Joe Schreiber – Untot. Horrorroman

Die Leichenfahrerin: Roadtrip des Horrors

Ein Unbekannter entführt Sues kleine Tochter Veda und verlangt von ihr, eine Leiche auszugraben und auf einer bestimmten Route zu einem bestimmten Ort an der Küste zu fahren – am längsten Tag des Jahres. Eine Jagd durch verlassene Dörfer und über verschneite Landstraßen beginnt, auf der Sue nicht nur bizarre Wesen kennenlernt, sondern auch ihren verschwundenen Ehemann Phillip wiedertrifft. Dumm nur, dass er besessen ist …

Der Autor

Joe Schreiber hat als Ghostwriter und Koautor bereits an zahlreichen Romanen mitgewirkt. Nach vielen Reisen hat er sich mit seiner Familie in Pennsylvania niedergelassen. Nach „Chasing the Dead“ erschien „Eat the Dark“.

Handlung

Eigentlich will Sue Young bald Weihnachten feiern, als sie am 21. Dezember nach Hause zurückkehrt. Sie lebt in Concord, ein paar Meilen außerhalb Bostons, und wartet schon sehnsüchtig auf ein Wiedersehen mit ihrem kleinen Töchterlein, der erst anderthalb Jahre alten Veda. Ihr Kindermädchen Marilyn soll sie mitbringen. Doch dazu kommt es nicht.

Die Stimme eines Unbekannten dringt aus dem Handy, als Sue in der Küche steht, und fragt sie nach ihrer Tochter. Sie sei ja so süß! Sue rutscht der Boden unter den Füßen weg. Er hat ihr Baby, ihr ein und alles! Seit ihr Mann Phillip vor etwa zwei Jahren nach Kalifornien verschwand und ihr all seinen Reichtum hinterlassen hat, steht Sue allein im Leben und widmet all ihre Kraft ihrer Kleinen. Sie verspricht, alles zu tun, was Vedas Entführer verlangt. Und das ist eine ganze Menge.

Bei einer Begegnung der beiden Autos setzt er Marilyns augenlose Leiche neben Sue in ihr Auto. Keine Spur von Veda. Sobald Sue ihr Entsetzen überwunden hat, entdeckt sie unter dem Zettel mit der Aufschrift „Bestraft“ – Sue war nicht brav, hat aber auch nicht die Polizei gerufen – eine Landkarte, auf der eine bestimmte Reiseroute eingetragen ist. Die Route führt durch sieben Dörfer bis zur Küste. Das Unheimliche an dieser Route ist ihr Anfang: Er liegt in Gray Haven, Sues Heimatstadt.

Über Autotelefon und Handy setzt sich der Entführer jederzeit mit Sue in Verbindung, um ihr neue Anweisungen zu geben. Als ehemalige Ambulanzfahrerin ist Sue das Fahren auf vereisten, verschneiten Landstraßen gewöhnt und sie handhabt ihren Jeep mit großer Geschicklichkeit. Sobald sich ihre Nerven beruhigt haben, und das ist nicht oft. Gray Haven besitzt, wie alle anderen Dörfer ebenfalls, eine Statue in seinem zentralen Platz. Diese zeigt einen gewissen Isaac Hamilton, doch mehr weiß Sue nicht über ihn. Und alle Dörfer wurden im Jahr 1802 gegründet. Aber aus welchem Grund oder zu welchem speziellen Zweck?

Als sie endlich den Grund erfährt, warum der Unbekannte sie nach Gray Haven geschickt hat, beginnt Sue ein namenloses Grauen zu beschleichen, und alte Erinnerungen steigen in ihr auf. Hier haben nämlich sie und Phillip im Jahr 1983, als sie noch zwölf war, einen Mann getötet und begraben. Nun soll sie dessen Leiche wieder ausgraben und in ihrem Jeep zur Küste transportieren. Später erinnert sie sich, wer der Mann war: Man nannte ihn den „Lokführer“, weil er stets eine blaue Latzhose und eine rotes Taschentuch darin trug. Und er wurde gesucht, weil er man ihn für ein Dutzend Morde an verschwundenen Kindern verantwortlich machte. Seltsam, wie sie das verdrängen konnte, wundert sich Sue, bevor sie anfängt, mit den Fingernägeln im kalten Schlamm nach der Leiche zu graben. Sie ist kein braves Mädchen gewesen und hat vergessen, wie befohlen eine Schaufel mitzunehmen.

Als sie im nächsten Ort fast einen Pickup-Laster rammt, steigt dessen Fahrer aus. Er nennt sich Jeff Tatum, ein junger Bursche, der sie eindringlich davor warnt, ihrer Reiseroute zu folgen. Er gibt ihr eine Tonbandkassette mit Informationen über Isaac Hamilton und den Lokführer, zudem lehrt er sie ein Gedicht, das mit den sieben Dörfern zu tun hat. Doch gerade, als er selbst zu erzählen beginnt, was er will, bereiten Schüsse aus einer Flinte seinem Leben ein vorzeitiges Ende. Sue fragt sich, ob sie es je rechtzeitig an die Küste schaffen wird, um Veda wiederzusehen.

Doch es dauert nicht lange, und auch die Polizei interessiert sich lebhaft für die drei Leichen in Sues Wagen …

Mein Eindruck

Ich habe dieses flotte Horror-Garn an nur einem Abend ausgelesen. Zunächst führt einen der Autor einfühlsam in das Leben und die Seelenlandschaft von Sue Young ein, wir erfahren ein wenig von ihr und Phillip und Veda. Mit dem ersten schockierenden Anruf beginnt die Action – und die Panik. Erst nach einer ganzen Weile vermag sich Sue am Riemen zu reißen und die alten Instinkte als Ambulanzfahrerin die Kontrolle übernehmen zu lassen. Und es dauert noch einmal eine Weile, bis sie in der Lage ist, die schreckliche Absicht des Entführers zu durchschauen und ihm Kontra zu geben. Denn dass sie am Ende der Reise ihre Tochter zurückbekommt, ist nur ein Köder, und der Endpunkt selbst eine Falle, in die Sue tappen soll, damit – ja, was? – mit ihr passiert.

Mehr soll nicht verraten werden, aber es hat wohl etwas damit zu tun, dass die drei Leichen, die Sue durch das nächtliche Massachusetts karrt, wieder lebendig werden, je mehr sie sich ihrem Ziel nähert. Zu ihrem Leidwesen muss sie erkennen, dass nicht der Mann von 1983 auf ihrer Ladefläche liegt, sondern der jüngst ermordete Phillip. Da er sowohl untot als auch besessen ist, will er ihr sofort an die Kehle, um ihr das Lebenslicht auszublasen. Doch dagegen weiß Sue ein Mittel – jenes Gedicht, das ihr Jeff Tatum kurz vor seinem Tod vorgesagt hat.

Es ist ein ganz besonderer Geist, der Besitz von Phillip ergriffen hat und nun Sue verfolgt. Isaac Hamilton war kein gewöhnlicher Sterblicher, denn warum sonst hätte man seinen Körper zerteilen und die Teile in sieben verschiedenen Dörfern begraben sollen, als wäre er ein Hexer? Wenn man aber seine vier Gliedmaßen und den Kopf sowie den Torso verteilt hat, wo ist dann sein Herz begraben? Natürlich am Endpunkt der Reise, in White’s Cove an der Küste. Dort soll Sue ihre Tochter wiedersehen, aber sie weiß, dort wartet Isaac Hamiltons Falle darauf zuzuschnappen. Sue fasst einen verzweifelten Plan …

Wie so viele Horrorgeschichten ist auch diese eine Aufarbeitung einer alten Schuld. Zunächst jener Mord im Jahr 1983, dann aber auch die mehrfachen Tötungen Isaac Hamiltons Ende des 18. Jahrhunderts, bis er im Jahr 1802 offenbar endgültig seine letzte Ruhe fand (wirklich?). Auch Hamiltons Leidensweg begann irgendwann – es war wohl auf Haiti (damals Hispaniola), wo er den Voodoopriestern in die Hände fiel. In diesem Teil der Erzählung erhält das Buch durch die historische Dimension eine im vorderen Teil vermisste Tiefe.

Der Schluss mag ein wenig unübersichtlich erscheinen, aber nur deshalb, weil sich so viel gleichzeitig ereignet. Wenn man sich auf Sues Blickwinkel konzentriert, erfolgt alles recht folgerichtig. Die Explosionen gehören wohl einfach zu einem richtigen amerikanischen Showdown dazu.

Die Übersetzung

Auf Seite 45 sollte es statt „ohne dass der Mann am Telefon verstehen wüsste“ natürlich „müsste“ heißen. Und auf Seite 19 sollte Sues Wohnort nicht „Concorde“ wie das Flugzeug heißen, sondern, wie wenige Seite später korrekt angegeben, Concord. Diese Stadt ist die Heimat zweier der berühmtesten amerikanischen Schriftsteller, nämlich von Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau („Walden“).

Unterm Strich

Dass sich in Neu-England jede Menge Horrorgeschichten finden und erzählen lassen, weiß man schon aus H. P. Lovecrafts Erzählungen und von Nathaniel Hawthornes Roman „Der scharlachrote Buchstabe“. In Salem nahe Boston fanden 1692 die Hexenprozesse statt, und Geschichten von Wiedergängern, Geisterhäusern und dem Indianerunhold Wendigo finden sich allenthalben in Literatur und Film. Auch Stephen King hat mit [„Salem’s Lot“]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?idbook=3831 sowie dem herrlichen Stück „Briefe aus Jerusalem“ dieser Tradition seinen Tribut gezollt. Joe Schreiber reiht sich ein, mit einem Horrorstück, das dieser Tradition durchaus würdig ist.

Wer weiß, ob nicht eines Tages ein findiger Marketingheini aus der Tourismusbranche auf die Idee kommt, eine Tour der sieben Isaac-Hamilton-Dörfer anzubieten und sie „Roadtrip des Horrors“ zu nennen? Ich würde sofort hinfahren, wenn ich Stephen-King-Fan wäre.

Am Ende des Epilogs klingelt das Telefon in Sues Hotelzimmer auf Hawaii. Wenn ich Sue wäre, würde ich lieber nicht rangehen. Denn Isaac Hamiltons Herz wurde nie gefunden … (Fortsetzung folgt? Siehe oben.)

Originaltitel: Chasing the Dead, 2006
Taschenbuch: 288 Seiten
Aus dem US-Englischen von Ulf Rittgen
ISBN-13: 9783404157174
www.luebbe.de

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