der Welt Borthan entscheidet…

Der Roman wurde 1971 mit dem NEBULA Award ausgezeichnet, einem Preis der Kritiker und Autoren. Die LESER waren wohl weniger überzeugt davon…

Der Autor

Robert Silverberg, geboren 1936 in New York City, ist einer der Großmeister unter den SF-Autoren, eine lebende Legende. Er ist seit 50 Jahren als Schriftsteller und Anthologist tätig. Seine erste Erfolgsphase hatte er in den 1950er Jahren, als er 1956 und 1957 nicht weniger als 78 Magazinveröffentlichungen verbuchen konnte. Bis 1988 brachte er es auf mindestens 200 Kurzgeschichten und Novellen, die auch unter den Pseudonymen Calvin M. Knox und Ivar Jorgenson erschienen.

An Romanen konnte er zunächst nur anspruchslose Themen verkaufen, und Silverberg zog sich Anfang der 60er Jahre von der SF zurück, um populärwissenschaftliche Sachbücher zu schreiben: über 63 Titel. Wie ein Blick auf seine „Quasi-offizielle Webseite“ www.majipoor.com enthüllt, schrieb Silverberg in dieser Zeit jede Menge erotische Schundromane.

1967 kehrte er mit eigenen Ideen zur SF zurück. „Thorns“, „Hawksbill Station“, „The Masks of Time“ und „The Man in the Maze“ sowie „Tower of Glass“ zeichnen sich durch psychologisch glaubwürdige Figuren und einen aktuellen Plot aus, der oftmals Symbolcharakter hat. „Zeit der Wandlungen“ (1971) und „Es stirbt in mir“ (1972) sind sehr ambitionierte Romane, die engagierte Kritik üben.

1980 wandte sich Silverberg in seiner dritten Schaffensphase dem planetaren Abenteuer zu: „Lord Valentine’s Castle“ (Krieg der Träume) war der Auftakt zu einer weitgespannten Saga, in der der Autor noch Anfang des 21. Jahrhunderts Romane schrieb, z.B. „Lord Prestimion“.

Am liebsten sind mir jedoch seine epischen Romane, die er über Gilgamesch (Gilgamesh the King & Gilgamesh in the Outback) und die Zigeuner („Star of Gypsies“) schrieb, auch „Tom O’Bedlam“ war witzig. „Über den Wassern“ war nicht ganz der Hit. „Die Jahre der Aliens“ wird von Silverbergs Kollegen als einer seiner besten SF-Romane angesehen. Manche seiner Romane wie etwa „Kingdoms of the Wall“ sind noch gar nicht auf Deutsch erschienen.

Als Anthologist hat sich Silverberg mit „Legends“ (1998) und „Legends 2“ einen Namen gemacht, der in der Fantasy einen guten Klang hat. Hochkarätige Fantasyautoren und -autorinnen schrieben exklusiv für ihn eine Story oder Novelle, und das Ergebnis kann sich durchaus sehen lassen. Der deutsche Titel von „Legends“ lautet „Der 7. Schrein“ bzw. „Legenden“

Handlung

Auf dem Planeten Borthan hat sich aus religiösen Wurzeln eine Kultur entwickelt, in der es streng verboten ist, Gefühle zu äußern. Es ist undenkbar, von sich selbst zu sprechen. Das Wort „ich“ ist tabu. Damit die Seele jedoch nicht einsam ist, werden borthanische Adlige bereits vor ihrer Geburt mit einem Bundbruder und einer Bundschwester verbunden. Da Kinnall Darival einer der zwei Söhne eines hochrangigen Adligen in Salla City ist, wird er mit hochrangigen Adligen verbündet. Dieser Bund dauert sein ganzes Leben. Natürlich haben die anderen ebenfalls Bundschwestern und -brüder, so dass ein ganzes Netzwerk von Bünden die borthanische Gesellschaft zusammenhält.

Sein Bundbruder Noim ist das körperliche und geistige Gegenteil Kinnalls: schlank, wendig, ungeduldig, wo Kinnall massig, muskulös und langsam ist. Seine Bundschwester Halum, eine dunkelhaarige Schönheit, ist hingegen Kinnalls ganze Freude – und mehr als das. Er begehrt sie wie all die anderen jungen Frauen, die er bereits gehabt hat. Doch mit einer Bundschwester zu schlafen, ist strengstens verboten.

Die Flucht

Auf der alljährlichen Jagd auf den gefährlichen Hornvogel, die der Septarch, Kinnalls Vater, veranstaltet, wird der Septarch tödlich von einem heimtückisch angreifenden Tier tödlich verwundet. Die Trauerzeit dauert drei Monate, danach gehen noch einmal drei Monate für die Feiern anlässlich der Thronbesteigung von Kinnalls älterem Bruder Stirron ins Land. Kinnall weiß aus den Geschichtsbüchern, dass er seines Lebens nicht mehr sicher ist und transferiert mit Halums und Noims Hilfe sein Vermögen ins Nachbarland Glin. Dort will er im Exil leben.

Als er seinen Bruder um Erlaubnis fragt, ist Stirron bereits dem Wahnsinn der Paranoia verfallen. Noch in der gleichen Nacht macht er sich mit Noim auf, um Salla City zu verlassen. Beim Abschied drückt sich Halum in eindeutig sexuell aufreizender Form an ihn. Seine Förmlichkeit und Zurückhaltung brüskieren sie. Um seine Schuldgefühle auf diskrete Weise abzuschütteln, schüttet er sein Herz einem Kontrakt-Reiniger in einem Gotteshaus aus. „Seelenpisser“, verspottet ihn Noim.

Glin

Aus Glin stammte seine Mutter, und deren Schwester versucht, ihm eine Position in einer Treuhänderbank zu verschaffen. Der Plan schlägt fehl, weil der Septarch von Glin es sich nicht mit Stirron verderben will. Mittellos und von Stirrons Schergen verfolgt, nutzt Kinnall die Gelegenheit, sich einem Holzfällertrupp anzuschließen. Über ein Jahr lang schuftet er schwer, bleibt aber unentdeckt – bis ihn eine der Freudenmädchen, die regelmäßig ins Lager kommen, den „Prinzen“ entdeckt. Da er nicht mehr sicher ist, verhilft ihm der Vorarbeiter zur Flucht. Kinnall schifft sich nach Manneran ein, der schönen Südprovinz, wo der beste Wein der Welt gekeltert wird. Selbst in den Salla-Häfen wo das Schiff anlegt, erkennt man ihn nicht.

Manneran

Im warmen, angenehmen Manneran lebt die Familie seiner Bundschwester Halum. Deren Vater ist der Hafenrichter, und da aller Handel vom Hafen abhängt, verfügt Segvord Helalam über sehr viel Macht – vielleicht sogar über mehr als der Erste Septarch von Manneran selbst. Sobald Segvord Kinnall unter dem Vollbart erkannt hat, ist er hoch erfreut – und macht ihn zu seinem Privatsekretär. In dieser schlecht bezahlten, aber gut „geschmierten“ Position erwirbt sich Kinnall die Kenntnisse, um schließlich Segvords Nachfolger dienen zu können, einer Marionette. Fortan ist Kinnall der mächtigste Mann in Manneran.

Und nachdem er Halums Kusine Loilam, die seiner Bundschwester zum Verwechseln ähnlich sieht, geheiratet hat, besitzt er auch einen Abglanz dessen, was sein Herz seit jeher begehrt: Halums Geist und Körper. Nach fünf Kinder entfremdet er sich von seiner Frau, so dass ihn die Bekanntschaft mit dem Erdenmenschen Schweiz in einer Situation trifft, in der seine Seele Hunger leidet.

Schweiz

Der Händler Schweiz ist ein Gottsucher. Die Tatsache, dass die Borthaner einen Kontrakt geschlossen haben, um ihren Göttern mit Selbstverleugnung zu dienen, fasziniert ihn und macht ihn zugleich neidisch. Gleichzeitig zeigt sich Kinnall von Schweiz‘ Fähigkeit angetan, das verbotene Wort „Ich“ auszusprechen, ohne schamrot anzulaufen. Immer wieder trifft er sich mit ihm, um sich auszutauschen. Das einzige Thema, das für ihn tabu ist, lautet: Halum bzw. sein Begehren nach seiner Bundschwester, das ebenso verboten ist wie das Wort „Ich“.

Die Droge

Schweiz fordert Kinnall zu einem, wie er es nennt, „Experiment“, heraus: Unter dem Einfluss einer Droge, die vom verbotenen Südkontinent stammt, wo die Abtrünnigen leben, offenbart Kinnall seine innersten Gefühle – vorerst nur Schweiz. Doch sobald ein Borthaner erführe, würde man ihn zum Tod verurteilen.

Ausblick

Kinnall Darival wird zum Ausgestoßenen, einem Verräter an seinem Land und an seiner Kultur. Dieses Buch sind seine Memoiren, die er im Exil schreibt. Aber mit seinem Schicksal scheint auch die Zukunft des Planeten verknüpft zu sein. Das Schicksal von Borthan ist mit jener Droge gekoppelt, die die verdrängten Gefühle an die Oberfläche bringt. Wenn sie bekannt und allgemein verfügbar würde, könnte sie die Kultur Borthans vernichten…

Mein Eindruck

Auf seiner Flucht vor seinem Bruder erkennt der Erzähler Kinnall allmählich seine eigene Identität. Sogleich beichtet er seine Sünden und vermeintlichen Vergehen einem Beichtvater der Bruderschaft der Kontrakt-Reiniger. Bei solchen Leuten schütten Gläubige des Kontrakts mit Gott ihr Herz aus. Doch das, was Kinnall da weitergibt, wird immer ketzerischer und übler, bis ihn schließlich ein Kontrakt-Reiniger verrät und die Häscher ihn zu verfolgen beginnen. Die Wahrheit macht unseren Helden also keineswegs frei, sondern treibt ihn ins Niemandsland der Wüste.

Zusammen mit dem Ausländer Schweiz wird Kinnall nicht etwa zum Propheten in Borthan, sondern zu einem Dissidenten und Drogenverteiler, ein Pusher. Die Droge öffnet den Geist und erlaubt es, dass sich zwei Bewusstseine einander öffnen. Natürlich ist das riskant, aber auch wahnsinnig befreiend. Es geht um Vertrauen, das man gewährt und das man, wenn man Glück hat, gewährt bekommt. Das Gegenteil von Vertrauen ist Kontrolle. Diese wird von Kinnalls Bruder, seiner Kirche und seiner Geheimpolizei ausgeübt. Das macht den Roman zu einer Art Agententhriller, zumindest für eine kurze Spanne.

Neben den Reisen, den Drogen und dem Sex spielt die zwischenmenschliche Interaktion eine wesentliche Rolle für die Geschichte, die Kinnall in raffiniert aneinander gereihten Häppchen und Bruchstücken serviert. Diese Interaktionen zeigen uns Kinnall nämlich als Menschen, dem seine Bundgeschwister zunächst vertrauen, von denen er sich aber zunehmend entfremdet. Die Konsequenzen für seine „Geschwister“ werden immer heftiger, bis Halum schließlich für Kinnalls ketzerische Offenbarung den höchsten Preis zahlt. Sie kann die ultimative „Sünde“, die er laut Kontrakt an ihr begangen hat, nicht ertragen: Er verehrt sie nicht, er begehrt sie körperlich. Dass sie seine Liebe erwidert, tut nichts zur Sache. Es ist seine Schuld (zumindest in den Augen ihres Gottes). Und er muss für ihr Opfer büßen.

Die Übersetzung

Die Übersetzung ist erstaunlich fehlerfrei und somit eine Freude beim Lesen. Der einzige Fehler, den ich auf Seite 176 entdeckte, war eine Stilblüte:

S. 176: „ein Topf halbgegarter Gemüse“. Offensichtlich wird hier ein Genitiv verwendet, aber leider nicht richtig. Korrekt müsste es entweder „ein Topf halbgegarten Gemüses“ oder „halbgegarter Gemüsesorten“ heißen.

Unterm Strich

Dieses Buch stellt die Autobiografie des „Aliens“ von Borthan dar – dies ist allein schon Affront genug gegen die Gesetze, die dort gelten. Durch das Lesen des Buches macht sich der Leser quasi mitschuldig am Gedankenverbrechen Kinnalls – eine raffinierte Falle, in die der Autor seinen Leser tappen lässt. Aber das Ziel ist ja die Selbsterkenntnis des Lesers: Er bekommt einen Zerrspiegel vorgesetzt, in dem sich Werte wie Wahrheit, Identität und Freiheit auf ganz ungewohnte Weise zeigen. Seine Aufgabe besteht nun darin, sich seiner eigenen Werte zu vergewissern – und falls sie nicht vorhanden sind (etwa in einer kommunistischen Gesellschaft), sich über ihr Erlangen Gedanken zu machen. Ist die Freiheit des Ich wirklich so erstrebenswert?

Das Buch fand ich nur mäßig unterhaltsam, es ist wahrscheinlich nicht einmal das beste von Silverberg. Wesentlich unterhaltsamer ist „Lord Valentine\s Castle“ (1980), niveauvoller sind „Gesang der Neuronen“ (Thorns, 1967) und „Über den Wassern“ (ca. 1990). Die zahlreichen erotischen Szenen sorgen zwar für Nervenkitzel, bringen die Handlung aber selten weiter.

Aber dafür weiß der Autor seinen Leser mit einer anrührenden Konsequenz aus Kinnalls Handlungsweise zu erschüttern: Die angebetete Bundschwester Halum kann die Offenbarung, die Kinnall ihr zumutet, nicht verkraften. Das ist nicht der einzige Preis, den Kinnall für seine Individuelle Freiheit zahlen muss.

Taschenbuch: 251 Seiten
Originaltitel: A Time of Changes, 1971
Aus dem Englischen von Bernd Holzrichter
ISBN-13: 978-3442250424

www.Goldmann-Verlag.de

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