Arthur Schnitzler / Daniela Wakonigg – Die Weissagung (inszenierte Lesung)

Wenig unterhaltsam: psychologischer Realismus

Vor zehn Jahren hat ein Wahrsager Herrn von Umprecht einen Blick in die Zukunft gewährt: er selbst tot auf einer Bahre. Seitdem führt Umprecht ein Leben in Furcht und versucht, jenem Augenblick aus dem Weg zu gehen. Aber nichts, was er tut, scheint die Erfüllung der Weissagung abwenden zu können.

Da bekommt er das Angebot, in einem Theaterstück mitzuspielen, in welchem er am Ende tot auf einer Bahre liegen soll. Ist dies der Augenblick in seiner Zukunft, den ihm der Wahrsager geweissagt hat?

Der Autor

Der österreichische Schriftsteller Arthur Schnitzler (1862 – 1931) war Doktor der Medizin (1885) und arbeitete in Wiener Krankenhäusern, bis er 1893 eine Privatpraxis eröffnete. Mit Hugo von Hofmannsthal und anderen Autoren bildete er den Zirkel, der als „Junges Wien“ bekannt wurde. Er griff die soziale und politische Realität seiner Zeit auf, schilderte psychologisch genau und mit skeptischer Ironie die Gesellschaft der K.u.k.-Monarchie, die langsam an ihren inneren Widersprüchen zerbrach: Militärhegemonie, Müßiggang, Vielvölkergemisch und Antisemitismus.

Um die Jahrhundertwende gehörte er trotz wiederholter Aufführungsverbote zu den meistgespielten Bühnenautoren Österreich-Ungarns. Bekannt wurde er für sein Stück „Reigen“ (1900, erschienen als Privatdruck), das unter anderem Max Ophüls verfilmte. Als Erzähler steht er zwischen dem Realismus à la Gottfied Keller und der radikalen Verinnerlichung der Erzähltechnik à la Marcel Proust und James Joyce. Schnitzler war der erste deutsche Schriftsteller, der das Stilmittel des Inneren Monologs verwendete.

Am bekanntesten wurde Schnitzler mit der „Traumnovelle“ von 1926, die Stanley Kubrick zu [„Eyes Wide Shut“]http://www.powermetal.de/video/review-297.html (1999) verarbeitete. Wie stets gerät die Hauptfigur in eine existenzielle Krise, und nur selten geht die Krise gut aus, indem die Hauptfigur geläutert wird.

Die Inszenierung

Es handelt sich um eine inszenierte Lesung mit Musik und Geräuschen. Über den Sprecher Josef Tratnik teilt das Booklet leider nichts mit. Daniela Wakonigg wirkte als Autorin, Übersetzerin, Regisseurin und Sounddesignerin an diesem Hörbuch mit. Die Musik und Teile des Sounddesigns trug Peter Harrsch bei, der auch die Tontechnik steuerte.

Handlung

Rahmenhandlung

Anno 1878. Der Freiherr von Schotteneck hat sich nach 20 Jahren des Staatsdienstes zur Ruhe gesetzt, in der Nähe von Bozen eine Villa renoviert und für das bunte Völkchen von Künstlern geöffnet. Wieder einmal findet eine kleine Theateraufführung statt. Unser Erzähler ist selbst Bühnenautor und bekommt unweit der Villa den Sommer über ein Domizil. Zum Dank schreibt er dem Freiherrn ein Stück. Er erhält einen Brief mit der Einladung zur Uraufführung, die in zwei Tagen stattfinden soll. Er solle sofort kommen. Die Hauptrolle spiele übrigens Franz von Umprecht, der Neffe des Freiherrn.

Dieser Herr von Umprecht ist ein stiller Bursche, findet der Erzähler, und legt ein merkwürdiges Benehmen an den Tag. Als es an der Zimmertür des Erzählers klopft, ist es Umprecht. Er tritt ein und will sich bedanken. Er beginnt zu erzählen.

Herr von Umprechts Erzählung (1)

Auf den Tag genau vor zehn Jahren begegnet Umprecht, der in Polen stationiert ist, einer wunderlichen Gestalt. Der wunderlich antiquiert gewandete Mann stellt sich als der Taschenspieler Marco Polo vor, der seinen Beruf in Wien gelernt habe und nun nach Lemberg gekommen sei, um die Garnison mit seinen Kunststücken zu erfreuen, darunter einen veritablen Prinzen. Als Erstes hypnotisiert der Taschenspieler einen Soldaten und lässt ihn ulkige Dinge tun. Dann liest er dem Oberst aus der Hand – der Oberst werde im Herbst tot sein, muss er verraten.

Als Letzter ist Umprecht an der Reihe. Er erbittet eine Weissagung. Was werde in zehn Jahren sein? Marco Polo will ihm eine Offenbarung der Zukunft als Bild zeigen. Schon verschwindet die Umgebung und Umprecht sieht sich auf einer Bahre liegen, umgeben von Schauspielern.

Rahmenhandlung

Unser Erzähler staunt nicht schlecht. Das ist ja genau die Schlussszene seines Stückes! Wie kann das sein? Als Beweis gibt ihm Umprecht ein Notarschreiben, das auf den 8. September 1868, also vor genau zehn Jahren datiert ist und diese Szene beschreibt. Bemerkenswert.

Herr von Umprechts Erzählung (2)

Als die Offenbarung schwindet, erscheint Marco Polo wieder, verabschiedet sich und reist ab. Ist er eine Geistererscheinung? Nein, der Soldat erwacht aus seiner Hypnose, und der Oberst ist immer noch erschüttert. Er stirbt schon 14 Tage später bei einem Sturz vom Pferd. Diverse Ereignisse überzeugen Umprecht dennoch davon, weiterhin einen freien Willen zu haben, und so heiratet er ein Jahr später. Seine Frau, mit der er nach Kärnten zog, weiß aber nichts von der Weissagung. Ihr Sohn erscheint jedoch in der Vision auch, ebenso seine Ziehtochter.

Mehrere merkwürdige Ereignisse scheinen die Weissagung zur Erfüllung zu bringen. Die roten Haare seiner Frau, die von einem geworfenen Stein verursachte Narbe an der Stirn. Umprecht lebt in ständiger Anspannung.

Rahmenhandlung

Umprecht zeigt dem Erzähler das Schema für die Schlussszene, das er vor zehn Jahren beim Notar aufzeichnete. Darin tauchen Umprecht und seine zwei Kinder auf, so weit okay. Aber wer ist der Unbekannte, der mit erhobenen Händen und weit aufgerissenen Augen auftreten soll?

Der Erzähler beschließt, Umprecht zu glauben, dass nichts passieren kann, und lässt die Aufführung beginnen. Er mischt sich unters Publikum und beobachtet die Geschehnisse auf Bühne, im Orchester und im Publikum. Wird der Unbekannte auftauchen? Gibt es Verdächtige? Die Schlussszene hält nicht nur eine, sondern zwei Überraschungen bereit.

Mein Eindruck

Eine Weissagung oder ein Orakel ist immer eine Glaubensfrage. Ist der so Informierte innerlich bereits so gefestigt, dass er das Orakel ignorieren kann oder nicht? Allein schon die Tatsache, dass Umprecht überhaupt eine Weissagung erbittet, ist schon aufschlussreich. Warum sollte er solche Informationen nötig haben? Will er den jüdischen Taschenspieler bloßstellen und demütigen? Das gelingt ihm nicht, vielmehr ist er selbst hinterher der Dumme und Kleinlaute.

Umprecht, der Vertreter der bürgerlichen Gesellschaft Wiens vor dem Ersten Weltkrieg, ist sich seiner selbst zutiefst unsicher, und die Zukunftsvision, die seinen Tod zu zeigen scheint, trägt nicht gerade zu seiner Ermutigung bei. Folglich ist seine ganze Lebensführung verunsichert. Die Ehefrau färbt sich das Haar rot – Horror! Ein Stein trifft ihn an der Stirn – ein bösartiger Steinewerfer, ein Terrorist gar? Die Schrecken scheinen kein Ende zu nehmen, bis endlich das ersehnt-gefürchtete Datum gekommen ist.

Doch wir erfahren nicht, was in Wirklichkeit mit Umprecht geschieht. Der Bühnenautor, unser Gewährsmann, kann sich ja nicht in Umprechts Geist hineinversetzen, sondern muss wie ein Polizist oder Privatdetektiv nach Verdächtigen und Indizien Ausschau halten. Doch als schließlich alles vorüber ist, versetzen zwei Überraschungen den Beobachter in Aufregung. Ein Rätsel bleibt, etwas Unnennbares, nämlich die Innenwelt.

Der Autor Schnitzler korrespondierte mit Sigmund Freud und wusste über dessen Theorien wohl gut Bescheid. Seine Erzählung ist die Andeutung eines Versuchs, die damalige Gesellschaft um das Jahr 1878 anhand des Herrn Umprecht zu analysieren. Unsicherheit, Antisemitismus, Paranoia bedrücken Umprecht trotz all dessen materieller Sorgenlosigkeit. Das Ende nach zehn Jahren scheint zunächst vermeidbar, doch Umprecht und der Erzähler täuschen sich selbst. Das Ende kommt nicht von außen, wie der Beobachter erwartet, sondern von innen, still und leise.

Freud hätte hierzu einiges zu sagen. Schnitzler deutet an, dass die Gesellschaft an sich selbst scheitern wird. Das steht im Einklang mit seinem Programm. Und die späteren Ereignisse, die zum Ersten Weltkrieg führten, bestätigten Schnitzlers Diagnose von 1905, als habe er selbst eine Weissagung getan.

Die Inszenierung

Der Sprecher

Der Sprecher hat zwei Erzähler zu sprechen, nämlich den eigentlichen Erzähler und zudem Herrn von Umprecht. Zur Verwirrung des Hörers klingen sie ziemlich identisch, und allenfalls könnte man von einer gewissen zögerlichen, angespannten Emotionalität Umprechts sprechen, die ihn vom Erzähler, dem Bühnenautor, unterscheidet. Tratnik modulierte seinen Vortrag, indem er das Tempo ebenso variiert wie die Stimmhöhe. So kann er die Erzählung spannend und menschlich machen. Einmal charakterisiert er „Marco Polo“ mit einem jiddischen Akzent. Anhand der ablehnenden Reaktionen der Soldaten auf den Juden wird der Antisemitismus deutlich.

Die Musik

Die Musik begleitet den Text fast durchgehend, besonders aber die emotional bedeutenden Stellen. Die Instrumentierung ist klassisch, mit Cello, Harfe, Streichern, Percussion. Eine Orgel signalisiert einen mystischen Augenblick bzw. Übergang: den Anfang der Zukunftsvision, aber auch einen Augenblick während der Aufführung.

Die Geräusche

Sowohl viele Stimmen im Hintergrund – etwa Kinderlachen oder Applaus – gehören zu den Geräuschen als auch viele Sounds wie etwa das Klopfen an einer Tür und das knarrende Öffnen derselben. Ein Pferd schnaubt, Vögel zwitschern, ein Zug rattert, Fenster klirren, Hunde bellen usw. Diese Geräusche suggerieren einen Anflug von Realismus, und häufig wird Natur (Vögel, Pferd, Hund) dem künstlichen Ambiente des Menschen (Zug, Tür, Fenster etc.) gegenübergestellt. Das ist zwar noch kein regulärer Film, aber es geht Richtung Hörspiel.

Das Booklet

… informiert ausführlich über den Autor und die Mitwirkenden, fasst den Inhalt der Erzählung zusammen und versucht den Ansatz einer Deutung.

Unterm Strich

Wird die Weissagung und die Zukunftsvision des eigenen Todes eintreten? Diese Frage erzeugt die alleinige Spannung in diesem Text. Folglich darf sie erst ganz am Ende beantwortet werden. Der Aufbau der Handlung ist vom Autor geschickt angelegt. Der Leser bzw. Hörer fragt sich, ob das anfängliche Mysterium der Zukunfts- und Todesschau sich a) wiederholen und b) bewahrheiten wird. Doch ein Rätsel bleibt offen. Was ist die Todesursache? Die Antwort bleibt aus. Ist ein Täter entkommen? Ebenso Schweigen. Die Wirklichkeit lässt sich nicht mehr, wie noch bei den Realisten, festnageln auf Ursache und Wirkung, sondern ein Rest Unerklärbarkeit bleibt.

Diese Weltdarstellung lässt den nicht literarisch vorgebildeten und verständnisvollen Leser bzw. Hörer verwirrt und unzufrieden zurück. Für den Kenner ist aber klar, dass die ganze Geschichte ein Gleichnis oder eine Metapher für die Vorgänge in der Gesellschaft ist. In der Voraussicht und der Erwartung des eigenen Ablebens erinnert die Hauptfigur der Erzählung an den Komponisten Aschenbach, die Hauptfigur in Thomas Manns Novelle [„Der Tod in Venedig“.]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?idbook=2666 Dort wird das dionysische Lebensprinzip dem apollinischen Kunstprinzip gegenübergestellt. Der Konflikt ist unauflöslich und kann nur in der Akzeptanz des Todes enden. Die Kunst kapituliert vor dem Leben.

In Schnitzlers Erzählung findet der Tod der Hauptfigur mitten in einer Kunstszene statt, gerade so, als ob die Kunst ein todbehaftetes Gegenbild zum Leben lieferte. Tatsächlich ist dies bereits von Anfang an der Fall. Durch die Todesvision wird Umprecht daran gehindert, die Zukunft zu vergessen und das Leben in vollen Zügen zu genießen. Dabei ist es genau diese Lebensverneinung, die seinen Tod herbeiführen könnte bzw. dürfte. Die Angst vor dem Tod entzieht dem Lebenden die Kraft, sich diesem Schicksal zu widersetzen. Entscheidend ist dabei, wer die Todesangst erzeugt: Es ist teils der um die Weissagung Bittende, teils der sie Gewährende. Der jüdische „Taschenspieler“, ein Illusionist, unterhält mit Vorspiegelungen, Umprecht reagiert mit Schuldgefühlen – der Beginn einer abschüssigen Bahn.

Dem interessanten psychologischen Realismus der Handlung steht allerdings ein großer Mangel an Aktion gegenüber. Es passiert ja kaum etwas. Das muss bei einem Text, dessen Handlung innerlich stattfindet, zwar zwangsläufig so sein, doch lässt es den Zuhörer unzufrieden zurück, zusätzlich zu den offenen Fragen am Schluss (siehe oben).

Das Hörbuch

Die inszenierte Lesung unterhält den Hörer mit allerlei Geräuschen und einer dezent eingesetzten Musik. Der Eindruck der Nähe zum Film wird erzeugt, ohne jedoch den Anspruch des Filmmediums, unterhalten zu wollen, in befriedigendem Umfang einlösen zu können. Oder zu wollen. Denn ich habe den Verdacht, dass weniger Unterhaltung das Anliegen der Macher ist, als vielmehr Aufklärung und eine Art Bildungsarchäologie. Das ist durchaus löblich, doch wer will das hören? Vielleicht Deutschlehrer an Gymnasien.

Erstveröffentlichung 1905
58 Minuten auf 1 CD
ISBN13: 978-3-939932-04-8
www.stimmbuch.de

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