Robert W. Chambers – Der König in Gelb

Inhalt:

Die Lektüre eines berüchtigten Buches öffnet dem „Gelben König“ von den Sternen ein Portal, durch das er den neugierigen Leser auf Erden mit verhängnisvollen Folgen in seinen Bann ziehen kann: Sechs Storys, ein Zitat aus dem bösen Buch und einige gesammelte Fragmente verknüpfen sich zu einem Episodenroman:

– Cassildas Lied (Cassilda’s Song), S. 6/7: Einleitender Auszug aus dem ersten Akt des berüchtigten Buches „Der König in Gelb“.

– Der Wiederhersteller des guten Rufes (The Repairer of Reputations), S. 9-55: Hildred Castaigne will notfalls durch Mord anstelle seines Vetters Louis König von Amerika werden, wovon Louis zu seinem Unglück nichts ahnt, da diese Monarchie ausschließlich in Hildreds gestörtem Geist existiert.

– Die Maske (The Mask), S. 57-82: Sie liebt nicht ihren Ehemann, sondern seinen besten Freund, und weil der Gatte zufällig eine chemische Lösung entdeckt hat, mit der sich lebendes Fleisch in Marmor verwandeln lässt, nimmt der ausbrechende Konflikt eine unerwartete Wende.

– Am Hofe des Drachen (In the Court of the Dragon), S. 83-95: Während einer Messe erscheint dem Ich-Erzähler ein Scherge des Gelben Königs, um ihn daran zu erinnern, dass der Herrscher ihm seine Gunst entzogen hat – ein Akt, der zuverlässig bittere Vergeltung nach sich zieht.

– Das Gelbe Zeichen (The Yellow Sign), S. 97-124: Die unkluge Lektüre eines verbotenen Buches lenkt die Aufmerksamkeit des Gelben Königs auf einen Maler und sein Modell, woraufhin das Duo Besuch von seinem gruseligen Boten bekommt.

– Die Jungfer d’Ys (The Demoiselle d‘Ys), S. 125-147: Inmitten eines bretonischen Sumpfes lernt der Urlauber eine junge Falknerin kennen, deren Auftreten und Manieren ihn nicht grundlos erstaunlich altmodisch dünken.

– Das Paradies der Propheten (The Prophets‘ Paradise), S. 148-154: Kurze Sammlung fragmentarischer Texte, die vielleicht aus dem Buch „Der König in Gelb“ stammen.

– Die Straße der Vier Winde (The Street of the Four Winds), S. 155-164: Eine herrenlose Katze führt den seelisch versteinerten Künstler zurück zur großen, unglücklich geendeten Liebe seines Lebens.

– Michael Nagula: Robert W. Chambers – Fantast zwischen Poesie und Dekadenz, S. 165-189

Die Faszination des Argwohns

Angeblich geht es in „Der König in Gelb“ um ein ungemein gefährliches Buch: Sollte es länger als zwei Akte sein, ist dies nicht bekanntgeworden, denn der Leser, der so weit vordringen konnte, verfällt umgehend dem Wahnsinn – und dem tatsächlichen König in Gelb, sollte es ihn denn geben. Falls dem so ist, herrscht er über ein Reich weit jenseits des Sonnensystems, ist aber auch auf Erden präsent, wenn man ihn durch die Lektüre ‚seines‘ Buches ruft. Dieser König ist ein schreckerregendes Wesen, das Dankbarkeit nicht kennt, sondern bedingungslose Unterwerfung und Gehorsam fordert. Die Nichtbefolgung seiner Befehle zieht grausame Strafen nach sich, die durch unmenschliche Erfüllungsgehilfen vollzogen werden; manchmal legt der König selbst Hand an („Am Hofe des Drachen“).

Über ihm steht Hastur, eine Kreatur von kosmischer Kraft, deren Handlungsmotive wohl nicht einmal der König begreift. Hastur ist Herr über Raum und Zeit und kann die Realität verändern. Glücklicherweise ist er weniger aggressiv als der König und beschränkt sich in der Regel auf die Rolle des Beobachters.

Viel mehr weiß man über den König, sein Reich Carcosa, seine Töchter (?) Cassilda und Camilla, Hastur oder das Gelbe Zeichen nicht. Robert W. Chambers hat nur Bruchstücke des fiktiven, von ihm geschaffenen Wunder- und Höllenwerkes bekanntgegeben – und genau dadurch einen modernen Mythos geschaffen.

Faktisch könnten die unter dem Titel „Der König in Gelb“ gesammelten Geschichten problemlos ohne die Klammer des gleichnamigen Teufelsbuches auskommen. Ohnehin bleibt es manchmal bloße, unerwähnte Ahnung. („Die Straße der Vier Winde“). In „Die Jungfer d’Ys“ beschränkt sich seine Präsenz auf einen Diener, der den Namen „Hastur“ trägt. Ist er identisch mit dem mächtigen Wesen von den Sternen? Wir können es annehmen, aber es muss nicht zutreffen: Die Entscheidung liegt bei uns, den Lesern.

Genau das ist der Auslöser, der diese Sammlung 1895 in die Umlaufbahn eines literarischen Klassikers katapultierte. Der Mensch liebt Zusammenhänge, und das Hirn ist darauf trainiert sie herzustellen. Dabei kommt es zu Fehlinterpretationen und Fehlern, die ihrerseits für interessante Deutungen sorgen. Über den „König in Gelb“ – das Wesen und das Buch – wird seit mehr als einem Jahrhundert gerätselt. Eine Auflösung kann es nicht geben. Deshalb wird sich dieses Spiel fortsetzen: Einen Spielverderber gibt es nicht!

Müde der Welt und des Lebens

Auch ohne den Mythos sind Chambers Geschichten spannend. Er zeigt sich als Repräsentant jener künstlerischen Epoche, die „Dekadentismus“ oder „Fin de Siècle“ genannt wird. Hauptsächlich von Frankreich ausgehend, erfuhr sie ab 1890 weite Verbreitung, bis ihr die gnadenlose Realität des Ersten Weltkriegs 1914 den Garaus machte. Ihre Anhänger zelebrierten ein besonders Lebensgefühl, das sich aus der Überzeugung speiste, in einer Zeit zu leben, die der Kunst die Wurzeln gekappt hatte. Der stürmische Aufschwung der Naturwissenschaften und der daraus resultierende Glaube, die Lösung sämtlicher Rätsel dieser Welt stünde bevor, ließ bei denen, die das (durch die Kunst geadelte) Mysterium der Ungewissheit liebten, eine Untergangsstimmung aufkommen: Bald würden sie überflüssig sein!

Also feierten die Endzeit-Jünger, solange sich der Fin de Siècle noch nicht zum Kreis geschlossen hatte. Dass es niemals soweit kommen würde, war 1895 nicht abzusehen. Als wenige Jahre später andere Säue durch das Dorf getrieben wurden, hatte auch Chambers längst umgesattelt – er schrieb nun Liebesgeschichten, Historienromane, Kinderbücher und Science-Fiction-Thriller.

Doch der „König in Gelb“ atmet schiere Dekadenz, selbst wenn sie ‚nur‘ von einem talentierten Schriftsteller inszeniert wird. Mehrfach greift Chambers auf seine Lehrjahre als Maler zurück, die er standesgemäß in Paris verlebte. Fern der Heimat konnte sich der puritanische US-Bürger unter die Bohème mischen und auf gallische Gegenliebe hoffen: Völlig selbstverständlich und entspannt zieht sich die junge Tessie als Aktmodell für den Maler Scott aus, ohne dafür gesellschaftliche Ächtung fürchten zu müssen („Das gelbe Zeichen“).

Erstaunliches Unbehagen erzeugt auch heute „Der Wiederhersteller des guten Rufes“. Es liegt nicht nur an der präzisen Schilderung eines wahnhaften Verfalls, sondern auch an der seltsamen Kulisse: Chambers verlegt die Handlung in ein (zur Entstehungszeit) fiktives New York der Zukunft. In diesem Jahr 1920 sind die USA zur militärischen und wirtschaftlichen Weltmacht aufgestiegen. Innenpolitisch wurden aufbegehrende Minderheiten wie Juden und Schwarze buchstäblich ausgegrenzt und vertrieben. Die Stadt präsentiert sich als großzügig neu und prächtig bebaute, dabei aber leblose und unwirtliche, von Slums und Gettos ‚gesäuberte‘ Metropole, deren Bürger just eine Neuerrungenschaft bestaunen: die „Todeskammer“, in der Selbstmörder ohne Schmutz und Störung der Mitmenschen ihrem Leben ein Ende bereiten können. (Damit hat Chambers offensichtlich Spuren hinterlassen: bis in die Zeichentrick-Sitcom „Futurama“.)

Das Böse im Hintergrund

Ohne Erdung durch die Kenntnis seiner Wurzeln kippt die Depression des Fin de Siècle leicht ins Übertriebene und Lächerliche, weshalb er von seinen Gegnern gern und oft geistreich karikiert wurde. Ein Zuviel der Dekadenz um der Dekadenz willen demonstriert auch Chambers mit „Das Paradies der Propheten“, einer Mini-Kollektion erratischer Szenenbilder, die keinen Sinn ergeben, sondern in melancholisch unterhaltsame Verwirrung versetzen sollen. Dennoch sorgte der König dafür, dass er der Vergessenheit entrann. Selbst der strenge H. P. Lovecraft (1890-1937), der dem Fin de Siècle rein gar nichts abgewinnen konnte, war beeindruckt von Chambers Geschick, durch sparsame Verweise auf ein fiktives Werk einen Überbau schaffen, unter dem er die einander ‚überlappenden‘ Geschichten auf ein neues Niveau hob.

Nicht nur aber vor allem Lovecraft orientierte sich an Chambers, als er in eigenen Storys immer wieder das ebenfalls fiktive „Necronomicon“ erwähnte und zitierte. Darüber hinaus übernahm Lovecraft Orts- und Personennamen aus dem „König“, weshalb seine Geschichten plötzlich wie Fragmente einer großen aber weitgehend mysteriösen Parallel-Historie wirkten. Auch bestimmte Schreckensszenen setzten sich in Lovecrafts Hinterkopf fest. Interessant ist beispielsweise diese Parallele zwischen Chambers „Das gelbe Zeichen“ und Lovecrafts „Das Ding auf der Schwelle“ („The Thing on the Doorstep“, 1933/37): Der turbulenten Auflösung folgt ein Twist, der den Schrecken noch einmal steigert, ohne detailliert zu werden. Wie Chambers schätzte Lovecraft das nur schattenhaft erkennbar werdende Fremde, das auf diese Weise seinem wahren Horror bewahrte.

Da Lovecraft Mentor eines Zirkels befreundeter Autoren war, folgten diese oft seinem Beispiel. Vor allem August Derleth (1909-1971) hat in seinem Drang, Lovecraft – der auf die Kraft des Imaginären, nur ansatzweise Fassbaren schwor – zu ‚bändigen‘, die chaotisch-kosmischen Kräfte seines Mentors ‚geordnet‘ und dabei auch die adaptierten Kreaturen in einen gut sortierten ‚Götterhimmel‘ gezwungen. Derleth schwebte die Schaffung eines ‚Super-Mythos‘ vor. Stattdessen raubte er dem Übernatürlichen die absolute Fremdheit, die es so furchterregend machte.

Noch unmittelbarer bediente sich die Science-Fiction-Autorin Marion Zimmer Bradley (1930-1999) des „Königs“ in der immerhin 24-bändigen „Darkover“-Saga (1962-2002). Ungeachtet solchen kontraproduktiven Übereifers sind der König und sein Reich überall und nirgends präsent geblieben. Längst haben sie das bedruckte Papier hinter sich gelassen. Ihre Spuren finden sich in Musikstücken, Filmen oder Computerspielen.

Der König kehrt zurück

Ungeachtet des Rufes, den „Der König in Gelb“ seit 1895 genoss, ist Chambers Meisterwerk hierzulande erst 1982 erstmals erschienen. Diese Ausgabe war – obwohl ‚nur‘ ein Taschenbuch – gut übersetzt und wurde durch Innenillustrationen aufgewertet, verschwand aber recht bald vom Buchmarkt.

Erst im 21. Jahrhundert kehrte der König zurück. Die neue (und sorgfältig neu übersetzte) Fassung von 2002 beinhaltete als ‚Bonus‘ sogar eine weitere Sammlung Chamberscher Gruselgeschichten („The Mystery of Choice“, 1897; dt. „Das Mysterium der Vorlieben“) in deutscher Erstausgabe.

2014 wurde der „König in Gelb“ separat neu aufgelegt. Aus der genannten Ausgabe übernommen wurde glücklicherweise ein ausgezeichneter Beitrag von Michael Nagula, der Chambers als Menschen, Künstler und Schriftsteller vorstellt. Der Band ist schön gestaltet, sauber gedruckt und wird dem Klassikerstatus des Inhalts gerecht; ein Status allerdings – dies sei angemerkt -, den der moderne Leser für übertrieben halten könnte: Vieles, das Chambers schuf, hat längst Eingang in die Populärkultur gefunden oder ist sogar zum Klischee herabgesunken, und der Fin-de-Siècle-Stil ist – obwohl durch die Übersetzung geschickt gemildert – gewöhnungsbedürftig. Doch dafür ist Chambers ebenso wenig verantwortlich wie für die weitgehende Abwesenheit von Gewalt und Sex. Sie werden durch eine Atmosphäre morbider Dramatik ersetzt, für die man eine Antenne besitzen sollte. Die Belohnung wird nicht ausbleiben.

Autor

Robert William Chambers wurde am 26. Mai 1865 quasi als Prinz in eine US-amerikanische Prominentenfamilie geboren. Zu seinen Vorfahren gehörten der Gründer der Stadt Providence im Staat Rhode Island, sein Vater war ein berühmter Jurist, sein Bruder wurde ein bekannter Architekt.

In diesem familiären Umfeld musste sich Robert nicht verstecken. Er galt als Wunderkind, lernte schon in sehr jungen Jahren das Lesen und entwickelte vielversprechende künstlerische Ambitionen. Ab 1885 besuchte Chambers die „Arts Students League of New York“ und setzte sein Studium der Kunst und der Malerei zwischen 1886 und 1893 in Paris fort. Seine Werke wurden ausgestellt, doch als Chambers nach New York zurückkehrte, machte er sich vor allem einen Namen als Illustrator für bekannte Magazine wie „Life“ und „Vogue“.

Zwar hatte Chambers bereits 1887 einen ersten Roman geschrieben. Doch erst in den USA wurde er nicht nur ein Schriftsteller, sondern ein Bestseller-Autor. Die Malerei ließ Chambers ruhen. Er schrieb stattdessen Unterhaltungsromane, wobei er problemlos von Genre zu Genre sprang. Beinahe 90 Bücher erschienen in den nächsten Jahrzehnten, die ein zahlenstarkes Publikum fanden, das Chambers zu einem wohlhabenden Mann machte.

Die Literaturkritik lässt nur wenige bzw. eigentlich nur einen seiner Titel gelten: 1895 gelang Chambers mit dem Episoden-Roman „The King in Yellow“ (dt. „Der König in Gelb“) ein sensationeller Erfolg, den er nie wiederholen konnte. Nur dieses eine Mal kamen Chambers Talent und der zeitgenössische Publikumsgeschmack zur völligen Deckung. „Der König in Gelb“ wurde zum Mythos, den bis auf den heutigen Tag zahlreiche Autorenkollegen aufleben lassen.

Chambers Produktivität blieb bis zu seinem Tod ungebrochen. Gattin Elsa Vaugh Moller, mit der er seit 1898 verheiratet war, konnte den Markt noch mehrere Jahre mit unveröffentlichtem Material versorgen. Robert W. Chambers starb am 16. Dezember 1933 nach einer Darmoperation.

Paperback: 189 Seiten
Originaltitel: The King in Yellow (Chicago – New York : F. Fennyson Neely 1895)
Übersetzung: Andreas Diesel
www.festa-verlag.de

eBook
ISBN-13: 978-3-86552-333-4
www.festa-verlag.de

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