Curt Siodmak – Hausers Gedächtnis

Im Kalten Krieg: Risiken der Gedächtnisübertragung

Der amerikanische Neuro-Biochemiker Prof. Patrick Cory wird von der CIA gebeten, den Gedächtnisinhalt des deutschen Physikers Karl Hellmuth Hauser zu retten, bevor der von den Russen angeschossene Patient stirbt. Die einzige Methode dafür ist Corys Spezialität: die Übertragung von RNS, die der DNA verwandt ist. Doch bevor er sich die aus Hausers Gehirn gewonnene RNS selbst injizieren kann, kommt ihm sein jüdischer Assistent Hillel Mondoro zuvor. Dieser beginnt, sich auf beängstigende Weise zu verändern …

Der Autor

Curt Siodmak, 1902 in Dresden geborener Bruder von Hollywoodregisseur Robert Siodmak, schrieb neben zahlreichen Novellen und Filmdrehbüchern einige SF-Romane, die mittlerweile als Klassiker des genres gelten. Neben „Das dritte Ohr“ (1971) sind vor allem das verfilmte „Donovans Gehirn“ (1941) sowie „Hausers Gedächtnis“ (1968) berühmt geworden, die sich ebenfalls mit Psi-Phänomenen beschäftigen. Alle drei Bücher sind bei Heyne erschienen. Siodmak starb anno 2000.

Handlung

Francis L. Slaughter sagt es zwar nicht, aber er arbeitet für die CIA in Washington, D.C. bzw. Langley. Dort hat man großes Interesse daran, einen ehemaligen deutschen Raketeningenieur, der in russische Gefangenschaft geriet, in die USA zu holen. Sein Name: Karl Hellmuth Hauser. Leider geht auf dem Flughafen in Berlin etwas schief und die Russen schießen auf Hauser. Er wird ins Rückenmark getroffen und ist fortan gelähmt. Als er in Los Angeles eintrifft, hat er nur noch wenige Stunden zu leben. Slaughter und seine Vorgesetzten sind jedoch nicht an Hausers Körper interessiert, sondern an seinem Gedächtnis. Sie wollen es übertragen, bevor es zu spät ist. Womöglich weiß Hauser alles über das russische Raketenprogramm.

Der Professor

Deshalb wird Slaughter bei Prof. Patrick Cory vorstellig. Der ist Hirnbiochemiker und hat erfolgreich Gedächtnisinhalte zwischen Tieren übertragen, einfach durch Extraktion und Injektion von RNS, dem Botenstoff für genetische Inhalte aus der DNS. Cory ist jedoch ein kühler Kopf, wie Slaughter feststellen muss, und will sich nicht festlegen. Eine RNS-Übertragung auf einen Menschen wurde noch nie gemacht. Sie könnte den Wirt umbringen.

Doch auf diesen Einwand ist Slaughter selbstverständlich vorbereitet. Er präsentiert einen langjährigen Strafgefangenen, der keine Hoffnung mehr auf Begnadigung hat. Doch wieder schießt Cory quer und informiert Forster über die Lebensgefahr, in die er sich begeben würde, wenn man ihm die RNS spritzen würde. Daraufhin macht Forster einen Rückzieher. Slaughter ist frustriert. Diese vermaledeiten Wissenschaftler! Slaughter sagt Cory natürlich nicht, um wen es sich bei Hauser handelt – Staatsgeheimnis!

Das Experiment

Doch gegen einen großzügigen Scheck an die Institutsleitung machen sich Dr. Cory und sein Assistent Dr. Hillel Mondoro dennoch an die Arbeit, um die RNS in letzter Sekunde aus Hausers Gehirn zu extrahieren. Es reicht gerade mal für eine gut gefüllte Spritze voll – tiefgekühlt, versteht sich. Als Hillel realisiert, dass Cory vorhat, sich das Zeug selbst zu spritzen, protestiert er heftig. Corys brillanter Kopf dürfe bei solch einem riskanten Experiment nicht verloren gehen. In einem unbeobachteten Augenblick injiziert sich Mondoro das Teufelszeug deshalb selbst.

Der Fremde im Bett

Karen Mondoro ruft Cory, einen engen Freund der Familie, sofort an. Mondoro hat Fieber und fantasiert. Cory beruhigt sie natürlich, bevor sie noch in Panik gerät und alles hinausposaunt. Sie ist ja auch sonst eine vernünftige Frau. Doch sie stellt merkwürdige und besorgniserregende Veränderungen an Hillels Geistes- und Gemütszustand fest. Ihr kommt es bald so vor, als liege sie mit einem Fremden im Bett. Von diesen Veränderungen sagt Cory wiederum Slaughter nichts.

Hillel beginnt unvermittelt, deutsche Bücher zu lesen, vor allem über moderne Philosophie und Technik. Dabei konnte er vorher kein Deutsch, außer etwas Jiddisch, der Sprache seiner Vorfahren. Auf Corys drängende Fragen antwortet er ausweichend. Er fühle sich wie jemand namens Hauser und sollte woanders sein. Dann verschwindet er.

Reykjavik

Beschattet von Slaughters Agent Krensky meldet sich Hauser/Mondoro aus Reykjavik bei Cory, sodass Cory seinerseits erst Karen und dann Slaughter beruhigen kann. Wieso will Hauser/Mondoro jedoch unbedingt nach Kopenhagen, Frankfurt/Main und Prag reisen? Cory macht aus, ihn in Kopenhagen zu treffen. Dort muss er erkennen, dass Hausers Gedächtnis bereits auf verhängnisvolle Weise die Initiative ergriffen hat. Ein dänischer Mann, den der Nazi Hauser aus Kriegstagen kannte, ist bereits an einer Herzattacke gestorben.

Wie viele Menschen werden Hausers Gedächtnis noch auf seiner Reise durch Europa zum Opfer fallen? Und vor allem: warum?

Mein Eindruck

Die Übertragung des Gedächtnisses ist also gründlich schiefgelaufen, wie Cory zu seiner wachsenden Bestürzung erkennen muss. Doch statt nun den totalen Horror zu erleben, rückt er dem Problem mit den Mitteln der Vernunft zu Leibe. Offenkundig wurden nicht nur Erinnerungen, sondern auch Charaktereigenschaften, Motive, Frustrationen und Sehnsüchte durch die RNS übertragen. Das leuchtet ein, denn alle diese Artefakte lassen sich nicht fein säuberlich voneinander trennen.

Die Folgen der Übertragung sind zweischneidig: Einerseits ließe sich auf diese Weise Unsterblichkeit erzielen, andererseits wird dadurch eine Art Besessenheit im Wirt herbeigeführt. Der Besessene wird zu einem Dibbuk und ist somit völlig unberechenbar.

Die Dibbuk-Legende

Hillels Frau Karen erwähnt die Figur des Dybbuk oder Dibbuk selbst, und Cory erweitert dieses Bild um den Jekyll-Hyde-Aspekt. Um die ganze Tragweite dieser Metapher, die der Autor am Rande einwirft, erkennen zu können, sollte man sich mit der Dibbuk-Figur näher befassen.

Ich zitiere aus der deutschen Wikipedia: „Ein Dibbuk (auch Dybuk oder Dybbuk genannt; Pl. Dibbukim; hebräisch = ‚Anhaftung‘) ist nach jüdischem Volksglauben ein oft böser Totengeist, der in den Körper eines Lebenden eintritt und bei den so von einem Dibbuk besessenen Personen irrationales Verhalten bewirkt.

Der Dibbuk hat nach dem Volksglauben keine metaphorische, sondern eine konkrete (!) Bedeutung. Der böse Geist, der in einen lebenden Menschen fährt, klammert sich an seiner Seele, ruft Geisteskrankheit hervor, spricht durch seinen Mund und stellt eine von ihm getrennte und fremde Person dar.

Er ähnelt den Dämonen und Geistern, die in der katholischen Kirche beim Exorzismus auszutreiben sind. Es wird angenommen, dass eine Seele, die zu Lebzeiten ihre Funktion nicht erfüllen konnte, eine weitere Möglichkeit dazu in Form eines Dibbuk erhält. Diese Vorstellung verschmolz im 16. Jahrhundert mit der Lehre des Gilgul und Ibbur (‚Seelenwanderung‘ und ‚Reinkarnation‘) aus der lurianischen Kabbala und fand große Verbreitung vor allem im ostjüdischen Raum.

Der Dibbuk wird in der Regel durch einen Zaddik (hebräisch für ‚Gerechter‘) sowie zehn weitere Mitglieder der Gemeinschaft (Minjan), welche im Totenhemd gekleidet sind, ausgetrieben.“ Die Legende kam um 1560 auf und wurde schon 1937 in Polen verfilmt. Der Film „A Serious Man“ der Coen-Brüder (2009) beginnt mit einer Dibbuk-Szene – der Mythos lebt …

Ringen im Kopf

Da in Hillel nun zwei Bewusstseine um die Vorherrschaft ringen, ergeben sich verschiedene Probleme und Bedeutungen. Hillel ist ein weltoffener, optimistischer Wissenschaftler, der für den idealen Geist der Vereinigten Staat steht. Hauser ist ebenfalls Wissenschaftler, doch ist er depressiv, von seinem Kerkermeister missbraucht und um seine Familie betrogen worden. Dass er noch etwas verloren hat, wird erst kurz vor dem Ende offenbart: Die Schnittstelle ließ ihn bei der Folterung kastrieren. Kein Wunder also, dass er voll von Zwangsneurosen, Paranoia und Hass auf seine Peiniger erfüllt ist. Hauser ist zu allem fähig.

Hillel/Hausers Odyssee von Kopenhagen über West- und Ost-Berlin bis nach Prag und Zürich folgt einer inneren Gesetzmäßigkeit. Ständig von westlichen und östlichen Agenten hin und her entführt, kurven die beiden Wissenschaftler zwischen beiden scharf getrennten Gesellschaftssystemen. Besonders in Prag stoßen sie auf eine nebulöse Koexistenz beider Systeme und müssen sich entscheiden, welcher Seite sie vertrauen können.

Kampf der Systeme

Dabei entspricht Hillel grob dem westlichen, zukunftsorientierten System und Hauser dem östlichen, vergangenen System. Um diese innere Zerrissenheit in Hillel/Hauser zu überwinden, hilft keine rationale Argumentation. Hauser trickst Cory aus und macht sich daran, seine Vergangenheit konsequent zu bereinigen. Dabei setzt er zugleich Hillels Leben aufs Spiel. Doch es kann für Hillel keine Zukunft geben, ohne Hausers Vergangenheit abzuschließen. Der tragische Abschluss dieser Entwicklung ist absehbar.

Auf indirekte Weise legt der Autor also nahe, dass eine Weiterentwicklung Europas und der Welt nur durch die Überwindung dieser Spaltung und nachfolgende Einigung möglich ist. Dieser 1968 nahezu utopisch erscheinende Zustand ist heute glücklicherweise weitgehend erreicht. Die Spaltung hat sich verlagert auf das Feld der Religionen und kulturellen Unterschiede verlagert.

Wenn Siodmak die Ansichten aus Ost-Berlin und Prag beschrieb, so konnte ich diese voll und ganz nachvollziehen, denn ich besuchte diese Städte selbst, als diese noch kommunistisch regiert waren. Ich weiß noch genau, dass wir Touristen erst einen Mann losschicken mussten, um auf dem Schwarzmarkt Geld einzutauschen (Achtung: Devisenvergehen!). Und in Ost-Berlin war alles derart grau und trostlos, dass wir von dort schleunigst wieder verschwanden. Aber erst nachdem uns die Grenzkontrollen sämtliche Devisen abgenommen hatten.

Die Übersetzung

Diese Übersetzung kann zwar stilistisch nicht mit der Superklasse-Übersetzung von „Das dritte Ohr“ mithalten, ist aber dennoch als durchaus korrekt zu bezeichnen. Es gibt zwar ein paar verdächtige Brüche im Zeitablauf der Handlung (wurde hier gekürzt?), aber die lassen sich zur Not auf Stilmittel des Autors zurückführen. Einmal stutzte ich über „Hehe“ statt „Höhe“, aber das ist tschechischer Dialekt und so in Ordnung.

Unterm Strich

Prof. Cory ist der Erste, der sich über die vielen Klischees aus Agentenromanen wundert und beschwert, wenn er von CIA zu KGB und wieder zurück und noch mal zurückgereicht wird. Natürlich geht es dabei nicht ohne Leichen ab, die Cory, dem Mann der Wissenschaft, den Magen umdrehen. Der Dybbuk Hillel/Hauser hingegen reagiert ganz anders. Hauser lässt nicht zu, dass Hillel sich darüber aufregt, sondern bleibt so kaltblütig wie die Agenten ringsum – ein Schauder erregendes Spiegelbild der Realität des Kalten Krieges.

Die Russen sind erstens hinter Hauser her, weil sie bei ihm das Geheimnis der Kernfusion vermuten, und zweitens hinter Hillel, weil er den Erfolg der Gedächtnisübertragung verkörpert. Leidtragende dieser Spaltung sind jedoch Cory, der zusehends Angst vor Hauser bekommt, und besonders Karen, Hillels Frau. Schon früh nennt sie Hillel eine Dybbuk und trifft den Nagel auf den Kopf. Noch schlimmer wird es für sie, als sie den warmherzigen Hillel wiedersieht, mit ihm ins Bett geht – und neben dem eiskalten Hauser aufwacht …

Die Gedächtnisübertragung, so überlegt Cory an einer Stelle, würde nicht nur potenzielle Unsterblichkeit ermöglichen – siehe dazu „Das Unsterblichkeitsprogramm“ von Richard Morgan. Sie würde auch – nach gehöriger Destillation und Portionierung – das Verstreuen von Propaganda als Gedächtnisinhalt ermöglichen: RNS auf die Erntepflanzen, Verzehr derselben durch Menschen, und fertig ist die totale Indoktrination.

Kein Wunder, dass totalitäre Systeme hinter diesem Geheimnis her sind. Aber auch die CIA und die US-Regierung? Das sollte Siodmaks Zeitgenossen zu denken geben. Doch mit diesem Gedanken rannte er 1968 wohl offene Türen ein. Die linksgerichteten, rebellischen Studenten jenes Jahres (Mai-Unruhen in Paris mit Sartre!) waren eher für „rotes Gedankengut“ empfänglich.

Dass Hausers Frau Anna mit Leib und Seele noch Nationalsozialistin ist, gehört zu den erschreckenden Konfrontationen, die Hillel/Hauser und Corry erleben müssen. Im geistigen Panorama Europas haben also etliche bedrohliche Gedanken überlebt. Und was, wenn auch sie durch Gedächtnisübertragung wie Viren verbreitet würden? Ergo: Gelobt sei das Vergessen!

Taschenbuch: 192 Seiten
Originaltitel: Hauser’s Memory (1968)
Aus dem US-Englischen von Yoma Cap
ISBN-13: 9783453303034

www.heyne.de

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Curt Siodmak bei Buchwurm.info:
„Das dritte Ohr“

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