Russell Hoban – Die Medusenfrequenz. Phantastischer Roman

Der sprechende Kopf und das Mädchen mit dem Perlenohrring

Der Ich-Erzähler Herman Orff ist ein Schriftsteller mit einem nicht ganz neuen Problem: Ihm fällt nichts mehr ein, das heißt: nichts Originelles. Doch eines Tages erhält er merkwürdige Botschaften über seinen Computermonitor. Wie versprochen helfen sie seiner Kreativität ein wenig auf die Sprünge, indem sie ihn an die „Orte in seinem Kopf führen, an die man nicht aus eigener Kraft gelangt“. Er gelangt in ein traumartiges Land, in dem er Figuren aus Mythen und Geschichte begegnet: der sprechende Kopf von Orpheus; eine verflossene Geliebte; das junge Mädchen mit dem Perlenohrring aus Vermeers Gemälde – und eine Frequenz aus Medusas…

Der Autor

Russell Conwell Hoban (* 4. Februar 1925 in Lansdale, Pennsylvania; † 13. Dezember 2011 in London) war ein US-amerikanischer Schriftsteller. (Quelle: Wikipedia.de)

Russel Hoban besuchte die Museum School of Industrial Art in Philadelphia und leistete 1943–1945 Militärdienst in der US Army. Er arbeitete dann als Künstler in der Werbung und schrieb seit 1958 mehr als 50 Kinderbücher, darunter Klassiker wie „The Mouse and His Child“ (1967) und den Frances Büchern (dt. Fränzi) (Mitte bis späte 60er-Jahre). 1968 publizierte er seinen ersten langen Roman „The Mouse and His Child“, der auch in deutscher Übersetzung (Der Mäusevater und sein Sohn) vorliegt.

1973 erschien mit „The Lion of Boaz-Jachin and Jachin-Boaz“ (dt. Der Kartenmacher) Hobans erster Roman für Erwachsene. Weitere Titel, die auch ins Deutsche übersetzt wurden, sind „Turtle Diary“ (Ozeanische Gefühle), „Kleinzeit“ (dt. Kleinzeit), „The Medusa Frequency“ (Die Medusenfrequenz), „Angelica’s Grotto“ (Angelicas Grotte) und „Amaryllis Night and Day“ (Amaryllis Tag und Traum).

Russell Hoban ist der Autor des Romans, nach dem der Film „Ozeanische Gefühle“ gedreht wurde, die Geschichte eines unwahrscheinlichen Liebespaares, das ein paar Seeschildkröten aus dem Zoo befreit und ins Meer zurückbringt. In den Hauptrollen: Ben Kingsley und Glenda Jackson, das Drehbuch stammt von keinem Geringeren als Harold Pinter.

Viele der Romane Hobans spielen im zeitgenössischen oder zukünftigen (Fremder) London. Die Titel seiner Romane enthalten häufig im englischen Original Wörter oder Wortbestandteile aus der deutschen Sprache (Kleinzeit, Pilgermann und Fremder). Im englischsprachigen Raum gilt Russell Hoban als einer der originellsten, wagemutigsten und fantasievollsten Schriftsteller überhaupt: „Der orginellste Schriftsteller, den wir haben“ (The Times) und „Dazu ist Literatur da – Erkundung ohne Furcht.“ (Anthony Burgess).

Werke, die bisher noch nicht in deutscher Übersetzung vorliegen, sind:

Riddley Walker (1980)
Pilgermann (1983)
Fremder (1996)
Mr Rinyo-Clacton’s Offer (1998)
Amaryllis Night and Day (2001)
The Bat Tattoo (2002)
Her Name Was Lola (2003)
Come Dance With Me (2005)
Linger Awhile (2006)
My Tango with Barbara Strozzi (2007)
Angelica Lost and Found (2010)
Soonchild (2012)

Verfilmungen

1977: Maus und Sohn (The Mouse and his Child)
1985: Ozeanische Gefühle (Turtle Diary)

Auszeichnungen

1982 John W. Campbell Memorial Award und Ditmar Award für den Roman „Riddley Walker“

Handlung

Herman Orff ist ein freiberuflicher Comic-Autor und ein nicht gerade erfolgreicher Romanautor. Er sucht verzweifelt nach Inspiration für seinen schwierigen dritten Roman. Ständig muss er an Vermeers Gemälde „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ denken sowie an eine ehemalige Geliebte mit dem schönen Namen Luise von Himmelbett. Außerdem besuchen ihn Der Krake (aus Tennysons Gedicht) und andere mythische Figuren. Sein eigener Name verweist auf die Sagengestalten Hermes und Orpheus.

Er folgt der per Flugblatt zugestellten Einladung zu einer elektrischen Behandlung seiner Schreibblockade, nicht ahnend, dass sie von einem alten Freund namens Istvan Fallok stammt, der ebenfalls Luises Freund war. Die Behandlung schlägt an, doch Orff erlebt nun Halluzinationen und findet heraus, dass vorgefundene runde Gegenstände wie etwa ein Fußball ihn an den sprechenden Kopf des Sängers Orpheus erinnern (der bekanntlich in die Unterwelt hinabstieg, um seine Eurydike zurückzuholen).

In einer Reihe surrealer Szenen erzählt der Kopf seine „Geschichte“, namentlich wie er anfing, die Leier zu schlagen, Eurydike begegnete und sie verlor. In dieser Version ist Eurydike indes nicht von einer Schlange gebissen worden, sondern vielmehr ist ihr Orpheus untreu geworden, woraufhin sie ihn verließ, um sich Aristaeus zuzuwenden. Diese Version spiegelt Orffs eigene Erkenntnis wider, dass er Luise untreu gewesen ist.

Alltag & Obsession

Orffs alltägliches Leben geht seinen Gang. Er findet eine neue Freundin namens Melanie Falsepercy, erleidet eine Angina und landet im Krankenhaus, stolpert gelegentlich über eine Figur namens „Gom Yawncher“, die in vielerlei Gestalt in ganz London auftaucht. Schließlich reist er nach Den Haag, um sich seiner Obsession zu stellen: dem „Mädchen mit dem Perlenohrring“. Doch das Gemälde ist gerade an die Amis ausgeliehen. Er lernt einen Mann kennen, der behauptet, ein weiterer von Luises Liebhabern gewesen zu sein. Als er in sein Hotel zurückkehrt, stößt er unerwartet auf Luise selbst. Leider ist sie schon glücklich verheiratet. So ein Pech.

Auf und ab

Kaum zurück in London, trennt sich seine neue Freundin von ihm. Frustriert – oder aus guten Gründen – lehnt Orff das lukrative Angebot ab, den Orpheus-Mythos in einen billigen Comic sowie ein prätentiöses Filmdrehbuch zu verarbeiten. Stattdessen entwickelt er seinen eigenen SF-mäßigen Comic-Strip. Schlagartig hören die Orpheus-Halluzinationen auf, doch aus den Erinnerungen an diese schräge Episode in seinem Leben erwächst der Stoff für seinen dritten Roman.

Unterm Strich

Der Ich-Erzähler ist ein Schriftsteller mit einem nicht ganz neuen Problem: Ihm fällt nichts mehr ein, das heißt: nichts Originelles. Etwas blockiert seine Inspirationsquelle. Doch eines Tages erhält er merkwürdige Botschaften über seinen Computermonitor. Sie und der Kopf des Orpheus helfen seiner Kreativität ein wenig auf die Sprünge. Was folgt, sind Phantasien über verlorene oder vielmehr betrogene Frauen (Luise, Eurydike) und welche Rolle sie in der Kreativität von Männern spielen.

Das teils mythische, teils komische Garn alles ist zwar mit einer verschrobenen Intelligenz erzählt, aber mit einer guten Portion englischen Humors. Die Lektüre bereitet dem, der für Ironie empfänglich ist, wirklich Vergnügen. Geschrieben in einem lyrischen, oft magisch-realistischen Stil, durchquert das Buch eine Reihe von Genres, einschließlich Comedy und Fantasy, ohne sich leicht in eines der Genres einzufügen. Die Zeitung San Francisco Chronicle nannte das Buch eine „Mythokomödie“. Und eine Komödie funktioniert bekanntlich erst, wenn man den Witz verstanden hat.

Der Buchtitel

Der Buchtitel ist zweideutig. Zum einen verweist er auf Orffs Vorliebe, spät in der Nacht auf Kurzwellenradio klassischen Sängerinnen zu lauschen. Das ist die Medusenfrequenz des Rundfunks. Frequenz bedeutet hier aber auch „eine Menge bzw. Häufigkeit von etwas“. Zum anderen erzählt ihm der „Krake“ per Computer, dass Medusa die einzige Frau bzw. weiblicher Archetyp sei, dem er wirklich und wahrhaftig treu sein könne. Das verheißt nichts Gutes für Herman Orffs künftiges Liebesleben. Wir drücken ihm trotzdem sämtliche Daumen.

Hinweis: Die Webseite des Autors trägt den Titel „The Head of Orpheus“.

Hardcover: 214 Seiten
Originaltitel: The Medusa Frequency, 1987
Aus dem Englischen von Joachim Kalka.
ISBN-13: 9783100336064

www.fischerverlage.de

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