John Sandford – Kalter Schlaf

Das geschieht:

Lucas Davenport, Ermittler in der Abteilung Öffentliche Sicherheit im Stab des Gouverneurs von Minnesota, wird gerufen, wenn sich ein Verbrechen ereignet, das sich nicht ins übliche kriminalistische Raster fügt. Der Mord an dem Russen Oleschew in der Stadt Duluth fällt in diese Kategorie, hat man ihn doch mit einer Waffe erschossen, die mehr als ein halbes Jahrhundert alt sein muss.

Hektik bricht aus, als sich herausstellt, dass der Ermordete der Sohn eines einflussreichen Geschäftsmanns ist, der es im neuen Russland zu Macht und Geld sowie besten Verbindungen zur Regierung gebracht hat. Außerdem werden ihm Verbindungen zur russischen Mafia nachgesagt. Der zornige Vater fordert Aufklärung, aus Russland schickt man die „Ermittlerin“ Nadeschda Kalin. Das ruft den US-Geheimdienst auf den Plan, der nicht ohne Grund vermutet, dass Kalin zur ‚Konkurrenz‘ gehört und mehr weiß als sie verlauten lässt.

Die Wahrheit ist so absurd, dass Davenport und sein Team lange ratlos bleiben: In Duluth ist eine uralte Zelle sowjetischer Agenten wieder aktiv geworden. Vor sechs Jahrzehnten hatte man Sergey Wasilewitsch Botenkow und einige Gefährten in die USA eingeschmuggelt. Dort sollten sie Sowjetspionen, denen der Boden zu heiß geworden war, die Flucht ins Ausland ermöglichen. Inzwischen hat Botenkow, der sich Burt Walther nennt, eine Familie gegründet, ist längst Urgroßvater geworden und 92 Jahre alt. Die Sowjetunion gibt es nicht mehr, die meisten Agenten der Zelle sind gestorben, schon in den 1970er Jahren ist der Kontakt mit Moskau abgerissen. Seinen Urenkel Carl hat Burt trotzdem als Agenten ausgebildet. Mit der Russenmafia will der alte Mann hingegen nichts zu tun haben und damit eine verhängnisvolle Kettenreaktion ausgelöst: Die Polizei, die Geheimdienste der USA und Russlands sowie die Mafia sind auf die Walther-Zelle aufmerksam geworden. Burt reagiert, wie es ihm antrainiert wurde: Wer ihm und seinen Leuten zu nahe kommt, muss sterben …

Was kann ich noch erzählen?

Läuft eine gut eingeführte Serie so lang und erfolgreich wie die Lucas-Davenport-Reihe, dann kann sich der Verfasser auf zwei Dinge verlassen: Missglückte Episoden kommen vor, werden jedoch von den Lesern in der berechtigten Hoffnung auf eine Fortsetzung, die das wieder gutmacht, nicht lange übel genommen. „Eiskalter Schlaf“, Davenport-Abenteuer Nr. 15, ist so ein Durchhänger. Anscheinend etwas ratlos darüber, mit welchem Verbrechen er seinen Helden noch konfrontieren könnte, hat sich der Verfasser einen haarsträubenden Plot aus dem Hirn gewrungen, den er trotz seines ausgeprägten handwerklichen Geschicks nicht in eine überzeugende Story umsetzen kann.

„Kalter Schlaf“ ist wie alle Sandford-Thriller rasant und mit gekonnt aufgestellten Spannungsbögen geschrieben. Normalerweise garantiert dies einige anspruchslose aber vergnügliche Lektürestunden. Hier fragt man sich indes, was das eigentlich werden soll. Man muss sich das Geschehen im Telegrammstil vorstellen: Uralter Kommunist, der noch von Lenin persönlich auf den Klassenkampf eingeschworen wurde, führt in den USA des 21. Jahrhunderts einsam den Kampf für Hammer & Sichel fort, worin ihn eine Gruppe ältlicher Bäcker, Wirtsleute und Hausfrauen sowie ein zum Killer ausgebildeter Collegestudent unterstützen … Nein, das ist ein bisschen zu viel des gar nicht so Guten.

Immerhin erklärt Sandford auf diese Weise das ziellose Stochern, das dieses Mal die polizeilichen Ermittlungsarbeiten ersetzen muss: Selbst der geniale Davenport – es leuchtet ein – wäre nicht im Traum darauf gekommen, dass ihn halbfossile Sowjetspione an der Nase herumführen. Erst spät besinnt er sich auf seine Fähigkeiten aber da hat Opa Burt seine Mission längst erfüllt. Viele Nebenhandlungen sollen für Spannung sorgen, was oft sogar gelingt aber nie vergessen macht, dass es mit der Logik sogar für einen Unterhaltungsthriller gehörig hapert.

Nastrovje-Russen

Oder nimmt sich Sandford eine Auszeit vom ernsthaften Thriller und versucht sich an einer Parodie? Die Figurenzeichnung legt diesen Gedanken durchaus nahe. Das Bild, welches sich der Durchschnittsbürger in den USA von einem „Russen“ macht, wird auch im 21. Jahrhundert offenbar immer noch von Rasputin, Ninotschka und Chruschtschow geprägt. Die Sowjetunion gibt es zwar nicht mehr, aber vorsichtshalber traut man den Ex-„Commies“ lieber weiterhin alles Üble und Seltsame zu.

Wer russischer Herkunft ist und sich in „Eiskalter Schlaf“ die Ehre gibt, ist entweder Spion oder bei der Mafia. Der alte Burt Walther stellt den Fanatismus seiner Spezies eindrucksvoll unter Beweis, wenn er quasi vom Totenbett aufspringt und im Geiste Lenins allerlei konterrevolutionäre Unglücksraben aus dem Weg räumt. Am Geisteszustand seines Urenkels Carl zweifelt nicht nur Davenport, aber vielleicht verfügen Alt-Kommunisten tatsächlich über jene dämonischen Suggestionskräfte, die ihnen im Amerika des Kalten Kriegs zugetraut wurden, sodass sie einen jungen Mann in einen Mordzombie verwandeln können!

Über die Runden kommen

Irgendwie ist auch Davenport nicht ganz auf der Höhe, wirkt sogar ein wenig müde. Der kriminalistische Schwung der früheren Jahre scheint dahin; der gute Lucas wird nicht jünger, wie er selbst mehrfach anmerkt. Außerdem ist er inzwischen Ehegatte und frischgebackener Vater; anders als einst lenkt es ihn durchaus nachhaltig von der Arbeit ab, wenn die Gattin das Familienauto durch das geschlossene Garagentor rammt.

An seiner Seite bewegt sich eine weitere Knallcharge durch unser Garn: Nadeschda Kalin wird von Sandford einerseits als taffe Kriminalistin mit Grips im Schädel und Mumm in den Knochen aufgebaut. Andererseits kann sich der Verfasser altbekannte Klischees nicht verkneifen: Kalin ist selbstverständlich hübsch (wenn auch auf die strenge ‚sozialistische‘ Weise, was immer das bedeuten mag), den Segnungen des Westens gegenüber (Schuhe, Männer etc.) sehr aufgeschlossen und ein bisschen weltfremd, was von ihren US-Kollegen weidlich für spätpubertäre Witzchen genutzt wird.

So schließt sich der Kreis, wenn wir zur eingangs geäußerten Aussage zurückkehren: Schwamm drüber, Davenport Nr. 16 kann nur besser werden. Ansonsten hat man sich schon durch sehr viel schlimmere Werke als „Eiskalter Schlaf“ kämpfen müssen. Ein Sandford auf Autopilot ist immer noch um Klassen besser als … (Zutreffendes bitte je nach persönlicher Meinung einsetzen)!

Autor

John Sandford, geboren 1944 als John Camp im US-Staat Iowa, studierte zunächst Geschichte, leistete dann seinen Militärdienst in Korea und ging anschließend an die Universität zurück. Mit einem „Master’s Degree in Journalism“ in der Tasche arbeitete Camp zwischen 1970 und 1978 für die „Miami Herald Tribune“, wo er Seite an Seite mit seinen inzwischen ebenfalls als Thriller-Autoren zu Bestsellerruhm gekommenen Kollegen Carl Hiaasen und Edna Buchanan arbeitete. Seine journalistische Laufbahn gipfelte Mitte der 80er Jahren eindrucksvoll im Gewinn des Pulitzer-Preises für eine Artikelserie, die ein Jahr im Leben einer modernen Farmer-Familie beschrieb.

Einige Jahre später begann Camp Romane zu schreiben – gründlich wie stets debütierte er gleich mit zwei Büchern, von denen „Rules of Prey“ („Die Schule des Todes“), veröffentlicht unter dem Pseudonym „John Sandford“, den ersten Auftritt von Lucas Davenport schilderte. Mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks ließ Camp/Sandford pro Jahr einen weiteren Davenport-Roman folgen (die im amerikanischen Original übrigens immer das Nomen „Prey“ – gleich „Opfer“ oder „Beute“ – im Titel tragen).

Seine flott geschriebenen Romane um den Polizisten Lucas Davenport erobern seit Jahren regelmäßig die Bestsellerlisten. Neben seiner Leidenschaft für Archäologie und Geschichte, die er in den letzten Jahren auch auf echten Ausgrabungen auslebt, liebt Sandford die Natur, geht gerne Fischen, spielt Klavier, und fotografiert leidenschaftlich gern. Der Autor lebt heute mit seiner Frau, die er nach einer freundschaftlichen Scheidung inzwischen ein zweites Mal geheiratet hat, in der Nähe von Minneapolis.

Taschenbuch: 444 Seiten
Originaltitel: Hidden Prey (New York: Putnam 2004)
Übersetzung: Manes H. Grünwald
http://www.randomhouse.de/goldmann
Website des Verfassers

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