Andrzej Sapkowski – Narrenturm (Reynevan 01)

Historischer und Fantasy-Roman schließen einander angeblich aus. Dass die Akteure historischer Romane meist den Horizont und die Denkweise eines heutigen Menschen besitzen und ansonsten nur in mittelalterliche Gewänder gehüllt werden, stört vermutlich genauso wenige Leser wie die stereotype Titelvergabe. „Der“ oder „Die“, gefolgt von einer Berufsbezeichnung, bevorzugt eine medizinische Profession, und eine Begegnung mit einer bekannten Persönlichkeit des Mittelalters, schon hat man die Handlung und den Titel für einen historischen Roman.

Reinmar von Bielau, genannt Reynevan, der Held des polnischen Schriftstellers und Literaturkritikers Andrzej Sapkowski (* 1948), ist zwar auch ein Medikus, aber damit hören die Ähnlichkeiten bereits auf. Sapkowskis Mittelalter ist lebendig und überzeugt durch seine Exotik. Seine Figuren leben und denken mittelalterlich, es geht deftig und herzhaft zur Sache. Er führt dem Leser nicht nur die mittelalterliche Welt vor Augen, er haucht auch ihren übernatürlichen Kreaturen Leben ein. Hexen, Nymphen und Dämonen geben seinem Mittelalter eine magische Note, die er reichlich mit hintergründigen Humor und Situationskomik bis hin zur Persiflage verfeinert. Zahlreiche Elemente erotischer Literatur sowie von Mantel- und Degenromanen finden in Reynevans irrwitzige Flucht quer durch Mitteleuropa, verfolgt von Inquisition, Tempelrittern und gehörnten Ehegatten, Eingang. So kann man „Narrenturm“ keinesfalls als rein historischen Roman bezeichnen: Intelligent eingebundene Elemente zahlloser Literaturgattungen bis hin zur Phantastik machen aus „Narrenturm“ ein Leseerlebnis nicht nur für Liebhaber des Mittelalters und historischer Romane.

Eine wilde Reise quer durch die alte Welt und ihre Mythen

Die Abenteuer Reinmar von Bielaus beginnen 1422 in Schlesien. Entgegen der Aussage zahlloser Chiliasten ging die Welt nicht an einem Montag im Februar 1420 unter, aber ansonsten gibt es nicht viel Gutes zu berichten. Kriege, Pogrome, Seuchen und mehrere Päpste beziehungsweise Gegenpäpste suchen Europa heim, und auch in Böhmen ist der Teufel los. Mehrere Kreuzzüge gegen die ketzerischen Hussiten haben das Land heimgesucht, doch des einen Leid ist des anderen Freud. So kann Reynevan das Bett der schönen Adele von Sterz wärmen, deren Mann Gelfrad vom Kreuzzug schon viel zu lange an der Ausübung seiner ehelichen Pflichten gehindert wird.

Doch die Brüder von Sterz ertappen die beiden in flagranti, verpassen Adele eine aufs Maul und drohen ihr Prügel mit dem Ochsenziemer an. Reynevan kann nur dank der unfreiwilligen Intervention frommer Augustiner, mit denen sich die Gebrüder eine Schlägerei liefern, entkommen.

Damit würde man einen solchen Ehebruch in der Regel gut sein lassen, doch bei der Verfolgung stürzt Niklas, der jüngste Sterz, vom Pferd und fällt unglücklicherweise mit dem Bauch genau in eine Sense – und stirbt. Das ist zuviel für den alten Tammo von Sterz. Um sein treuloses Weib soll Gelfrad sich selbst kümmern, aber den Tod seines nach eigenen Angaben einzigen klugen Sohns kann er nicht ungesühnt lassen. Er setzt tausend Gulden auf Reynevans lebendige Ergreifung aus und heuert die schlimmsten Halunken von ganz Schlesien an: Kunz „Kyrieleison“ Aulock, Walter de Barby, Sybko von Kobelau und Stork von Gorgewitz. Das passt seinem Erben Apeczko gar nicht, der lieber das ganze Vermögen erben würde.

Während Reynevan überlegt, wie er Adele aus der Zwangsinternierung im Kloster befreien könnte, hat diese ihre eigene Haut gerettet: Verhext habe er sie, gefügig gemacht – es glaubt ihr zwar keiner, aber neben medizinischen Schriften und magischen Utensilien findet man in Reynevans Heimat Oels einiges, das in der Inquisition den Verdacht der Hexerei gegen ihn aufkommen lässt. Zumal gegen seine ganze Familie ein Komplott im Gange zu sein scheint: Sein Bruder wurde ermordet – und die Tempelritter scheinen die Hand im Spiel gehabt zu haben. Und das ist erst der Beginn der Abenteuer Reynevans. Zusammen mit dem raffinierten Schelm Scharley und dem bärenstarken Samson verschlägt es ihn von Raubritterhöhlen über Fürstenhöfe bis hin zum Hexensabbat.

Ein geistreicher Schelmenstreich

Andrzej Sapkowski kann mit viel Wissen und geistreichem Humor glänzen. Nicht umsonst erreichte „Narrenturm“ in Polen eine Auflage von über hunderttausend Exemplaren und wurde 1998 mit dem Literaturpreis der Wochenzeitung „Polityka“ ausgezeichnet. Der dritte Band der Trilogie um Reinmar ist unter dem Titel „Lux perpetua“ in Arbeit, der zweite Band wird in Kürze unter dem deutschen Titel „Gottesstreiter“ erscheinen.

Doch nicht nur mit Geist, sondern auch mit Sprachgewandheit überzeugt „Narrenturm“, eine Meisterleistung der Übersetzerin Barbara Samborska. Denn der Roman ist gespickt mit lateinischen, französischen und gar italienischen Zitaten, sowie einem auf mittelalterlich getrimmten Sprachstil oft voller blumiger Metaphern. Ganze 29 Seiten umfasst der Anhang mit den Übersetzungen und Erläuterungen zu den zahlreichen Sinnsprüchen. In den Einband hat man eine Karte des Handlungsraums integriert, die Gestaltung des Covers nach einem mittelalterlichen Gemälde, wenngleich ohne direkten Bezug zu dem 740 Seiten starken Wälzer, kann ebenso gefallen.

Es wäre unangebracht, alle Details der Abenteuer Reinmars zu verraten. Nur so viel: Er lässt wirklich nichts aus. Sapkowski lässt ihn alles erleben und auskosten, was das Mittelalter zu bieten hat. Vom Exorzismus bis zur Behandlung von Gasen. Die Liebe kommt auch nicht zu kurz – aber wie sein Begleiter Scharley zu Recht befindet, sie ist die Wurzel allen Unglücks für Reinmar. An schrägen Charakteren mangelt es in diesem Buch nicht. Diese persifliert Sapkowski sehr gerne, so ist der alte Tammo von Sterz ein brutaler und rachsüchtiger, sabbernder Greis, der nicht einmal mehr richtig sprechen kann. Alles, was er stammelt, muss die kleine Ofka für den Rest der Familie übersetzen.

Als Beispiel für seine Art von Humor sei die überzeichnete Sexszene mit Adele angeführt, in der er ähnlich lächerlich opulente Ergüsse anderer Autoren auf die Schippe nimmt, auf gekonnte Art und Weise und mit Vergleichen, die ihresgleichen suchen:

Schon der dritte Psalm, dachte Reynevan. Wie flüchtig sind doch die Momente des Glücks …
Revertere, brummte er kniend. Dreh dich um, dreh dich um, kleine Sulamith.
Adele wandte sich um, kniete, beugte sich vor, umfasste kraftvoll das Kopfende aus Lindenholz und präsentierte auf diese Weise Reynevan die ganze berückende Schönheit ihrer Rückansicht. Aphrodite Kallipygos, dachte er, während er sich ihr näherte. Die Anspielung auf die Antike und der erotische Anblick bewirkten, dass er sich, wie weiland Sankt Georg auf den Drachen von Silena, mit gezückter Lanze auf sie warf. Er kniete hinter Adele wie König Salomon hinter dem Thron aus Libanonzedern, mit beiden Händen umfasste er den Weinberg Engadda.

Adeles Brüste hüpften unter Reynevans Hände wie ein Zwillingspärchen junger Gazellen. Er versenkte eine Hand in ihren Granatenhain.

Hier verzichtet das Buch auf eine erläuternde Fußnote. Diese heißen Metaphern stammen nahezu wortwörtlich aus biblischer Quelle, aus Salomos „Hohelied der Liebe“. Doch das erotische Erlebnis währt nicht lange:

Die Tür wurde mit lautem Knall und solcher Wucht aufgestoßen, dass der Türzapfen aus dem Futter sprang und wie ein Meteor durch das Fenster flog. Adele schrie schrill und erschrocken auf. Die Brüder von Sterz stürmten in die Kammer. Klar war, dass dies kein freundschaftlicher Besuch war.

Ähnlich makaber und humorig endet auch die Verfolgungs Reynevans:

Niklas hatte nicht so viel Glück. Sein Pferd verweigerte den Sprung, warf das Gerüst um und geriet zwischen Schlamm, Fleischfetzen und Fettresten ins Rutschen. Der jüngste Sterz schlug einen Purzelbaum nach vorne über den Pferdekopf. Fiel sehr, aber wirklich sehr unglücklich. Mit Unterleib und Bauch genau in eine Sense, die den Gerbern zum Entfernen der Fleischreste diente. […] Niklas Sterz hustete, verschluckte sich und starb.

Hochstapeleien und Situationskomik am laufenden Band erwarten den Leser, einzig der Hauptcharakter Reynevan bleibt bei so vielen starken Nebencharakteren etwas blass. Die zahlreichen Episoden sorgen nach einer gewissen Weile leider auch für Verwirrung. Reynevan erfährt schon recht bald, dass Adele nichts mehr von ihm wissen will, und dann hängt die Handlung bis zur Weiterreise nach Böhmen und fortgesetzter Flucht vor Templern und Inquisition ein wenig in der Luft. Am Ende des Romans fragt sich der Leser zudem zu Recht, wie es mit Reynevan weitergehen soll, und warum und ob die Templer noch hinter ihm her sind.

Auch wenn der Roman der Auftakt einer Trilogie ist und vor geistreichen Einfällen und Ideen sowie Abwechslung nur so sprüht, hätte ich mir eine klarer erkennbare Rahmenhandlung gewünscht. Denn nach einer Weile kennt man die Charaktere und Sapkowskis hintergründige Art und kann voraussehen, wie sie reagieren werden – und wünscht sich etwas mehr Zweck und Ziel hinter Reynevans Handeln nachdem er von Adele endgültig versetzt wurde.

Fazit

Nicht jeder historische Roman ist wirklich historisch – dieser ist es. Die ganze Hülle und Fülle des Mittelalters breitet Sapkowski in diesem Roman für den Leser aus, garniert sie mit der Mythenwelt desselben und würzt sie mit zahllosen lateinischen Zitaten, die eine willkommene Bereicherung darstellen. Sind seine Charaktere auch sehr mittelalterlich und demzufolge derb und körperlich in ihrem Handeln und ihrer Denkweise, so erkennt man oft die Versatzstücke aus und Reminiszenzen an alle Arten moderner Literatur, die er amüsant in den mittelalterlichen Rahmen einbaut und oft ins Lächerliche überzeichnet.

Die Liebe zum Mittelalter sowie eine gewisse Kenntnis zeitgenössischer Unterhaltungsliteratur setzt Sapkowski voraus. Der wilde Mix aus Historie und Phantastik ist geistreich, witzig, lehrreich und unterhaltsam in einem. Da kann man die etwas schwächelnde Rahmenhandlung sowie das offene Ende verzeihen, und sich schon einmal auf weitere Abenteuer Reynevans im kommenden zweiten Band der Trilogie, „Gottesstreiter“ freuen.

Die Trilogie

Der Narrenturm
Gottesstreiter
Lux perpetua
Taschenbuch: 740 Seiten
www.dtv.de