Sjöwall, Maj / Wahlöö, Per – Der Mann auf dem Balkon (Martin Beck ermittelt 03)

In kurzem Abstand werden zwei kleine Mädchen tot aufgefunden. Kommissar Beck und seine Kollegen jagen den Unbekannten. Ihr einziger Anhaltspunkt: Er ist ein wahnsinniger Lustmörder. Aber Martin Beck nimmt die Herausforderung in seinem dritten Fall an.

Die Autoren

Maj Sjöwall und Per Wahlöö begründeten das heute so erfolgreiche Genre des Schwedenkrimis, als sie in den sechziger und siebziger Jahren ihren Kommissar Martin Beck in sozialen Problemzonen und in der hohen Politik ermitteln ließen. Alle diese Romane wurden erfolgreich verfilmt.

Per Wahlöö

Per Wahlöö, 1926 in Schweden geboren, machte nach dem Studium der Geschichte als Journalist Karriere. Seit 1946 arbeitete er als Polizeireporter. In den Fünfzigerjahren ging er nach Spanien, wurde 1956 vom Franco-Regime ausgewiesen, ließ sich nach längeren Reisen, die ihn um die halbe Welt führten, in Schweden nieder und begann Bücher zu schreiben. Zusammen mit seiner Frau, Maj Sjöwall, schrieb er einen Zyklus von zehn Kriminalromanen, die zu Welterfolgen wurden. Er ist 1975 gestorben.

Maj Sjöwall

Maj Sjöwall, 1935 in Schweden geboren, studierte Journalistik und Grafik-Design. Sie und ihr späterer Ehemann Wahlöö lernten sich kennen, als sie gemeinsam für dieselben Magazine arbeiteten. Sie heirateten 1962 und arbeiteten an ihren Kriminalromanen, nachdem sie ihre beiden Kinder zu Bett gebracht hatten. Nach dem Tod ihres Mannes schrieb sie selbst keine Kriminalromane mehr, übersetzte jedoch Kriminalliteratur ins Schwedische.

Die Kommissar-Beck-Reihe

1965–1975 Roman om ett brott (dt. „Roman über ein Verbrechen“)

• Roseanna (1965, dt. „Die Tote im Götakanal“)
• Mannen som gick upp i rök (1966, dt. „Der Mann, der sich in Luft auflöste“)
• Mannen på balkongen (1967, dt. „Der Mann auf dem Balkon“)
• Den skrattande polisen (1968, dt. „Endstation für neun“ (BRD) und „Der lachende Polizist“ (DDR))
• Brandbilen som försvann (1969, dt. „Alarm in Sköldgatan“ bzw. „Alarm in der Sköldgatan“ (DDR))
• Polis, polis, potatismos! (1970, dt. „Und die Großen lässt man laufen“)
• Den vedervärdige mannen från Säffle (1971, dt. „Das Ekel aus Säffle“)
• Det slutna rummet (1972, dt. „Verschlossen und verriegelt“ (BRD) und „Der verschlossene Raum“ (DDR))
• Polismördaren (1974, dt. „Der Polizistenmörder“)
• Terroristerna (1975, dt. „Die Terroristen“)

Handlung

PROLOG: Stockholm, kurz vor Sonnenaufgang, das Radio läuft. Wir hören eine Geräuschkulisse aus Polizeisirenen, Schritten, Husten eines Mannes, Zigarettenzüge, Kaffeetrinken. Dies sind die Klänge, die den „Mann auf dem Balkon“ umgeben. Sonst nichts.

Kommissar Martin Beck ist schwer unter Druck, als er eines der Polizeireviere besucht. In den letzten 14 Tagen hat es nicht weniger als acht Raubüberfälle auf Personen in Parks gegeben. Stets wurde die Handtasche geplündert. Stets entkam der „Handtaschenräuber“, wie ihn die Presse nennt, den Streife gehenden Polizisten. Er kennt sie offenbar schon alle, und zwar von weitem. Auch dann, wenn sie im Auto fahren.

Der diensthabende Beamte auf dem Revier fertigt eine Anruferin kurz und unwirsch ab. Sie meldet, dass da ein Mann auf seinem Balkon zu den unmöglichsten Zeiten stehe, auch nachts, und mit offenem Hemd. Na, und? Die Polizei hat Wichtigeres zu tun, als schräge Vögel zu jagen. Die Frau sorgt sich um die Kinder …

Morgens 9:55 Uhr: Zwei Penner melden auf der Wache, dass sie im Park die Leiche eines kleinen Mädchens gefunden haben. Es trage keinen Schlüpfer. Am Tatort fragen sich die Polizisten, ob ein Zusammenhang zwischen dem Mörder und dem Handtaschenräuber, der inzwischen erneut zugeschlagen hat, besteht. Als die Mutter des Mädchens, Karin Karlsson, von Inspektor Kolberg vom Tod ihrer Tochter Eva informiert wird, bricht sie komplett zusammen.

Obwohl die Ermittlungen auf Hochtouren laufen und mit den modernsten technischen Mitteln – Computer! – geführt werden, wird schon bald ein zweites totes Mädchen, Annika, gefunden. Mit zehn Jahren ist es nur wenig älter als Eva. Kommissar Beck befragt ihre Freundin Lena (10), die mit ihr und ihrem eigenen Bruder Bosse (3) im Park gespielt hatte, bis Annika auf einmal wegging. Minuten später war sie tot.

Die Anwohner des Parks gründen eine Bürgermiliz, um sich und ihre Kinder zu schützen. Beck lässt jetzt dringend den Handtaschenräuber suchen, zunächst einmal nur als Zeugen. Und tatsächlich stellt sich der erste Erfolg ein. Eine junge Frau, die Ex des Räubers, gibt seine Adresse an. Ob er auch der Kindermörder ist? Beck zweifelt.

Mein Eindruck

Schon in diesem kleinen Meisterstück gelingt es dem schwedischen Autorengespann, das den Aufstieg des Schwedenkrimis begründete, den Finger in die Wunde der schwedischen Wohlfahrtsgesellschaft zu legen. Alle sind sozial abgesichert, nur die Psyche des Kinderschänders hat man offenbar nicht saniert. Und auch der Handtaschenräuber scheint ein befremdliches Bedürfnis zu befriedigen, wo doch laut Theorie dank der Rundumversorgung kein Bedarf mehr an solcher Kapitalbeschaffung bestehen sollte. Offenbar haben sich die Sozialplaner geirrt.

Leider trifft es – natürlich? – die Schwächsten: Frauen und Kinder. Die Frauen werden ausgeplündert, die Mädchen geschändet und tot weggeworfen. (Die Erwähnung von Kindersex war natürlich seinerzeit ein großer Tabubruch.) Das ist aber nicht der Kern des Problems. Auch mehr Überwachung und Technikeinsatz helfen nicht, wie Beck erkennen muss. Entweder werden die „Greifer“ schon von weitem als solche erkannt, die Täterinformationen sind lückenhaft oder man wimmelt Informanten unwirsch als irrelevant ab. Die Polizei verlässt sich viel zu sehr auf ihre Technik, ihre Kompetenz und stellt sich durch Zuständigkeits- und Postengerangel selbst ein Bein.

Beck befindet sich nach mehreren Fehlgriffen und einem falschen Alarm bereits kurz vor der öffentlichen Bloßstellung, als ihm endlich, quasi als letzter Strohhalm, die Aussage der Informantin über den „Mann auf dem Balkon“ einfällt. Blöd nur, dass in Stockholm zehntausende Menschen Andersson heißen. Letztlich hilft ihm nur Kommissar Zufall. Der entscheidende Hinweis kam also nur deshalb, weil sich eine ältere Frau Sorgen um die Kinder gemacht hat und das Verhalten eines Mannes, den sie durch ein Fernrohr beobachten konnte, merkwürdig und auffällig fand. Geradezu zynisch klingt im Vergleich dazu die Beschreibung des Psychiaters, der einst den „Mann auf dem Balkon“ untersucht hatte und ihm bescheinigte, er habe ein „unterentwickeltes Sexualbedürfnis“ …

Die Aussage der Autoren ist klar und übt bissige Kritik: Die Polizei des Landes kann noch so gut ausgerüstet sein, sie steht sich selbst im Weg. Und solange sie nicht auf die Informationen aus der Bevölkerung hört, wird sie nur einen Teil der sozialen Wirklichkeit erfassen könenn. Und schließlich: In Schweden hat sich eine seelische Abstumpfung breitgemacht, die dazu führt, dass Nachbarn und Eltern nicht mehr auf ihre Kinder aufpassen, die in der Folge zu Opfern seelisch verwirrter Menschen werden. Denn wie auch M. Night Shyamalan in „The Village“ deutlich macht: Solche Menschen wird es immer und in allen Utopias geben.

Unterm Strich

„Der Mann auf dem Balkon“ greift schon 1967 das heikle Thema des Kindermissbrauchs mit Todesfolge auf, das leider noch heute allzu häufig Schlagzeilen liefert. Dank der Aufmerksamkeit einer Anwohnerin wird zwar der entscheidende Hinweis auf den Täter geliefert, aber die Polizei sieht doch bei diesem Fall verdammt schlecht aus.

Und die bürgerliche Gesellschaft hat wieder einmal ihre Gefühlskälte und seelische Abstumpfung bewiesen, deren Opfer – zunächst – immer die Schwächsten sind; Frauen und Kinder. Was das Buch aussagt: Wenn eines der Kinder zum Opfer wird, dann geht das alle in der Gesellschaft an. 1967 brachte das Buch verdienstvollerweise diese Botschaft zum Ausdruck. Die Warnung verhallte damals wohl ungehört – gilt das heute auch noch?

Taschenbuch:
Originaltitel: Mannen på Balkongen, 1967
Deutsch 1970 von Dagmar-Renate Jehnich, ergänzt von Eckehard Schultz.
ISBN-13: 978-3499265297

www.rowohlt.de

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