Fredrik Skagen – Schwarz vor Augen

Klassischer Krimi: Ein Mann verliert die Erinnerung an seine wahre Identität und legt sich diejenige eines englischen Geheimagenten zu. Doch die Medien seiner Heimat sehen in ihm immer noch den vermeintlichen Mörder seiner Geliebten. Kann er sein verlorenes Leben zurückgewinnen?

Handlung

Der norwegische Übersetzer Steinar Blix verliert eines Tages mitten in London sein Gedächtnis. Er sitzt im Pub in South Kensington, seine Frau Linda ist noch kurz los, um sich einen blauen Pullover (das ist wichtig!) zu kaufen – Steinar hat ihr sein Portemonnaie mitgegeben. Als er orientierungslos vor dem Pub steht und weder seinen Standort noch seinen eigenen Namen mehr kennt, kann er sich weder ein Taxi mieten noch ein Busticket kaufen. Er übernachtet in einem Park auf der Bank und legt sich auf dem Friedhof einen neuen Namen zu: Gordon Ernest Bell, das ist der Name eines Toten.

Szenen mit Steinar wechseln ab mit Szenen, in denen Linda oder ihr Schwiegervater Aksel im Mittelpunkt stehen. Aksel kommt aus Norwegen, nachdem ihn Linda verzweifelt angerufen hat. Er aktiviert die norwegische Botschaft und die Londoner Polizei. Doch warum ist Steinar am helllichten Tag verschwunden? Und Steinar fragt sich: Warum kann ich mich nicht erinnern? Welcher Natur sind die Mächte, die unser Leben bestimmen? „Gehe ich, oder werde ich gegangen?“

Linda wollte mit ihrem Mann in London, mit dem sie beide gute Erinnerungen verbinden, zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Im nahen Earls Court fand eine Buchmesse statt, auf der er englische Schiftsteller wie den geschätzten und von ihm übersetzten John le Carré treffen wollte. Und beide wollten eine hässliche Affäre vergessen, in deren Verlauf Steinar beinahe wegen Mordes im Gefängnis gelandet wäre.

Eine werdende Mutter, Cecilie Koller, ist in ihrer Wohnung mit einem Messer erstochen worden. Steinar war der Lektor der jungen Schriftstellerin; er ist es, der die Polizei ruft. Ist er deswegen auch der Täter? Denn der Freund der Ermordeten, Peter Geving, war zur Tatzeit im Kino bei einer Filmpremiere, ein gutes Alibi. Grundlage des Verbrechens war möglicherweise ein Eifersuchtsdrama, denn die Beziehung zwischen Cecilie und Steinar war keineswegs platonisch. Und obwohl ihr Kind von Peter stammt, will sie Steinar zwingen, es als seines anzuerkennen – eine tödliche Bedrohung für seine glückliche Ehe mit Linda.

Während die Polizei immer noch ihn für den Mörder hält, wird Steinar dennoch vom Gericht aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Und welcher Mörder würde schon selbst die Tat anzeigen? Doch auch die Zeitungen sind gegen ihn, und so setzt er sich mit Linda nach London ab, um Ruhe zu schöpfen. Denkste!

In feinster Le-Carré-Manier gerät Gordon Bell, wie sich Steinar nun nennt, in den Dunstkreis des britischen Geheimdienstes. Er gibt sich als ehemaliger Spion aus, der auf dem „Kontinent“ gearbeitet habe, daher auch sein Akzent. Kontakte verschaffen ihm Logis bei einem Drucker und Arbeit als Barpianist. Außerdem verdingt sich Steinar als Gehilfe bei einem Antiquar mit dem wunderschönen Namen John Keats (der Name eines berühmten romantischen Dichters). John Keats hat eine schöne Tochter namens Miriam, die sich von Steinars gutem Aussehen angezogen fühlt: Er sieht aus wie Dirk Bogarde in „Der Tod in Venedig“.

Doch der Ring der Ermittlungen um Gordon Bell zieht sich immer enger zusammen: Londoner Polizei, die Presse, der Geheimdienst und nicht zuletzt sogar Peter Geving – sie alle jagen Steinar, den potenziellen, aber untergetauchten Mörder. Steinar findet Zugang zu seiner Vergangenheit durch einen Psychologen. Auf den letzten hundert Seiten kommt es zu einer sehr spannenden Menschenjagd um und in London, bei der Steinar zeigen kann, was er von John le Carré gelernt hat. Aber er selbst jagt dem Punkt der Wahrheit entgegen, an dem ihm enthüllt wird, was wirklich geschah mit Cecilie Koller. Der Schluss ist absolut umwerfend – und der blaue Pullover spielt dabei natürlich eine tragende Rolle.

Mein Eindruck

Fredrik Skagen (s. u.) inszeniert in „Schwarz vor Augen“ eine raffinierte und besonders im letzten Drittel äußerst spannende Suche nach den Hintergründen eines bereits zu den Akten gelegten Verbrechens. Der psychologisch tiefgründige Thriller weiß mit glaubwürdigen Figuren – allen voran Steinar Blix – zu fesseln und mit einem überraschenden Schluss zu überzeugen.

„Gehe ich, oder werde ich gegangen? Lebe ich, oder werde ich gelebt?“ Das ist eine der Schlüsselfragen, die zu den tiefsten Gründen der menschlichen Existenz hinabführt. Es ist die Frage des Menschen im Existenzialismus: Wenn es Gott nicht gibt und somit keinen absoluten Seinsgrund, dann ist der Mensch ins Dasein geworfen. Was ist seine Aufgabe, was sein Ziel und was seine Triebkraft? Als Steinar sein Gedächtnis und somit seine Identität, seine Geschichte verliert, ist er in einer Lage wie „der Fremde“ von Albert Camus: Er kann alles sein, jede beliebige Tat begehen, doch ist er dann auch schuldig? Welche Moral oder Ethik kann ein Mensch ohne Identität haben? Und kann ihn die Gesellschaft wegen dieser oder vergangener Taten verurteilen?

Wichtige Fragen, die den modernen Menschen betreffen. Aber auch künftige Klone können davon betroffen sein. Und die Täter im Schattenreich der Geheimdienste, was ist mit denen? Skagens Buch wird eminent politisch, als er den Geheimdienst MI6 der Komplizenschaft mit einem englischen Waffenhändler zeiht und unterstellt, dass er Gegner und Verfolgte von Verbrecherregimes wie dem Saddam Husseins seinerseits verfolgt. Welche Moral besitzen die führenden Köpfe dieser Spionageorganisationen?

Die Sprache des Romans ist ungewöhnlich einfühlsam, sie charakterisiert die Figuren. Die Zeitlosigkeit, in der Gordon Bell lebt, wird durch das Präsens gekennzeichnet (nicht immer ganz sicher, wie der Übersetzer zeigt), wohingegen Lindas Zeit durch das erzählende Präteritum bezeichnet wird. Die Erzählung ist so bewunderswert kunstvoll konstruiert, dass sich nicht nur Zeitsprünge, sondern sogar Überblendeffekte zwischen zwei ungleichzeitigen Szenen ergeben. Wenn Wahrnehmung und Erinnerung aufeinandertreffen, da können durchaus merkwürdige Effekte entstehen, vor denen Skagen keineswegs zurückschreckt. Wohl dem, der sich darauf einlässt!

Unterm Strich

Nicht nur ein reinrassiger Krimi mit genialer Auflösung, sondern auch ein Genuss für den psychologisch und stilistisch interessierten Leser. Sehr empfohlen.

Der Autor

Fredrik Skagen ist einer der bekanntesten und beliebtesten Schriftsteller Skandinaviens. 1936 geboren, avancierte der frühere Bibliothekar zu einem der besten Spannungsautoren und preisgekrönten Kinderbuchautor. Kritiker vergleichen den Norweger mit John Le Carré. Auf diesen Schriftsteller verweist Skagen in seinem Roman sogar selbst – die Hommage an ein großes Vorbild.

Hardcover: 319 Seiten
Originaltitel: Blackout, 1998
Aus dem Norwegischen übertragen von Knut Krüger