Peter Scholl-Latour – Russland im Zangengriff. Putins Imperium zwischen Nato, China und Islam

Peter Scholl-Latour, der bedeutendste deutsche Auslandsjournalist, hat sein neuestes Buch Russland gewidmet. „Russland im Zangengriff. Putins Imperium zwischen Nato, China und Islam“ ist ein geopolitischer Lagebericht in Form eines Reisetagebuches, der auf Besuchen Scholl-Latours, der sich grundsätzlich vor Ort informiert, in Russland und einigen seiner Nachbarstaaten von Januar bis Mai 2006 beruht. Dass den Leser in diesem Buch keine Plaudereien, sondern genaue Beobachtungen und Analysen erwarten, machen schon die Umschlagseiten deutlich: Sie zeigen eine Karte Eurasiens mit Russland in der Mitte, die gegenüber den gewohnten Karten leicht verschoben ist. Damit wird einerseits klar, dass Deutschland nicht das Land „im Herzen Europas“ ist, wie Politiker gerne schwafeln, sondern am Rande dieser gewaltigen Landmasse liegt und dass man hierzulande gar nicht anders kann, als sich für das riesige Russland zu interessieren. Andererseits sind alle Staaten farblich markiert, in denen US-Truppen stehen, sei es durch Nato-Präsenz, Krieg oder Kooperationsverträge mit den örtlichen Machthabern. Diese Karte ist die Illustration einer umgekehrten Monroe-Doktrin, mit der die USA sich in Eurasien festsetzen.

Eingerahmt wird das Buch von Berichten aus Russlands ostslawischen Nachbarn, die die Abwehr (Weißrussland) und die Anpassung (Ukraine) an amerikanische Dominanz schildern. Scholl-Latour verdeutlicht die Motive der Politik des weißrussischen Präsidenten Lukaschenko, der im Westen gerne verteufelt wird, ohne dabei unkritisch zu werden. Ohne jede diplomatische Rücksicht berichtet er später, wie die Orange Revolution in der Ukraine von amerikanischen Geheimdienststellen bewerkstelligt worden ist, während uns das öffentlich-rechtliche Staatsfernsehen in Deutschland immer noch die Mär von der spontanen Volkserhebung auftischt, die zufällig nach dem gleichen Rezept wie in Serbien und Georgien stattgefunden hat.

In diesen wie auch in den übrigen Kapiteln zeigt der Autor durch geographische Beschreibungen, Exkurse in die nahe und ferne Geschichte und Gespräche mit Politikern, Wissenschaftlern und einfachen Zeitgenossen, dass Politik keine monokausale Angelegenheit ist, dass sie oft durch überpersönliche und unbewusste Kräfte bewegt wird. Dazu nur zwei Beispiele: Im dem Kapitel über die russischen autonomen Republiken Tatarstan und Baschkirien wird – neben der Tatsache, dass Russland ein Vielvölkerstaat ist – geschildert, wie die dortige Bevölkerung sich langsam einem zunächst durchaus friedlichen, unpolitischen Islam zuwendet. Die Jugend in diesen Gebieten ist neben der Religion auch von der bodenständigen Kultur, dem russischen Einfluss und der westlichen Öffentlichkeit geprägt. Aber wie durch Geisterhand wird der Islam im öffentlichen Leben immer wichtiger. Der rege Kontakt in arabische Staaten und besonders zur Türkei tut ein Übriges. Scholl-Latour zeigt durch Vergleiche mit seinen früheren Reisen die Entwicklung auf. Zweitens ist China durchaus gewillt, die internationalen Spielregeln einzuhalten, aber die trotz brutaler Bevölkerungspolitik steigende Einwohnerzahl baut ganz zwangsläufig einen Druck auf die sich entvölkernden russischen Gebiete in Asien auf.

Russland selber wird in mehreren Kapiteln behandelt, die von den Reiseetappen des Autors in die verschiedensten Regionen dieses gewaltigen Reiches berichten. Nebenbei erkennt man, wie dieses Land von seiner unfassbaren Weite geprägt ist. Touren von einer Stadt in die nächste führen durch hunderte Kilometer Wildnis; die Figuren der großen Denkmäler scheinen mit Blicken und Händen in die Weite auszugreifen. Die rasanten Eroberungen der Zaren im 18. und 19. Jahrhundert und der noch rasantere Zerfall um 1991, der 70-jährige kommunistische Terror und die Schocktherapie, mit der über Nacht ein ungezügelter Kapitalismus Einzug hielt und kommunistische Funktionäre zu geschäftstüchtigen Spekulanten mutierten, haben Russland in eine beständige Unruhe gebracht. Eine weitere bedeutende Konstante im heutigen Russland ist die Auseinandersetzung zwischen der Moskauer Zentrale sowie den Oligarchen und Provinzführern, die an den jahrhundertelangen Kampf zwischen Kaiser und Landesfürsten im deutschen Mittelalter erinnert.

Mit all diesen Gegebenheiten hat Präsident Putin umzugehen – neben den Ambitionen der anderen Großmächte USA und China. Diesen Machtpolitiker, der bei uns entweder als blutiger Diktator oder aber als schwärmerischer Deutschlandfreund verzerrt wird (Deutsch spricht er übrigens so gut, weil er als KGB-Offizier in der DDR gearbeitet hat), zeichnet Scholl-Latour nüchtern als kühl kalkulierenden Staatsmann, der sich den genannten äußeren Zumutungen und inneren Spannungen ausgesetzt sieht, aber auch sehr machtbewusst Einfluss-Sphären vor allem auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion sucht, der die offenen Flanken seines „Imperiums“ decken muss und dabei rücksichtslos Geheimdienste und Bodenschätze als Waffen einsetzt. Ohne zu werten, erhellt der Autor die geopolitische und die innere Lage und die Interessen Russlands. Aber auch Scholl-Latour vermag die Sphinx Putin nicht vollends zu entschlüsseln.

„Russland im Zangengriff. Putins Imperium zwischen Nato, China und Islam“ lässt den Leser nicht nur Land und Leute, wie man so schön sagt, kennen lernen, sondern hilft auch durch die genauen und unvoreingenommenen Beobachtungen, die Jahrzehnte alte Kennerschaft des Autors und die klare Sprache, die Welt von heute insgesamt besser zu verstehen. Man wünscht sich, Peter Scholl-Latour hätte auch noch Abstecher nach Indien und in den Iran gemacht. Quasi im Vorbeigehen erhält man außerdem einige Literaturempfehlungen, die für eine vertiefte Beschäftigung wertvoll sind.

Dieses Buch verhilft zu zwei wichtigen Erkenntnissen: Zum einen hilft es, obwohl Deutschland nur am Rande Thema ist, deutsche Interessen zu erkennen, und kann so zu einer rationalen Politikformulierung beitragen. Mehr als einmal gibt Scholl-Latour Empfehlungen, die unseren Politikern, die Außenpolitik scheinbar für eine Sache halten, die Wirtschafts- und Sozialpolitik ermöglicht oder der Demonstration der Ergebenheit gegenüber gewissen Staaten dient, quer liegen dürften. An der Beschäftigung und der Zusammenarbeit mit diesem seltsamen, großen Russland führt kein Weg vorbei. Und die zweite Erkenntnis: Deutschland ist auch ein seltsames Land. Hier gehen Ideologen in die Politik, und die wirklich politischen Köpfe schreiben Bücher.

Und noch eine dritte Erkenntnis: Ich muss Zbigniew Brzezinskis „Die einzige Weltmacht“ noch mal lesen.

Gebundene Ausgabe: 432 Seiten
www.propylaeen-verlag.de