Krimiklassiker: Kalifornien im Endstadium
Ein junges Pärchen nimmt den kleinen Jungen der Nachbarin mit sich, und die wendet sich an Privatdetektiv Archer um Hilfe. Doch der scheinbar simple Fall einer Kindsentführung führt Archer geradewegs zu einem Verbrechen, das vor 15 Jahren in dieser Familie geschah und das bis heute Opfer fordert, weil es ungesühnt ist.
Der Autor
Ross Macdonald, John Macdonald oder auch John Ross Macdonald (* 2. Juni 1915 als Kenneth Millar in Los Gatos, Kalifornien; † 11. Juli 1983 in Santa Barbara, Kalifornien) war ein US-amerikanischer Schriftsteller und Dozent. Ross Macdonald hieß eigentlich Ross Millar und war der Gatte der erfolgreichen Krimiautorin Margaret Millar. Als er merkte, wie gut sie mit dem Schreiben verdiente, gab er seinen Dozentenjob auf und widmete sich fortan ebenfalls der Krimiliteratur. Die neuen Übersetzungen, die der Diogenes-Verlag veranstaltete, weisen ihn mittlerweile als Autor aus, der auf einer Stufe mit den Könnern Hammett und Chandler steht.
Zentrales Thema der Detektivromane Macdonalds sind gestrauchelte Jugendliche und die Schuld ihrer Eltern. Die meisten Romane Macdonalds beinhalten verästelte, weit in die Vergangenheit zurückreichende kriminelle Verstrickungen, die vom Privatdetektiv Lew Archer aufgelöst werden. Macdonald führte somit als einer der ersten Krimiautoren der Gattung die Gedanken der Psychoanalyse zu.
Zwei Lew-Archer-Romane wurden mit Paul Newman als Detektiv verfilmt („Harper“, 1966 und „The Drowning Pool“, 1975); allerdings heißt der Ermittler in den Filmen aus rechtlichen Gründen Harper statt Archer. Ross Macdonald starb 1983 an der Alzheimer-Krankheit. (Quelle: Wikipedia.de)
Romane ohne Lew Archer
• 1944: The Dark Tunnel
• 1946: Trouble Follows Me
• 1947: Blue City (dt. Wettlauf mit dem Gestern und Blue City)
• 1948: The Three Roads (dt. Schwarze Vergangenheit und Der Mörder im Spiegel)
• 1953: Meet Me at the Morgue auch: Experience With Evil (dt. Triff mich in der Leichenhalle)
• 1961: The Ferguson Affair (dt. Die Akte Ferguson)
Lew-Archer-Romane
• 1949: The Moving Target auch: Harper (dt. Reiche sterben auch nicht anders)
• 1950: The Drowning Pool (dt. Wer zögert ist verloren, Kein Öl für Mrs. Slocum und Unter Wasser stirbt man nicht!)
• 1951: The Way Some People Die (dt. Tote ertrinken nicht)
• 1952: The Ivory Grin, auch: Marked For Murder (dt. Bis auf die Knochen und Ein Grinsen aus Elfenbein)
• 1954: Find a Victim (dt. Anderer Leute Leichen)
• 1956: The Barbarous Coast (dt. Sprungbrett ins Nichts und Die Küste der Barbaren)
• 1958: The Doomsters (dt. Schuldkonto der Vergangenheit und Sanftes Unheil)
• 1959: The Galton Case (dt. Ein schwarzes Schaf verschwindet und Der Fall Galton)
• 1961: The Wycherly Woman (dt. Die wahre Mrs. Wycherly)
• 1962: The Zebra Striped Hearse (dt. Camping im Leichenwagen)
• 1964: The Chill (dt. Gänsehaut)
• 1965: The Far Side of the Dollar (dt. Die Kehrseite des Dollars)
• 1966: Black Money (dt. Geld zahlt nicht alles und Schwarzes Geld)
• 1968: The Instant Enemy (dt. Durchgebrannt)
• 1969: The Goodbye Look (dt. Geld kostet zuviel)
• 1971: The Underground Man (dt. Der Untergrundmann)
• 1973: Sleeping Beauty (dt. Dornröschen war ein schönes Kind)
• 1976: The Blue Hammer (dt. Der blaue Hammer)
Erzählungsbände
• 1955: The Name is Archer (dt. in zwei Bänden: Manche mögen’s kalt / Manche mögen’s eiskalt und Der Drahtzieher / Einer lügt immer)
• 1974: Great Stories of Suspense
• 1977: Lew Archer, Private Investigator
• 1982: Early Millar. 1st Stories of Ross Macdonald and Margaret Millar
• 2000: Strangers in Town. Three Newly Discovered Stories
(Quelle: Wikipedia.de)
Handlung
Es beginnt ganz harmlos an einem Septembermorgen in West Los Angeles. Hier wohnt Privatdetektiv Lew Archer. Er füttert die Vögel und spricht mit dem sechsjährigen Ronny Broadhurst. Der wohnt derzeit mit seiner Mutter Jean bei Archers Nachbarn, den Wallers. Jean ist auch ganz nett. Doch dann taucht Stanley Broadhurst auf, Ronnys Vater, und will ihn zu seiner Mutter mitnehmen, die in den Canyons nahe Santa Teresa wohnt. Seltsamerweise gibt Jean nach, so dass Stanley seinen Jungen mitnehmen kann. Weil ihm das ziemlich merkwürdig vorkommt, sprintet Archer in das Obergeschoss seines Hauses und erspäht vom Balkon in Stans Auto eine junge blonde Frau, die auf dem Beifahrersitz lümmelt.
Entführt
Jean ist verständlicherweise besorgt, und Archer, der solche Fälle zur Genüge kennt, ist ihr kein großer Trost. Sie bittet ihn, Ronnie und Stan zu suchen, weil sich bei Stans Mutter keiner meldet. Sie fahren zuerst nach Northridge zum Heim der Familie Broadhurst. Zunächst wundert sich Jean, dass in ihrer Garage ein Mercedes steht, der der Familie Armistead gehört, wie der Versicherungsausweis besagt. Dann findet Archer in Stans Zimmer ein Buch, das einer Ellen Strome gehört oder gehörte. Auf dem Exlibris steht auch der Name Jerry Kilpatrick. Ellens früherer Freund, fragt sich Archer.
Ein Mann, der aussieht wie ein Ex-Knacki und sich Al nennt, verlangt 1000 Dollar von Jean Broadhurst, Geld, welches ihm Stanley schulde. Jetzt rückt Jean damit heraus, dass Stan bis Juni in San Francisco nach seinem Vater gesucht und eine Menge Geld dafür investiert habe. Geld, das offenbar zwielichtige Leute von ihm zurückhaben wollen. Nachdem er sich Als Adresse hat geben lassen, schickt Archer den finsteren Typen weg.
Das Buschfeuer
Nächste Station ist das Haus von Mrs. Elizabeth Broadhurst, Stans Mutter. Das Anwesen liegt am Ende eines Canyons, an dessen Eingang sich bereits Feuerwehr aufgebaut hat. Nur weil Jean hier Verwandte hat, darf sie weiterfahren. Denn ein Buschfeuer droht den Hügelkamm zu überspringen und alle Häuser auf dieser Hangseite in der nächsten Stunde einzuäschern. Mrs. Broadhurst und ihr Gärtner „Fritz“ Snow erzählen, dass Stanley mit Ronny und Ellen hangaufwärts zu einem „Berghaus“ gegangen sei. Wie sich herausstellt, ist dort bei einer Baumgruppe eine Grube ausgehoben worden. Darin liegt Stanley Broadhurst, mausetot, halb bedeckt von Erde. Doch wo sind sein Sohn und seine Freundin? Das will auch Mr. Kelsey wissen, ein Forstbeamter, der einen Zigarillo-Stummel als Brandursache im Verdacht hat. Leider hat sich Stanley, der Raucher, seiner Festnahme entzogen. Aber wer hat ihn ins Jenseits befördert? Soll Ronnie als Mordzeuge beseitigt werden?
Flucht
Ein Verhör von „Fritz“ Snow und seiner Mutter, der Haushälterin von Mrs. Broadhurst, bringt weitere Details zutage: Die blonde Frau ist mit Ronny in Fritz‘ Chevy weggefahren, und Fritz hat sie weggelassen, weil er sie mag. Archer fährt den Mercedes sicherheitshalber weiter zu den Armisteads. Auch dort lodert bereits der Buschbrand in der Nähe. Mit ihrem Gartenschlauch hat Mrs. Armistead keine Chance, und sie und Carlos, ihr Gärtner, nehmen mit Archer vor den Flammen Reißaus. Sie und ihr Mann Roger haben ein Strandhaus und eine Jacht, die „Ariadne“. Offenbar war es die blonde junge Frau in Stans Wagen, die tags zuvor vom Mast der Yacht ins Hafenbecken springen wollte. Mrs. Armistead fragt sich, ob sie wohl auf Droge war. Ihr Freund, ein gewisser Jerry Kilpatrick, ist ebenfalls ein Hippie und hat auf der Yacht als Mädchen für alles gearbeitet. Jerry ist der Sohn eines reichen Grundstückmaklers am Ort.
Im Bootshafen
Roger Armistead, der zehn Jahre jünger ist als seine Frau, rückt nur widerwillig mit dem Namen der jungen blonden Frau heraus: Susan Crandall, eine 18-jährige Studentin. Er kenne sie nicht oder jedenfalls kaum, behauptet er, aber Archer weiß Bescheid. Im Bootshafen braucht Archer nur nach dem alten Chevy von Fritz Ausschau zu halten. Er findet ihn im Hafenviertel, besetzt von einem Mundharmonika spielenden Schwarzen. Der behauptet, er solle für die Blondine „nur mal kurz“ auf den Wagen aufpassen. Ja, sie habe einen Jungen dabei gehabt und der habe verängstigt ausgesehen.
Gefunden
Mit einem beherzten Sprung überspringt Archer den Zaun zum Bootshafen und lässt sich den Weg zur „Ariadne“ weisen. Als er das Boot betritt und in die Kajüte hinuntersteigt, findet er Susan Crandall unter einer Decke schlafend in einer Koje vor. Den Jungen hält sie an sich gepresst. Archer zögert unschlüssig, was er nun unternehmen soll. Da betritt Jerry Kilpatrick die Kajüte und droht dem Eindringling mit einem Revolver. Da Archer unbewaffnet ist und sich unbefugt auf dem Boot befindet, geht er wieder an Deck. Droben schlägt ihn Kilpatrick mit dem Kolben des Revolvers nieder.
Als Archer aus dem Reich der Träume erwacht, findet er sich auf den Planken der Gangway wieder. Die Wellen schwappen einsam an die Mole. Die „Ariadne“ ist fort…
Mein Eindruck
Archers Auftrag führt in das miteinander verwobene Schicksal dreier Familien über 15 Jahre hinweg. Es überrascht nicht, dass alle drei Familien beschädigt sind und dem kleinen Ronny nun das gleiche Schicksal droht. Doch worin die Schäden bestehen, ist nicht leicht herauszufinden. Dazu muss Archer die Entwicklungslinien über 15 Jahre hinweg nachzeichnen. Die Lücken zu füllen, kostet Archer zahlreiche Fahrten zwischen Los Angeles mitsamt Vororten und San Francisco und seinen Vororten jenseits der Bay. Denn immer geht es nicht nur um Menschen und Liebe, sondern immer auch um das Land selbst. Das Land ist ein Akteur, der zudeckt und offenlegt, beispielsweise durch Buschfeuer.
Unter den Familien sind zunächst die Broadhursts zu nennen. Stan Broadhurst sucht seinen Vater Leo, ohne zu ahnen, was seine Mutter Elizabeth mit dessen Verschwinden zu tun hatte. Stans Endstation im Hof des Berghauses ist kein Zufall: Er hatte ein Loch gegraben, an dessen Grund er den Sportwagen seines Vaters vermutete. Offenbar hatte jemand etwas gegen diese Entdeckung. Wie leicht hätte die Polizei sonst die beiden Todesursachen Leo Broadhursts feststellen können, an denen er vor 15 Jahren verstarb…
Stans engste Freunde waren vor 15 Jahren Al Sweetner und Martha Nickerson. Was aus ihnen geworden ist, muss Archer mit akribischer Kleinarbeit herausfinden. Al Sweetner, der von Jean Broadhurst 1000 Dollar verlangt hatte, liegt als Leiche im Haus von Stan Broadhurst, doch was hatte er dort zu suchen? Geld vermutlich. Er wusste einige Geheimnisse, die die Elterngeneration gerne unterm Teppich gehalten hätte. Weder er noch Stan und Jerry Kilpatrick haben es zu etwas gebracht: ein typisches Schicksal für Kriegskinder und -enkel. (Leo Broadhurst war als Kapitän im Weltkrieg aktiv.) Nur Martha Nickerson hat den Hafen der Ehe mit Mr. Crandall erreicht – aber da war sie als Minderjährige schon schwanger und auf seine Gnade angewiesen. Wird Susan Crandall, ihre Tochter, ihr Schicksal bald teilen? Susan hat bereits zwei Selbstmordversuche hinter sich…
Doch es hat noch einen Freund von Stan, Al und Martha gegeben: Frederick „Fritz“ Snow. Vor 15 Jahren nahm er an einer Spritztour teil, die Al mit einem gestohlenen Wagen organisierte. Was geschah damals? Ist die junge Susan sein Kind oder stammt sie von einem anderen? Die Verbindungen erreichen eine Komplexität, bei der Archer einen kühlen Kopf bewahren muss. Und es gilt eine letzte Festung zu erstürmen: Edna Snow, die Mutter von Fritz Snow, stellt sich wie ein Racheengel vor ihren zurückgebliebenen, unterdrückten Sohn. Und allmählich fragt sich Archer, was, zum Geier, sie so wütend und ängstlich macht…
Die Übersetzung
Die Übersetzung aus dem Jahr 1981 ist, obschon etwas betagt, von einwandfreier Qualität. Die kurzen Sätze tragen zu einer Art Transparenz des Inhalts bei, so dass der Leser keinerlei Verständnisschwierigkeiten haben dürfte. Es kommt nur darauf an. den Überblick zu bewahren.
S. 69: „eine vestalische Jungfrau, die einen HeiligenSCHEIN bewacht“: Eine schiefes Bild, um es gelinde auszudrücken. Ein Heiligenschein lässt sich schwerlich bewachen, wohl aber ein HeiligenSCHREIN.
S. 72: „Sie ist verrückt auf Griechenland.“ Üblicherweise würde man in Deutschland sagen: „Sie ist verrückt NACH Griechenland.“ Aber in der Schweiz redet man bekanntlich ein anderes Deutsch.
Unterm Strich
Ich habe diesen klassischen Krimi in nur zwei oder drei Tagen gelesen. Nicht nur sind die Sätze ziemlich kurz, sondern auch völlig transparent, so dass einem schnellen Lesen nichts im Wege steht. Außerdem ist zügige Lektüre sehr ratsam, weil man nämlich sonst leicht die Zusammenhänge verliert, die die Figuren auf den zwei Zeitebenen miteinander verbinden. Eine Personenliste wäre wünschenswert, und wer schlau ist, legt sich selbst eine an. Dabei lassen sich die Verbindungslinien ziehen. So ließe sich leicht aufdecken, welche Faktoren die drei Familien Broadhurst, Crandall und Kilpatrick miteinander verbindet. Plus die beiden Snows.
Weil es zwei Zeitebenen gibt, verteilen sich die primären Konflikte auf zwei Generationen: die Eltern- und die Kindergeneration. Ronny gehört schon zu den Enkeln – und ist mindestens genauso gefährdet wie Stan, Al, Martha und „Fritz“: Er ist ein Mordzeuge, der dem unbekannten Mörder von Al Sweetner und Stan Broadhurst sicher früher oder später zu lästig sein wird. Dieser Mörder, der ja schon Stan und Al auf dem Gewissen hat, läuft noch frei herum.
Endstadium
Alles in allem zeichnet dieser Archer-Krimi das Bild eines Kalifornien, dessen ursprüngliche Siedlergeneration nun, nach nur knapp 120 Jahren (es wurde erst 1848 amerikanisch), ernste Zerfallserscheinungen an den Tag legt. Die Sünden und Verfehlungen der Kriegsgeneration (Leo Broadhurst) und der Kriegskinder (Stan & Co.) drohen auf die der Kriegsenkel herabzukrachen. So edle Traditionen wie in den TV-Serien „Dallas“ oder „Denver-Clan“ gibt es hier nicht. Quereinsteiger wie Crandall und Kilpatrick reißen das Land an sich und binden den Nachwuchs mit dubiosen Methoden an sich.
Die Qualmwolken des Buschfeuers sorgen für eine angemessen düstere Beleuchtung dieser Endzeitszenerie: eine Landschaft in Sepiabraun. In diesem, seinem 22. Krimi hat der Autor die Kunst der Landschafts- und Menschenbeschreibung vervollkommnet. Das Land beeinflusst die seine Bewohner, und die wiederum gestalten es nach ihrem Gusto und Bedarf um. Dass dabei einige Menschen unter der Erde landen und zu „Untergrundmännern“ werden, erscheint fast unvermeidlich. Der Untergrundmann ist bis ins zweite Glied eine Gefahr. Die Botschaft: Wer solche Geheimnisse hütet, braucht sich über Opfer nicht zu wundern.
Auffällig ist, dass es in erster Linie die Frauen sind, die das Schicksal der Menschen lenken. Leider auch das ihrer Töchter und Söhne, die – wie Susan und Fritz – nicht selten unter dieser Herrschaft leiden. Indem der Autor die Erkenntnisse der Psychoanalyse anwendet, beeindruckt er vor allem mit seinen vielschichtigen Menschenzeichnungen. Weil es so vieles zu entdecken gibt, was den Fall und die drei Verbrechen angeht, blieb ich stets bei der Stange und war gespannt auf die nächste Wendung bzw. Enthüllung. Eine lohnende Lektüre von A bis Z.
Taschenbuch: 302 Seiten
Originaltitel: The Underground Man, 1971;
Aus dem Englischen von Hubert Deymann.
ISBN-13: 9783257208788
www.diogenes.de
Der Autor vergibt: