James Siegel – Entgleist. Thriller (Lesung)

Ein braver Werbefachmann und Familienvater gerät durch die Verlockungen des Sexus auf moralische Abwege. Womit er nicht gerechnet hat: Er wird wohl für den Rest seines Lebens erpresst. Wenn er nicht schnellstens einen Ausweg findet, hat er die Zukunft seiner kranken Tochter verspielt. Ein Albtraum nimmt seinen Anfang.

Der Autor

James Siegel studierte an der Uni von New York, bevor er eine Karriere als Werbefachmann einschlug, dessen Kampagnen mehrfach ausgezeichnet wurden. Sein Debütroman „Epitaph“ erhielt 2001 den ersten Preis als bester Kriminalroman, eine Auszeichnung der „Private Eye Writers of America“. Der Autor lebt auf Long Island vor der Stadt New York. (Verlagsinfo)

James Siegel (* 1954) ist Schriftsteller und Vizevorstand der Werbeagentur BBDO in New York. Er hat 1977 seinen Bachelor of Arts am York College der City University von New York gemacht und lebt in Long Island.

Basierend auf seinen Roman Entgleist wurde ein gleichnamiger Film gedreht, der am 23. Februar 2006 in die deutschen Kinos kam.

Inzwischen wurde „Entgleist“ fortgesetzt. Siegels nächster Thriller trug den Titel „Detour“ (= Umweg).

Romane

Entgleist, (engl. Derailed) Ehrenwirth 2004, ISBN 3-431-03585-X
Verschollen, Bastei Lübbe 2005, ISBN 3-404-15382-0
Getäuscht, Ehrenwirth 2006, ISBN 978-3-431-03698-5
Lügenspiel, Ehrenwirth 2008, ISBN 978-3-431-03751-7

Der Sprecher

Jürgen Kluckert hat an der Schauspielschule „Ernst Busch“ studiert und Rollen im „Tatort“, bei „SOKO“ und „Liebling Kreuzberg“ gespielt. Auch am Theater und als Synchronstimme von u. a. Morgan Freeman, Nick Nolte, Robbie Coltrane und Chuck Norris wurde er bekannt.

Handlung

Jeden Morgen nimmt der Werbefachmann Charles Schine den Zug um 8 Uhr 43, der ihn von Long Island nach New York City bringt, wo Charles in einer Werbeagentur arbeitet. Als verheirateter Mann mit einer zuckerkranken Tochter, Anna, tendiert er dazu, lieber kein Risiko einzugehen. Das geht so lange gut, bis er einmal einen Zug später fahren muss. Er ist so in Eile, dass er nicht einmal einen Fahrschein gelöst hat. Das Geld dafür muss er sich von einer netten Passagierin leihen: ganze neun Dollar. Sie heißt Lucinda, hat auffallend schöne Beine und noch viel schönere Augen. Klar, dass er sie wiedersehen will.

Doch sie sei verheiratet, sagt sie, und könne ihn nur zu bestimmten Zeiten treffen. Da sie auch in der Stadt arbeitet, trifft sie Charles zum Mittagessen, dann einmal zum Abendessen, schließlich wird aus dem harmlosen Flirt eine heiße Affäre. Charles braucht den Aufwind, den ihm Lucinda verschafft, denn mit seiner eigenen Karriere steht es nicht zum Besten.

Sie fahren zusammen zu einem schäbigen Hotel in einem gefährlichen Viertel, wo kaum Weiße zu sehen sind, schon gar nicht so wohlhabende wie dieses Pärchen. Lucinda wählt das Hotel, und Charles lässt sie bestimmen. Nach einem leidenschaftlichen Schäferstündchen folgt das böse Erwachen. Auf der Treppe vor dem Zimmer lauert ihnen ein Kerl auf, der Charles mit einem Revolver niederschlägt. Während Charles um sein Bewusstsein ringt, vergewaltigt der brutale Kerl Lucinda mehrmals. Erst nachdem er ihre Brieftaschen geraubt hat, verschwindet er. Beschämt trennen sich Lucinda und Charles voneinander.

Doch damit endet der Alptraum keineswegs. Er beginnt erst. Denn der Räuber, der sich Raul Vasquez nennt, ruft in Charles‘ Haus an. Dessen Frau Deanna ahnt nichts Böses und reicht den Anruf an Charles weiter: Vasquez verlangt zehntausend Dollar für sein Schweigen. Charles ist leicht erpressbar, denn er hat Deanna nichts von dem traumatischen Zwischenfall erzählt. Sie hat mit der zuckerkranken Tochter bereits genug Sorgen am Hals, denkt Charles. Und natürlich darf auch Lucinda nichts zustoßen, die er schmählich im Stich gelassen.

Er übergibt Vasquez die 10.000 Dollar in einem schäbigen New Yorker Viertel, doch ein paar Wochen später verlangt Vasquez die zehnfache Summe. Dafür muss Charles den Fonds, den er für seine Tochter angelegt hat, angreifen. Doch er bemerkt Anzeichen, dass Vasquez in der Nähe seines eigenen Hauses war. Und so willigt er ein, auch diese Summe zu zahlen. In der Firma lässt er sich auf krumme Geschäfte ein, um den Verlust auszugleichen.

Ihm wird endlich klar, dass Vasquez nie aufhören wird, ihn zu erpressen. Und deshalb wendet er sich an Winston Boyko, der in seiner Firma die Post austrägt. Winston ist ebenfalls Baseballfan und Charles‘ einziger Kumpel. Da er schon mal im Gefängnis war, kennt er sich aus. Doch er will ganz genau wissen, worum es Charles geht. Der muss erkennen, dass er Vasquez nur durch dessen Tod los wird.

Diese explizite Anstiftung zum Mord wird Charles später noch große Probleme bereiten. Denn von nun an geht alles schief, was nur schief gehen kann. Jedenfalls bis zu dem Tag, an dem Charles erkennt, dass Lucinda gelogen hat, als sie sagte, sie habe selbst eine kleine Tochter …

Mein Eindruck

Diese Story ist so abgedroschen, dass sich der Autor etwas Neues einfallen lassen musste. Dies findet in einer Art Rahmenhandlung statt. Charles Schine ist mittlerweile Creative-Writing-Lehrer in einer Haftanstalt. Was hat er hier zu suchen, fragt man sich vielleicht. Allerdings kennt man Charles zu diesem Zeitpunkt noch nicht, denn diese Rahmenhandlung bildet den Beginn der Geschichte. Also wundert sich der Hörer noch nicht, was das soll.

In Charles‘ Schreibklasse sitzen natürlich Knastbrüder, klar. Sie geben ihre Arbeiten anonym ab. Doch einer von ihnen gibt nach und nach eine Geschichte ab, die der Lebensgeschichte von Charles seit jenem fatalen Tag, als er Lucinda kennen lernte, aufs Haar genau ähnelt! Woher weiß der anonyme Mann das?

Nach einer Weile zieht es Charles vor, seine Geschichte selbst zu erzählen. Diese Binnenhandlung macht den Löwenanteil des Romans aus. Dann taucht Charles hier im Knast auf, in seiner Schreibklasse. Die Rahmenhandlung wird zur alleinigen Haupthandlung. Endlich wird auch der Zweck der Schreibklasse klar: Hier sucht Charles seinen Erpresser und Peiniger … Mehr darf nicht verraten werden, aber aus der Inhaltsangabe kann man sich ausrechnen, wie es weitergeht.

Der Autor hat also doch noch einen Kniff gefunden, seiner uralten, ausgelutschten Story vom gefallenen Biedermann einen spannenden Dreh zu verpassen, der dem Rest des Buches eine gewisse Spannung verleiht. Was jedoch inhaltlich etwas verblüfft, sind die erheblichen Unterschiede in der Erscheinung des Charles Schine. Der Lehrer im Knast ist ein abgebrühter Typ, der genauso gut selbst Jahre abgesessen haben könnte. Dem ist einiges zuzutrauen. Der Familienvater Schine hingegen, der in der Binnenhandlung über die Fallstricke der Moral stolpert und erpressbar wird, ist ein ganz anderer Mensch: ein Trottel von Biedermann.

Wenn aber beide Schines identisch miteinander sind, so muss eine erhebliche Entwicklung stattgefunden haben. Nun erhebt sich natürlich die spannende Frage, wie es zu dieser Entwicklung kommen konnte – und wozu der „neue“, aktuelle Charles Schine fähig ist, wenn er gefunden hat, was er im Knast sucht. Man wartet einigermaßen neugierig auf die Beantwortung dieser zwei Fragen – und wird auch vom Autor keineswegs enttäuscht. Diese Erzähltechnik allein hebt den Roman aus der Masse amerikanischer 08/15-Thriller heraus.

Hörerlebnis

Während mir das Lesen des Buches zunehmend durch verschiedene Umstände verleidet wurde, konnte ich mich für das Hörbuch immer mehr erwärmen. Hier fehlen die weinerlichen Blicke auf die ach so kranke Tochter Anna und die ach so vertrauensselige und furchtbar verletztliche Gattin Deanna – ein vermeintliches Idyll, das der ach so zartbesaitete und fürsorgliche Charles keinesfalls zerdeppern möchte. Lucinda ist nicht mehr die strahlende Verlockung, sondern ein verführerisches Weib, und Raul Vasquez ist nicht mehr der Teufel an der Wand, sondern einfach nur ein normal-skrupelloser Krimineller.

All diesen Mumpitz hat der kluge Bearbeiter dem Hörspiel ausgetrieben. Die Handlung rast schnurstracks wie ein D-Zug auf die Katastrophen zu, die sich in Charles‘ Leben ereignen müssen, damit die oben genannten zwei Identitäten ein Kontinuum bilden. Dennoch gilt es einige Peinlichkeiten zu überstehen, die nicht gestrichen wurden. So etwa stellt Charles eines Nachts fest, dass jemand – Vasquez? – an den Baum gepinkelt hat, der die Grenze des Grundstücks der Schines markiert. So als sei Vasquez ein Hund, der sein Territorium markiert, indem er Bäume anpisst.

Apropos Hunde: Als Charles eine Leiche auf einem Müllplatz entsorgen will, wird er von einem räudigen Köter bedrängt, der den blutigen Körper, der da in sein Revier gebracht wird, für sich beansprucht und großzügigen Futterlieferanten die Zähne zeigt. Charles bevorzugt das klügere Ende der Tapferkeit und nimmt Reißaus. Er hat zu diesem Zeitpunkt offensichtlich Angst vor wehrhaften Wadenbeißern.

(Achtung: SPOILER!)

Später kehrt er an den Tatort zurück, an dem sein Albtraum begann: das Hotelzimmer, das erst zum Liebesnest und dann zum Schausplatz seiner schlimmsten Erniedrigung wurde. Durch einen abstrusen Zufall fliegt genau im entscheidenden Augenblick das Hotel in die Luft. Es sind genau solche „plot-twists“, an denen sich die Geister scheiden: Die einen finden sowas geil, weil völlig unvorhergesehen. Die anderen finden sowas dämlich, weil es dafür überhaupt keine plausible Erklärung gibt, die ihre Vernunft ansprechen würde. Ich gehöre zu Letzteren. Allerdings liefert diese Wendung dem Autor einen Vorwand, noch weitere hundert Seiten zu schreiben. War es das wert? Vielleicht, da bin ich mir nicht sicher. Aber es hätten sich eine Menge Schlüsse angeboten, die weniger spannend gewesen wären.

Der Sprecher

Jürgen Kluckert, die deutsche Stimme von Morgan Freeman, verfügt über ein ähnlich sonores Sprechorgan wie Frank Glaubrecht (Al Pacino) und Joachim Kerzel (Jack Nicholson u. v. a.). Deshalb fällt es ihm keineswegs schwer, der mitunter doch recht absurden Story die nötige Autorität mit auf den Weg zu geben, so dass der Hörer einigermaßen leicht seinen natürlichen Unglauben aufgibt und sich auf die Lebensgeschichte des Charles Schine einlässt. Ich konnte keine Aussprachefehler feststellen. Die Story wurde erheblich gestrafft, ganze Szenen fielen dem Rotstift zum Opfer – gut so, sage ich (s. o.). Druckfehler wie im Buch gab es glücklicherweise auch keine. 😉

Unterm Strich

Im Vergleich zum Buch „Entgleist“, das ich angefangen hatte, bevor ich aufs Hörbuch umstieg, hat mir die Audiofassung ausgezeichnet gefallen. Lässt man die genannten Absurditäten mal so gelten, so ergibt sich doch ein auf ungewöhnliche Weise erzählter Thriller, der über die Masse der amerikanischen 08/15-Thriller hinausragt.

Das Thema besteht nun nicht mehr darin, wie Otto Normal seine Familie vor dem Bösen schützt, sondern wie sich Otto Normal verändern muss, um in der Lage zu sein, das Böse zur Strecke zu bringen. Und das ist ein anderes, weitaus spannenderes Spiel. Über die Moral von der Geschicht‘ sollte sich jeder selbst seine Gedanken machen. Im Augenblick, also 2004, ist die Versuchung groß, alles auf die aktuelle politische Lage der USA und den Irakkrieg zu übertragen.

Das Hörbuch

Der Sprecher bringt seine große stimmliche Kompetenz, sprachliche Wendigkeit und seine Autorität ein, um der Story des Thrillers die nötige Glaubwürdigkeit und Spannung zu verleihen. Dies ist durchaus gelungen. Kritikpunkte lassen sich lediglich in inhaltlicher Hinsicht finden, und das zur Genüge.

Umfang: 314 Minuten auf 4 CDs
ISBN-13: 9783785714652

www.luebbe.de/luebbe-audio

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