Roland Huntford – Scott & Amundsen. Dramatischer Kampf um den Südpol

Zwei Männer aus unterschiedlichen Welten

Im Jahre 1909 gibt es auf der Erde nur noch wenige markante Punkte, auf die der Mensch keinen Fuß gesetzt hat. Zu ihnen zählt der Südpol. Um sein nördliches Gegenstück ist gerade ein verbissener und mit unredlichen Methoden geführter Wettlauf unrühmlich zu Ende gegangen. Wie sich zeigen wird, war dies ein ausgezeichneter Vorgeschmack auf die Ereignisse, die kurze Zeit darauf in der Antarktis folgen. Dort zeichnet sich eine Neuauflage des Polarsturms ab. Zwei Männer, wie sie unterschiedlicher nicht sein können, schicken sich an, diese historische Entdeckungsfahrt zu unternehmen.

Roald Amundsen wird 1872 in Norwegen geboren, einem damals unbedeutenden, armen und nicht einmal unabhängigen Land. Der Seemannssohn ist der geborene Entdecker. Schon in seiner Jugend zieht es ihn in die Polarwüste. Mit der ihm eigenen Mischung aus Energie und Umsicht bereitet sich Amundsen systematisch auf die Anstrengungen einer solchen Reise vor und lernt von den wenigen Bewohnern der eisigen Wildnis. Fest aber flexibel in seinen Ansichten, wächst genau der Mann heran, der das Zeug zum Bezwinger des Südpols mitbringt.

In einer ganz anderen Welt scheint dagegen der vier Jahre ältere Robert Falcon Scott zu leben. Das britische Empire steht auf dem Höhepunkt seiner Macht, doch sein Niedergang beginnt sich bereits abzuzeichnen. Britannien herrscht über ein Weltreich, in dem die Sonne buchstäblich nie untergeht, aber es knirscht mächtig im Getriebe der Macht. An der Schwelle zum Industrie-Zeitalter wird England weiterhin geprägt durch ein starres Kastensystem und finanziert durch die Ausbeutung der weltumspannenden Kolonien. Das System ruht in sich selbst und erstickt jeden frischen Wind bereits im Keim. In diesem Reich ist Initiative weder gefragt noch erforderlich.

Grausame Lektion für (allzu) stolze Eroberer

Für die Marine gilt das in besonderem Maße. Immer noch dem Geist von Lord Nelson verpflichtet, stellt sie einen Hort betont und stolz gepflegter Rückständigkeit dar. Nur in diesem antiquierten Ambiente kann sich Robert Scott entfalten. Er ist ein Mann bar eigener Ideen, wie sie Amundsen unter Beweis stellt. Bestimmend in Scotts Leben ist vor allem sein brennender Ehrgeiz. Wie Amundsen aus kleinen Verhältnissen stammend, sucht er sein Heil in der Polarforschung – dies aber nicht wie der Norweger aus Überzeugung: Hier ist ein Gebiet, auf dem er sich profilieren kann. Dieser zweckbestimmte Opportunismus wird sich für Scott und seine Begleiter am Südpol als tödlich erweisen.

Das Rennen um den Pol ist im Grunde keines. Scott hat verloren, bevor er überhaupt antritt. Amundsen hat sich gewissenhaft auf die Entdeckungsfahrt vorbereitet. Taktisch brillant und wie ein Uhrwerk erfolgt sein Vorstoß, der erwartungsgemäß im Dezember 1911 erfolgreich im Erreichen des Pols gipfelt und mit der glücklichen Rückkehr aller Expeditionsteilnehmer endet. Dem schlecht vorbereiteten Scott und seinen unglücklichen Begleitern bleibt nur der zweite Platz. Dem folgt ein grausamer Hunger- und Kältetod auf dem kaum gesicherten Rückzug.

Sein echtes Talent spielt Robert Scott auf dem Totenbett aus: Anders als Amundsen ist er ein hochbegabter Schriftsteller. Er hinterlässt eine Flut von Briefen, die allesamt das Bild eines redlich gescheiterten Helden und Märtyrers der Forschung zeichnen. Selbsttäuschung und Lüge sprechen aus seinen Worten, aber in der von Nationalismus geprägten Welt von 1912 fallen sie besonders im britischen Heimatland auf fruchtbaren Boden.

Ein gut genutzter Heldentod

Scott, der tragisch gescheiterte Held, geht in die Geschichte ein, wie er es geplant hat. Noch heute überstrahlt sein Ruhm den des nüchternen Amundsen, dem das Glück des Tüchtigen nur bedingt den verdienten Rang in der Geschichte sichern konnte. Der tote Robert Falcon Scott ist ein idealer Stützpfosten im morschen Gebälk des Empires, während man ihn als überlebenden ‚Verlierer‘ des Südpolsturmes mit Schimpf und Schande davongejagt hätte.

Die Geschichte von Scott und Amundsen ist eine faszinierende Episode der Geschichte. Der Journalist und Historiker Roland Huntford (geb. 1927) veröffentlichte die Doppelbiografie der beiden Entdeckungsreisenden erstmals 1979. In seinem britischen Heimatland entfachte er einen beispiellosen Entrüstungssturm. Noch aus dem Grabe heraus bewies Robert Scott, der stümperhafte Polarforscher, wie begabt er bei der Erschaffung seines eigenen Mythos’ gewesen war. Die Öffentlichkeit war jedoch nicht bereit, die Entzauberung ihres bis in die Schulbücher besungenen Volkshelden zu akzeptieren.

Doch Huntford hatte mit offenkundiger Gründlichkeit die zur Verfügung stehenden Quellen herangezogen und ausgewertet. Dies kostete ihn Jahre, aber das Ergebnis war und ist der Mühe wert: Als Leser wird man schon nach wenigen Seiten überwältigt von der geradezu stupenden Dichte des vorgelegten Materials. Huntfords Buch weist Amundsen einerseits den Platz in der Geschichte zu, der ihm gebührt. Weitaus interessanter ist allerdings der nüchterne Blick auf Robert Scott. Huntfords Urteil ist durchaus erbarmungslos und wird durch die Quellen gestützt: Scott war ein schwacher und unglücklicher Mann, ein ehrgeiziger Dummkopf und ein Blender, der nicht nur sich, sondern auch seine Gefährten praktisch planvoll in einen furchtbaren Tod führte und trieb.

Die nicht unbedingt geliebten Tatsachen

Die Öffentlichkeit ließ sich nach 1912 durch Scotts ‚Testament‘ täuschen; das zweifellos tragische und emotionale Ende wurde lange nicht sachlich durchleuchtet. Roland Huntford ließ dem Heldenepos Jahrzehnte später keine Chance mehr. Die Kritiker mussten seit dem ersten Erscheinen von „Scott & Amundsen“ klein beigeben. Huntfords Meisterwerk wurde seitdem mehrfach aufgelegt.

Die Geschichte der Polarforschung ist seit 1979 vorangeschritten. Huntford entschloss sich 1999 daher, sein Buch zu überarbeiten. Zwei Jahrzehnte Rezeptionsgeschichten flossen in diese Fassung ein. Huntford bewies, dass sich Perfektion durchaus noch steigern lässt.

Der Heyne-Verlag griff glücklicherweise auf die Fassung von 1999 zurück. Die Paperback-Ausgabe umfasst knapp 600 eng bedruckte Seiten, die sich spannender als mancher Roman und ohne Längen lesen. Ergänzt wird der zudem vorzüglich übersetzte Text durch eine Fülle informativer Karten und zeitgenössischen Schwarzweiß-Fotos.

Das geht zu weit!

Bei solcher Virtuosität wirken kleine Makel geradezu beruhigend. So verwundert es, dass Huntford das Zeitalter der Entdeckungsjagden mit der Eroberung des Südpols abgeschlossen sieht. Dabei begann kaum ein Jahrzehnt später das unwürdige Schauspiel erneut, als der Wettlauf zum Mount Everest, dem höchsten Berg der Erde – den man auch den „Dritten Pol“ nannte – einsetzte. Nationalstolz und Nationalismus, falsch verstandener Heldenmut, Inkompetenz und tragisches Scheitern auf der einen, sorgfältige Vorbereitung, glänzende Strategie und das Glück des Tüchtigen auf der anderen Seite: Es war, als habe niemand etwas dazugelernt.

Ein wenig ins Grübeln kommt man über das kontroverse bis polemische, keineswegs von allen Polar-Experten geteilte Charakterbild Robert F. Scotts. Das verkrustete Gesellschaftssystem seiner Zeit, die dazu gehörenden Seilschaften und Scotts skrupelloser Drang nach ‚oben‘ können ihn 1912 nicht bis zum Pol geführt haben. Huntford lässt kein gutes Haar an Scott – kein einziges. Er stellt Scotts Leben von der Geburt bis zum Tod als ununterbrochene Kette von Missgeschicken, persönlichen Schwächen und unverdienten Glücksfällen dar.

Dennoch muss auch er zugeben, dass Scott es letztlich zum Südpol geschafft hat; ‚nur‘ als Zweiter, aber er war dort. War Scott, der kühne Entdeckungsreisende und tragische Held, von A bis Z seine eigene Schöpfung? Oder war da trotz aller Fehler doch etwas mehr Substanz, als der Biograf Huntford ihm zugestehen möchte? Quellen lügen nicht, aber sie können selbst bei gutem Willen missdeutet oder fehlinterpretiert werden. Vielleicht sind solche Zweifel aber auch der ferne Nachhall des Mythos’ Robert Scott, der selbst vor den nackten Fakten hartnäckig weiter bestehen will. Inzwischen neu entdeckte Unterlagen legen nahe, dass Scott professioneller vorging, als Huntford ihm zugestehen mochte.

Autor

Roland Huntford wurde 1927 als Roland Horwitch 1927 in Kapstadt, Südafrikan geboren, wo sein Vater eine Farm führte. Nach dem II. Weltkrieg ging Huntford nach London und studierte Physik. Ohne Abschluss siedelte er nach Italien um und kehrte erst in den 1950er Jahren nach England zurück. Dort erwachte sein Interesse für die Geschichte des hohen Nordens und seine Literatur. Huntford bereiste die skandinavischen Länder und schrieb darüber für Zeitungen. 15 Jahre war er Auslandskorrespondent der Zeitung „The Observer“ für die Bereiche Politik und Sport.

Hauptberuflicher Schriftsteller wurde Huntford Mitte der 1970er Jahre. Für seine Doppelbiografie der Südpol-Entdecker Robert F. Scott und Roald Amundsen zog er nach Cambridge, wo er u. a. auf das Archiv des „Scott Polar Research Institute“ (SPRI) zugreifen konnte. Das Buch wurde ungeachtet der Kritik an Huntfords ungemein negativer Zeichnung Scotts ein internationaler Bestseller. Es folgten weitere Bücher über die Polarforscher Ernest Shackleton und Fridtjof Nansen sowie ein Werk über den Winterkrieg (1939/40) zwischen Finnland und der Sowjetunion.

Roland Huntford, inzwischen Senior Member des Wolfson College, lebt und arbeitet weiterhin in Cambrigde.

Paperback: 571 Seiten
Originaltitel: Scott & Amundsen (London : Hodder & Stoughton 1979) bzw. The Last Place on Earth – Scott and Amundsen’s Race to the South Pole, New York : Modern Library 1999)
Übersetzung: Arnold Loos/Ulrike Laszlo
www.randomhouse.de/heyne

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