Sir Gilbert Campbell – Der weiße Wolf von Kostopchin (Gruselkabinett Folge 107)


Die dämonische Frau

Im strengen Winter 1845 wird das Gut Kostopchin von einem Wolfsrudel heimgesucht. Im Grenzland zwischen Polen und Russland sind die Winter hart, bitterkalt, schneereich und lang. Und manche Geschöpfe der Nacht wissen dies geschickt für ihre Zwecke zu nutzen … Weil er beim russischen Zaren in Ungnade gefallen ist, wird der Edelmann Pawel Sergejewitsch auf das einsame Gut Kostopchin verbannt. Dort stößt der passionierte Jäger auf die Spur eines weißen Wolfes. Als einige Bewohner der Umgebung gewaltsam zu Tode kommen, beginnt die Jagd auf das vermeintliche Untier. Es wird eine Jagd mit ungewöhnlichem Ausgang.

Der Verlag empfiehlt sein Hörspiel ab 14 Jahren.

Der Autor

Der Autor Gilbert Campbell lebte von 1838-1899. Christel Scheja beschreibt ihn auf Phantastik News folgendermaßen: „Gilbert Campbell (1838-1899) war ein Adelsspross irischer Abstammung, der in England aufgewachsen war und später sein Geld durch das Übersetzen von französischen Romanen und das Verfassen eigener Geschichten verdiente. Da er immer ein wenig in Geldnot war, erlaubte er sich Betrügereien, für die er 1892 sogar ins Zuchthaus wanderte. „Der weiße Wolf von Kostopchin“ erschien 1889 und gehört zu seinen wenigen, heute noch bekannten Werken.“

Als Autor oder Herausgeber des Buches “Wild and Weird: Tales of Imagination and Mystery: Russian, English, and Italian” aus dem Jahr 1889 scheint er sich als Nacherzähler hervorgetan zu haben. Die Werwolfgeschichte erscheint unter dem Titel „The Awakening of the Wolf“.

Online-Quellen:
Der Text: https://books.google.de/books?id=orsXAAAAYAAJ&pg=PA122&hl=de&source=gbs_toc_r&cad=3#v=onepage&q&f=false

Zum Autor: https://www.librarything.com/author/campbellsirgilberted (geprüft)

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher und ihre Rollen:

Hans Bayer: Michail Wassiljewitsch
Pascal Breuer: Pawel Sergejewitsch
Anja Kruse: Ravina
Clara Fischer: Olga
Lando Auhage: Alexej

Die Macher

Marc Gruppe schrieb wie stets das Buch und gemeinsam mit Stephan Bosenius setzte er es um. Die Aufnahme fand im Titania Medien Studio statt und wurde bei Kazuya abgemischt. Die Illustration stammt von Ertugrul Edirne. Die entsprechende Hörprobe findet sich auf www.titania-medien.de (www.titania-medien.de).

Handlung

Es war der Zar höchstselbst, der russische Siedler in die polnischen Karpaten schickte, um dort seine Flagge hochzuhalten. Doch die Gegend, sie ist sehr menschenfeindlich. Wenn die Winter lang, schneereich und eisig sind, kommen die Wölfe aus den tiefen, ungerodeten Wäldern und holen sich ihre Beute unter den Menschenwesen. So auch jetzt, Im Winter des Jahres 1845.

Der Moskauer Adlige Pawel Sergejewitsch wurde vom Zaren nach dem unwillkommenen Ausgang eines Duells in dieses Sibirien des Westens verbannt und kaufte einen Gutshof. Dessen Haushofmeister Michail Wassiljewitsch erzählt die Geschichte, wie es durch die Wölfe beinahe zu einer Katastrophe kam.

Pawel hat von seiner mittlerweile verstorbenen Frau zwei Kinder, die von ihm innig geliebte, kleine Olga und den älteren, aber abgelehnten Alexei. Pawel kann Olga nichts abschlagen, und als er auf die Jagd zieht, bittet sie um einen Eichhörnchenpelz. Die Jagd sei nicht ungefährlich, warnt der umsichtige Michail, denn der Wilddieb Iwanowitsch treibe im Wald sein Unwesen. Als Michail aber auch vor Hexen warnt, die im Wald lauerten, da lacht Pawel nur. Aber als er die weiße Wölfin erwähnt, der er nachts zuvor begegnet sei, lacht Pawel nicht mehr. Er nimmt den Wachhund Troska mit.

Im tiefen Wald bekommt Troska es mit der Angst zu tun. Die Wölfe haben auf der zugefrorenen Fläche eines Sees im Marschland eine angefressene Leiche hinterlassen. Ihr fehlt das Herz. Es handelt sich um besagten Wilddieb Iwanowitsch. Pawel schafft es gerade noch vor Einbruch der Nacht nach Hause. Was er vorzuweisen hat, ist ein Stück weißes Fell – die Weiße Wölfin war da am Werk.

In den folgenden Vollmondnächten reißen die Wölfe immer mehr Dörfler – stets fehlt ihnen das Herz. Als Pawel und die anderen Jäger Feuer legen wollen, um die Wölfe in eine Schlucht zu treiben, tritt eine schöne junge Frau hervor und fleht um Beistand. Sie sei fast von Wolf getötet worden. Sie hat rotes Haar und ist mit einem großen weißen Wolfspelz gegen die Kälte gewappnet. Obwohl Michail ihre Erklärung, warum sie blutige Hände habe, für reichlich fadenscheinig hält, nimmt Pawel die Schönheit mit auf sein Gut und gibt ihr die Zimmer seiner verstorbenen Frau. Sie befinden sich in einem Seitenflügel im Erdgeschoss – darauf hat Ravina, wie sie sich nennt, bestanden.

Sie habe im Winterpalast des Zaren zu St. Petersburg gelebt, bis sie verbannt und verfolgt wurde, fabuliert sie beim Tee am Kaminfeuer. Doch Michail Wassiljewitsch ist überzeugt, sie sei ein Dämon mit finsteren Absichten. Sie selbst sei die Weiße Wölfin und habe es auf die Kinder abgesehen. Selbst Pawel muss eingestehen, dass diese ansonsten so kultivierte Dame ihm noch nicht einmal ihren Familiennamen genannt habe. Aus Selbstschutz, wie sie behauptet. Nur das Medaillon mit den goldenen Wolfspranken sei ein Erbstück ihrer Familie, gibt sie preis.

Als er ihr seine Liebe erklärt und sie heiraten will, bittet sie um Bedenkzeit von vier Wochen. Dann sei wieder Vollmond. Während dieser vier Wochen beginnen immer Wölfe das Gut von Pawel Sergejewitsch zu umkreisen, und Michail Wassiljewitsch ruft die Heiligen um Beistand an. Denn wenn bei Vollmond der Dämon zum Vorschein kommt, ist mit dem Schlimmsten zu rechnen…

Mein Eindruck

Es kommt zum Showdown mit der Werwölfin, als der Vollmond wieder scheint. Pawel soll sie ausgerechnet unter der alten Sonnenuhr treffen – sehr zu seinem Bedauern. Michail Wassiljewitsch bringt die Kinder in Sicherheit, und es fallen zwei Schüsse – genug verraten.

Die Landschaft

Die schön gruselige Geschichte funktioniert auf mehreren Ebenen, auf einer aber nicht (mehr). Die Landschaft der polnischen Karpaten (damals war Polen vermutlich geteilt) unterscheidet sich topografisch beträchtlich von dem gebirgigen Transsilvanien: flaches Marschland gewährt weite Blicke, wird aber im Sommer sumpfig und trügerisch. Offenbar wurde die Drainage von Marschen und Sümpfen hier nicht erfunden. So ist es auch erklärlich, dass die tiefen Wälder, durch die bis heute die Wisente streifen, unzugänglich sind und unheimlich erscheinen. In der Seelenlandschaft der Einheimischen wie Michail ist dies der Sitz der bösen Naturgeister wie dem Werwolf.

Die Verbannten

In dieses westliche Sibirien verbannt der Zar mit Vorliebe unliebsame Adlige und andere Untertanen. Die Verweise auf diese Verbannungen sind sowohl bei Pawel als auch bei Ravina unübersehbar. Sie fühlt sich zudem von der russischen (Geheim-) Polizei verfolgt und unterstellt Pawel die Absicht, sie bei den Verfolgern zu denunzieren, um selbst „Straferleichterung“ zu erlangen. Offensichtlich herrscht unter den Verbannten ein Klima des Misstrauens statt der Solidarität. Die Metapher des Wolfes finde ich dafür sehr passend.

Zweierlei Schutz

Pawel allerdings ist ein Trinker und ein Bruder Leichtfuß – auf ihn gibt Michail Wassiljewitsch keinen Pfifferling mehr, als es darauf ankommt. Denn wo Pawel offensichtlich ein moderner Atheist zu sein scheint, der sich weigert, einen wie auch immer gearteten Gott anzurufen, hängt der alte polnische Russe Michail Wassiljewitsch dem alten katholischen oder orthodoxen Kirchenglauben an. Er ruft Heilige um Beistand an und trägt ein schützendes Amulett, ja, er verteilt sogar geweihte Pistolenkugeln (sie entsprechenden Silberkugeln aus den Hollywoodfilmen).

Man sieht hier also das Aufeinanderprallen von wirksamer alter Religion auf modernen Atheismus, der seinen Anhänger nicht schützen kann. Michail rettet die zwei Kinder, aber nicht ihren Vater, der ihn auf Ravinas Geheiß verjagt hat. Das bedeutet entweder, dass der Autor entsprechend konservativ war oder dass (was ich für wahrscheinlicher halte) der alte Michail historisch getreu dargestellt wird – bis heute hängen die Polen mehrheitlich stark dem erzkatholischen Glauben an.

Die Werwölfin

Der Werwolf ist der Gestaltwandler schlechthin. Schon die alten Griechen kannten den „Lykanthropos“, den Wolfsmenschen. Unter dem Einfluss des Vollmonds soll er sich in ein Raubtier verwandeln. Seinen Hunger soll er an menschlichen Herzen stillen, genau wie es in der vorliegenden Geschichte passiert. Dieses Merkmal wird höchst ironisch gewendet, als Pawel, um die Lauterkeit seiner amourösen Absichten zu beteuern, Ravina sein Herz anbietet. Sie nimmt das Angebot allerdings ein wenig zu wörtlich…

Der Werwolf, der hier die dämonisierte Wildheit in der Seele der Menschen verkörpert, muss unbedingt weiblich sein. Denn sonst wäre Pawel in seinem Liebeseifer in allerlei Schwulitäten geraten – und hätte die Erzählung auf diese Weise nicht mehr jugendfrei gemacht.

Andererseits wendet sich die Aussage nun in die nicht mehr sozialpolitisch akzeptierte Darstellung der dämonisierten Frau. Diese Frau steht, wie man schon seit Jahrtausenden weiß, durch ihren Menstruationszyklus in Verbindung mit dem Vollmond und erlangt angeblich unter diesem ihre größte weibliche Macht. Göttinnen wie Selene, Diana und Luna verkörpern diese Macht. (Dreifaltige Erdmütter wie Kybele wurden mit Erstarken des Patriarchats im Mittelmeerraum ausgerottet. (Vgl. dazu Ranke-Graves: „Die Weiße Göttin“.)

Diese Dämonisierung des Weiblichen, wie sie besonders im Fin de siècle des 19. Jahrhundert – als diese Erzählung entstand – zu beobachten war, geht auf die Angst des Mannes vor Kastration durch eine überlegene, raubtierhafte, als sündig und skrupellos gezeichnete Frau zurück. Dabei wollten die Frauen damals bloß ihre viktorianischen Fesseln abstreifen und das Wahlrecht erstreiten. Beides bekamen sie erst nach der Urkatastrophe Europas, die sich im Ersten Weltkrieg manifestierte.

Wie auch immer: Die Frau als dämonische Naturgewalt außerhalb männlicher Kontrolle ist ein Bild, das man heute nicht mehr kolportieren sollte. Denn dieses Versatzstück antifeministischer Propaganda stimmt hinten und vorne nicht. Diesen Tops wieder aufzugreifen, finde ich bedauerlich. Aber nichtsdestotrotz ist die Erzählung sehr wirkungsvoll in Szene gesetzt.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher

Der Gegensatz zwischen dem alten Michail, ausgezeichnet gesprochen von Hans Bayer, zum relativ jungen Pawel Sergejewitsch, den Pascal Breuer spricht, sorgt für permanente Spannung im ganzen Stück. Auf dem Spiel steht das Wohl der beiden Kinder, die Michail ebenso liebt wie Pawel.

Doch nun gerät Ravina als eine Art Spaltpilz in diesen Konflikt, und wie nicht anders zu erwarten, erliegt der junge Pawel ihrer Verführungskunst. Michail wird verbannt, mit verhängnisvollen Folgen. Anja Kruse spricht die Ravina mit einer betörenden Alt-Stimme, wie sie zu einer Wölfin gut passt.

Olga wird von einer sehr jungen Sprecherin dargestellt, und ich schätze Clara Fischer auf höchstens fünf Jahre. Lando Auhage als Alexei wirkt wesentlich älter, doch leider hat er nicht viel an Dialog. Es ist übrigens Olga, die das letzte Wort in diesem Hörspiel hat.

Geräusche

Wie so häufig in den Gruselkabinett-Hörspielen sind die Geräusche realistisch gestaltet, aber spärlich eingesetzt. Das markanteste Merkmal der Szenen ist die Wildheit der tiefen Wälder, die im Kontrast zum trauten Heim des Gutshofs steht. Im Haus brennt das wärmende Feuer, und man hört die Scheite stetig knistern. Doch draußen heult der Wind ebenso wie die Wölfe, und es ist von Anfang an klar, dass dort überall der Tod auf den unachtsamen Jäger lauert.

Ein zweiter Kontrast besteht zwischen den wilden Wölfen, die einem durch ihr Geheul Schauer über den Rücken jagen, und dem Knurren und Bellen der Wachhunde, die vom Menschen kontrolliert werden: wilde Natur versus Menschenwelt. Der Kontrast wiederholt sich in der trügerisch ruhigen Kaminszene, als Pawel wissen will, woher Ravina stammt. Nur wir als Publikum ahnen, dass er den Feind in die eigenen Mauern hereingelassen hat.

Musik

Die Musik hält sich sehr zurück – jedes Sherlock-Holmes-Hörspiel von Titania Medien hat mehr davon vorzuweisen. Der Soundtrack wird mehr von elektronisch erzeugten Klängen bestritten. Kommt einmal Musik auf, so hat sie die Aufgabe, den Zuhörer zu warnen und mit unheimlicher Stimmung in Angst zu versetzen. Letzteres kann besonders am Schluss festgestellt werden, als Olga einen Alptraum hat. War es wirklich „nur“ ein Traum…?

Musik, Geräusche und Stimmen wurde so fein aufeinander abgestimmt, dass sie zu einer Einheit verschmelzen. Dabei stehen die Dialoge natürlich immer im Vordergrund, damit der Hörer jede Silbe genau hören kann. An keiner Stelle wird der Dialog irgendwie verdeckt.

Das Booklet

… enthält im Innenteil Werbung für das Programm von Titania Medien. Auf der letzten Seite finden sich die Informationen, die ich oben aufgeführt habe, also über die Sprecher und die Macher. Auf der Innenseite der CD-Hülle wird u.a. für die beiden Werwolf-Hörspiele „Der Werwolf von A. Dumas und „Der weiße Wolf“ von F. Maryat geworben. Passende Empfehlungen, wie ich finde.

Im Booklet finden sich Verweise auf die kommenden Hörspiele aufgeführt:

Nr. 104: Edith Wharton: Allerseelen
Nr. 105: Benjamin („Crazy“) Lebert: Mitternachtsweg
Nr. 106: M. R. James: Das Traktat Middoth (vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/The_Tractate_Middoth) (1911)
Nr. 107: Sir Gilbert Campbell: Der weiße Wolf von Kostopchin (1889)
Nr. 108: Doyle: Der Kapitän der Polestar
Nr. 109: Per McGraup: Heimweh
Nr. 110: Abraham Merritt: Der Drachenspiegel
Nr. 111: E.A. Poe: Die Grube und das Pendel
Nr. 112: Edith Nesbit: Der Ebenholzrahmen
Nr. 113: War es eine Illusion?

Unterm Strich

Das Hörspiel ist sehr stimmungsvoll und arbeitet die oben erwähnten Kontraste sehr gut und wirkungsvoll heraus. Die Geschichte um die Werwölfin, die die Herzen der Karpatenbewohner raubt, ist doch recht symbolisch und führt den Hörer zu der Frage, wie viele die Wölfin Ravina unter den Bewohnern des Gutshofes fordern wird.

Das ist leider die einzige spannende Frage, denn der Ausgang ist ansonsten recht vorhersehbar. Ich selbst fand die Dämonisierung der wilden Frau, die hier mal wieder ausgebeutet, nicht mehr zeitgemäß. Zudem wiederholt dies das Thema des Hörspiels „Der weiße Wolf“ von Frederick Marryat. „Kostopchin“ ist also ein grundsolide inszenierter, aber in der Aussage etwas fragwürdig gewordener Beitrag zur Gruselkabinett-Reihe.

Das Hörbuch

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und Synchronstimmen von Schauspielern einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen. Besonders gefielen mir die Stimmen der beiden Hauptdarsteller Hans Bayer und Pascal Breuer.

Bemerkenswert ist die kleine Sprecherin Clara Fischer, die Tochter der Schauspielerin Dana Fischer, die Titania Medien im Marketing und in der Pressearbeit unterstützt. Clara arbeitete schon mit drei Jahren als Sprecherin und hat offenbar eine steile Karriere vor sich – mindestens so erfolgreich wie die von Anja Kruse, die als Ravina das eigentliche unheimliche Grusel-Element in die Handlung einbringt.

Auch jungen Menschen, die sich einfach nur für gruselige Audiokost interessieren, die gut gemacht ist, lässt sich das Hörspiel empfehlen. Es ist leicht verständlich, wirkungsvoll inszeniert und die Stimmen der Sprecher vermitteln das richtige Kino-Feeling.

CD: über 61 Minuten,
O-Titel: The Awakening of the Wolf, 1889;
ISBN-13: 9783785751718.

www.titania-medien.de