Samuels, Mark – weißen Hände und andere Geschichten des Grauens, Die (Edgar Allan Poes Phantastische Bibliothek 4)

Wenn es keine Kleinverlage gäbe, müsste man sie erfinden, damit man solche Bücher lesen kann – Bücher wie dieses, Werk eines 1967 geborenen Autors, der in der Verwaltung eines Londoner Unternehmens arbeitet, zwei Storysammlungen veröffentlicht hat, eine dritte vorbereitet, an einem Roman schreibt und dennoch nicht an seine Karriere als Berufsautor glaubt – „eine leider wohl realistische Einschätzung der Lage, denn von anspruchsvoller Phantastik kann heutzutage wahrscheinlich kaum jemand existieren“ (siehe das exzellente Nachwort von Thomas Wagner, S. 206).

Doch es gibt BLITZ, [BLITZ]http://www.blitz-verlag.de macht diese – phantastische! – Reihe, also können wir Mark Samuels sogar auf Deutsch lesen. Andernfalls wäre uns etwas entgangen, und wir hätten es nicht einmal gewusst. Wie viele begabte Autoren finden nicht den Weg in britische, deutsche, US- und anderswo beheimatete Verlage? Wie viele phantastische Geschichten bleiben in Schubladen liegen oder werden bestenfalls auf Websites dargeboten? Gedanken, die traurig stimmen.

Aber „Die weißen Hände und andere Geschichten des Grauens“ haben wir: neun Storys, übersetzt von Monika Angerhuber, die uns verschiedene Facetten des Unheimlichen nahe bringen. Wie zum Beispiel die Titelgeschichte: Da stößt der Ich-Erzähler, der über viktorianische Horrorautoren schreiben will, auf einen exzentrischen Literaturtheoretiker, der eifersüchtig den Nachlass der fast vergessenen Lilith Blake hütet und behauptet, ihre Geschichten würden nicht von übernatürlichen Phänomenen erzählen, sondern selbst solche sein; im Übrigen sei Lilith Blake nicht wirklich gestorben, sondern träume in ihrem Sarg; und wer ihr letztes Manuskript „Die weißen Hände und andere Erzählungen“ lese, der würde die Welt anders sehen, würde alles verstehen … Der Erzähler, zu Anfang skeptisch, entwickelt nach und nach eine Obsession für die Blake und ihr Werk …

Oder nehmen wir „Appartement 205“. Darin besucht ein seltsamer nächtlicher Gast einen Medizinstudenten. Der entdeckt, dass sein Besucher nur wenige Türen weiter wohnt; aber als er Appartement 205 öffnen lässt, um Klarheit über den merkwürdigen Mann zu erhalten, entdeckt er diesen nicht, dafür ein seltsames Gemach mit einem Stuhl und einem Spiegel. Er macht den Fehler, hineinzusehen – und erfährt Dinge über die Realität, die er sich nicht hätte träumen lassen.

Folgt „Die Sackgasse“ – eine Geschichte über einen Mann und seinen ersten Arbeitstag in den Büros der Ulymas-Organisation; doch dieser Tag verläuft weder so wie erwartet, noch geht er zu Ende wie erhofft. Man spürt, dass Samuels weiß, wovon er schreibt; und den Albtraum, in den der Protagonist gerät, kann man getrost in den Kontext des Werks des Bureau-Angestellten Dr. Franz Kafka stellen.

Wie „Die Suche nach Kruptos“ den Geschichten Jorge Luis Borges’ nachempfunden ist: Ein Student der Metaphysik reist 1940 dem vergessenen Philosophen Thomas Ariel nach, um dessen letztes Werk – „Kruptos“ – aufzuspüren. Ariel ist freilich seit sechzig Jahren irgendwo im Norden Finnlands verschwunden, aber vielleicht findet man ja noch dieses Buch, das Hauptwerk eines kühnen Theoretikers, dessen Schriften die Drucker sich zu drucken weigerten? Nun: Die Protagonisten dieser Geschichten finden immer etwas, doch nie das, was sie finden wollten … Wer „Die Bibliothek von Babel“ liebt, wird von dieser Geschichte begeistert sein; ebenso von den anderen, seien sie nun hier genannt worden oder nicht.

Zwei Vorbilder habe ich schon angesprochen, weitere kommen hinzu, Lovecraft etwa (Das ist nicht tot, was träumend liegt …) oder Ligotti, dem „Vrolyck“ und „Kolonie“ zu verdanken sind. Doch Samuels kann es sich leisten, seine Vorbilder zu nennen oder erkennen zu lassen, denn er schafft durchaus eigenständige Texte. Was hier zu lesen ist, verrät viele Einflüsse, ist aber nicht Kafka oder Ligotti, nicht Lovecraft oder Borges, sondern eben Samuels – ein Autor, der mit diesen seinen Kollegen freilich eines teilt: Er stellt den hilflosen Menschen in eine Welt voller undurchschaubarer Vorgänge, macht seine Protagonisten zu Opfern unbegreiflicher Mächte, lässt sie nur reagieren, nicht agieren. Damit antwortet er – wieder wie die genannten Schriftsteller, zu denen auch Philip K. Dick, Robert Aickman und Algernon Blackwood gehören – auf die Verwerfungen der Moderne, die nicht nur traditionelle Lebensweisen zerstört, sondern auch Sicherheiten anderer Art (zum Beispiel den Schutzkonsens der Moral); die oberflächliche Illusionen an die Stelle des tiefgründigen Denkens setzt und den Menschen von sich selbst, seiner Arbeit und seinen Mitmenschen entfremdet. „Gott“ oder „Hoffnung“ kommen in diesen Geschichten nicht vor, wohl weil sie in der heutigen Welt auch nicht mehr zu existieren scheinen; der Mensch wird zum Traum, zur Puppe, zur Hülle für Fremdes, er verliert nicht nur den Sinn seines Lebens, sondern oft auch seine Existenz. Dies beschwört Samuels mit starken Bildern und intensiver Sprache. Zitiert sei als Beispiel der Schluss von „Kolonie“:

|“Wir alle sind verloren in der weiten, endlosen Nacht, die wir selbst sind. Wir wandern, hoffnungslos und auf ewig verlassen, durch unsere eigenen geheimen Höllenkammern. So wie die Schatten von der Nacht verschluckt werden, so rufen unsere Seelen nach ihrem Ursprung. Und alles, was dann noch bleibt, ist die Wahrheit: Die Worte der toten Sprache können nicht entziffert werden, und alles ist schwarz und eisig und trostlos, ohne einen Sinn oder eine endgültige Lösung …“|

Wahrlich: Das ist kein Buch für Optimisten. Aber welcher Liebhaber dunkler Phantastik wäre schon Optimist …???

Band 1: [„Grausame Städte“ 1018
Band 2: [„Das Alptraum-Netzwerk“ 1023
Band 3: [„Spuk des Alltags“ 1142

_Peter Schünemann_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [buchrezicenter.de]http://www.buchrezicenter.de veröffentlicht.|